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Fehlende Eigenschaften einer Gemeinde am Fuße des Westerwalds

VON PIERRE STOLTENFELDT //


Stellen Sie sich eine Eruption vor, Hitze und Glut vor, vergessen Sie dabei das Feuer nicht und den Rauch – imaginieren Sie ein Spektakel der Geologie! Hervorragend. Drehen Sie die Zeit nun einige hunderttausend Jahre nach vorne. Überspringen Sie Höhlenmalereien, Völkerwanderungen und die Sache mit Hitler. Stellen Sie sich einen Hügel vor – Vulkanstein, Schiefer, Kalk und Quarzit. Die Hitze seiner Anfänge hat er inzwischen verloren, aber an Steigung für Atemnot und Schweißgeruch mangelt es ihm nicht. Denken Sie sich auf und unter dem Hügel eine Siedlung. Hat man den Aufstieg des Hügels zur Hälfte bewältigt, darf man zwischen der Treppe ins Tal und der Treppe zur Spitze auf einer Brücke rasten. Darunter fährt einmal am Wochentag und keinmal am Wochenende die Deutsche Bahn am Hügel vorbei. Stellen Sie es sich vor! Gestrüpp peitscht die Wagons, dass sie sich bloß fortscheren sollen. Im Zug glotzen Menschen mit Bedeutung das Gestrüpp an oder die Karnickel, die beim Bumsen im Gestrüpp gestört werden und zurückglotzen. Oder sie beglotzen die Menschen, die auf der Brücke auf dem Weg vom Tal auf den Hügel nach Atem ringen und schwitzen. Dann ist der Zug auch schon um die Ecke gebogen und hinter dem Hügel verschwunden, denn Sachen von Bedeutung an Orten mit Bedeutung warten darauf, von den Menschen mit Bedeutung beglotzt zu werden und von den Menschen auf der Brücke nicht.


Auf dem Hügel wohnen Menschen mit Gärten. Sie haben ihre Häuser in den Jahren nach dem Krieg mit den Händen und mit Spitzhacken errichtet. Die Wut über die Sache mit Hitler hat dabei geholfen, Vulkanstein, Schiefer, Kalk und Quarzit aus dem Hügel zu klopfen für ihre Häuser und Gärten. Wieviel Wut es in den Jahren nach dem Krieg auf dem Hügel wegen der Sache mit Hitler gegeben hat, können Sie daran ablesen, wieviele Häuser und wieviele Gärten sich den Platz an wiewenig Hügel teilen. Aus den Fenstern in den Häusern am Hügel überblickt man das Tal, die Geschäfte an der Hauptstraße, das Flussbett, die Sportplätze und das Neubaugebiet am Ortsausgang (auch wenn das niemand so richtig dazu zählt). Noch etwas erblickt man aus den Fenstern in den Häusern auf dem Hügel: Den anderen Hügel gegenüber - natürlich ebenso aus Vulkanstein, Schiefer, Kalk und Quarzit. Dort wohnt zwar niemand, aber wenn man Glück hat, klettern Jugendliche aus dem Tal zum Bumsen hinauf. Mit dem Fernglas kann man sie dabei beglotzen.


Der Fleischer steht nach Feierabend auf der Brücke zwischen Hügel und Tal. In seinem Magen brodelt eine Sache (imaginieren Sie ein Spektakel der Geologie!), wächst eine Gewissheit und das bereitet dem Fleischer Unbehagen. Denn an einem Ort ohne Eigenschaften können sich Dinge nicht steigern, das verbietet die Grammatik. Der Fleischer wurde vor 43 Jahren auf einem Tisch in einer Küche in einem Haus zwischen den Hügeln geboren. Seit zwölf Jahren gibt es die Schienen und die Brücke, seit zwölf Jahren steht er nach Feierabend dort und legt die Hand auf den Nabel, unter dem eine Gewissheit gegen die Regeln anschwillt und wächst.


Im Tal zwischen den Hügeln wohnen Menschen mit Geschäftssinn. Sie backen Brot und schlachten Schweine, bestellen Groschenromane und Fernsehzeitschriften beim Großhändler und bieten ihre Waren in Ladenlokalen an der Hauptstraße feil. Wenn Sie ein Fahrzeug besitzen, sollten Sie die Ladenlokale meiden und im Großmarkt in der Stadt einkaufen, denn sparen können Sie hier nicht. Am Mittwochnachmittag wird in den Ladenlokalen nichts verkauft. Dann putzen die Ehefrauen der Besitzer die Schaufenster, damit am Donnerstagmorgen Erstklässler auf dem Weg zur Grundschule in der Spiegelung an den Schneidezähnen wackeln können. Eine Handvoll Ausländer gibt es im Tal auch. Man erkennt sie daran, dass sie am Sonntagmorgen nicht zum Gottesdienst prozessieren, sondern in die entgegengesetzte Richtung, zum Sportplatz. Jenseits der Ladenlokale macht die Hauptstraße im Tal die Biege und führt zu den Rasenplätzen des Fußballvereins neben den Hartplätzen des Tennisvereins und schließlich hinaus in die Weiten der Welt (das Neubaugebiet am Ortsausgang zählt niemand so richtig dazu).


Es war an einem Sonntag, an dem man den Knall auf der Brücke hörte, dann auf der Hauptstraße und schließlich auf dem Sportplatz. Sogar im Neubaugebiet hörte man ihn, aber das zählt niemand so richtig dazu. Einige der Menschen mit Gärten behaupten, sie hätten den Fleischer durch ihr Fernglas beobachtet, auf dem anderen Hügel gegenüber. Er habe eine Pistole, eine Schrotflinte oder ein Bolzenschussgerät unterm Kinn angesetzt oder an die Schläfe gedrückt, das kommt ganz darauf an, wen Sie fragen. Der Schall jedenfalls schmiss den Knall von dem einen Hügel zum anderen und der warf ihn wieder zurück und so fort, sodass Schall und Knall irgendwann auch auf der Brücke angekommen waren und schließlich auch im Tal, bei den zur Kirche prozessierenden Menschen und den entgegengesetzt zum Sportplatz prozessierenden Ausländern. Das Gehirn des Fleischers, sagen die Menschen mit Gärten und Ferngläsern, sei mit ein paar Schädelsplittern im Gestrüpp kleben geblieben. Der Rest vom Fleischer aber sei den Hügel hinabgerutscht. Seine Sohlen hätten für ein paar Meter Furchen in den Hügel gegraben, dann habe der Körper sich aufgebäumt, habe begonnen, den Hügel herunter Purzelbäume zu schlagen und im Abstand einer Fleischerlänge Kopfabdrücke von Knochen, Gehirn und Blut zu hinterlassen.


Die Polizei verfuhr sich einige Male und kam erst am späten Nachmittag. So blieb der Großteil vom Fleischer eine Weile am Flussufer zwischen den Hügeln liegen – Ein Rätsel, dessen Lösung jedem auf der Zungenspitze lag und trotzdem keinem einfallen wollte. Einige kamen trotzdem mit Meinungen und Fotoapparaten vorbei. Den Brief, den der Fleischer zur Darlegung seiner Beweggründe an die Gemeinde verfasst hatte, fanden ein paar Jugendliche ein paar Monate später an einer Wurzel kleben. Da kletterte man nicht mehr bloß zum Bumsen auf den Hügel gegenüber, sondern auch zum Gruseln, und des Rätsels Lösung war in den Mündern der Menschen von der Zungenspitze in die Kehle gerutscht und schließlich gemeinsam mit einem Stück Blutwurst geschluckt worden, die nun der Bruder des Fleischers verkaufte. Die Jugendlichen bemerkten die Schrift auf dem Papier nicht, klebten ein Kaugummi hinein, warfen es zurück ins Gestrüpp und fuhren fort, Zungenküsse zu üben oder Geschichten vom Fleischer zu erfinden. Manche erzählten auch von einem Brodeln im Magen, von Sachen mit Bedeutung an Orten mit Bedeutung und davon, selbst einmal Bedeutung haben zu wollen. Aber da waren alle schon Vulkanstein, Schiefer, Kalk oder Quarzit geworden und keiner hörte mehr hin.

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