top of page
Suche

Im Nachhinein hätte ich nicht zu den Champagne Pools gemusst 

VON LAURA PALOMA //



So saßen wir da – von unserem hart ersparten Geld aus der Biergarten-Kellnerei in den Sommerferien, wo wir den letzten Sommer der Oberstufe schufteten und niemand von uns an den hintersten Tisch wollte, weil sich diagonal über dem Tisch ein bemerkenswert großer Ast erstreckte, von dem es immerzu Vogelschiss regnete. Wir wollten dort nie abräumen – besetzt war der Tisch ja eh nur, wenn es keinen anderen mehr gab, was aber in Hochphasen durchaus passierte und jedes Mal, wenn doch ein Gast von einem Kotfleck, der auf den dunkelgrün bemalten Tischen ein wenig an einen Rohrschach-Test erinnerte, getroffen wurde, sagten wir, als ob wir es noch nie zuvor gesagt hätten: “Bringt ja Glück, gell!” 


Und von diesem Geld, jenem, das wir während des Schwitzens in zu dicken Polohemden, die die Farbe der Tische hatten, unter bohrenden Blicken der Gäste, in verdreckten Schürzen und hoch und runter tanzenden Pferdeschwänzen verdient hatten, saßen wir nun in den Champagne Pools in K’Gari, damals noch Fraser Island genannt, Australien. 


Das war die Zeit, in der Instagram gerade in den Kinderschuhen, ach, was sag ich, Babyschlappen steckte. Dort noch keine Werbung geschaltet werden durfte und Abiturient:innen ihre unwesentliche Gehirngrütze, die zu dieser Zeit einem antrainierten Geltungsdrang entsprang, einmal mit bläulichem Kontrast – Amaro – Filter ins große, weite Netz ballerten. 

Die Champagne Pools, die eben auf K’Gari liegen, zu ergooglen bedarf 2012 noch mehr Forschungsarbeit als heute, manchmal musste man sogar mit Leuten vor Ort reden, die einem Tipps gaben. 


2023 erhielt die Insel K’Gari ihren ursprünglichen Namen zurück. Paradies – damit lässt er sich übersetzen. Paradise war auch das Motto vieler Musikstücke zu dieser Zeit. Paradise von Coldplay lief neben Locked out of Heaven, das ich in einer Karaokebar einen Tag vor dem Ausflug zu den Champagne Pools gesungen habe, rauf und runter. Allerdings war der Song, den ich am häufigsten auf meinem Galaxy Ace abspielte, Dark Paradise von Lana del Rey. Deep, denn es war eine Zeit voller Umbrüche, einer neuen Staffel meiner persönlichen Coming-of-Age-Serie, die eben von diesem lyric-gesteuerten Soundtrack unterlegt war. Im Flieger nach Australien schwirrte mir ein ständiges “You’ll find us chasing the sun” im Kopf umher, mit jedem Kilometer Richtung Südosten ein Dezibel lauter. Meine Probleme waren so persönlich, die Welt war nie okay, doch sie machte damals den Anschein und kaschierte alles, was brodelte unter einer dicken Schicht Popcharts, mit chorischen Rufen, Neonfarben und Party-Party-Party. 

Hier waren wir also auf unserem Drei-Tages-Trip – weg von den Großstädten – stattdessen auf der größten Sandinsel der Welt. 200 Meter Asphalt bilden auf K’gari die einzige Straße zu den Bungalows, die am Eingang zur Insel stehen. Zumindest sagte uns das unser Tourguide, mit dem wir am ersten Abend zu viert am Strand saßen und Didgeridoo zu spielen versuchten. Was wir sahen, wenn wir die Köpfe und die Muskeln, die noch nicht so krass wie später von Smartphones beansprucht waren, gen Himmel streckten, war die Milchstraße und ich meine nicht auf die Art ah sieh mal da, der große Wagen und das könnte die Milchstraße sein. Was wir sahen, war ein Bild, wie wenn man Universum googelt oder damals noch Galaxy-Jeggins oder in seinem Erdkunde-Buch sieht. 


Der Guide war auch einfach nett, einfach nett, saß mit drei Frauen da und unterhielt sich ganz normal mit uns. Ohne das Wort Sexismus damals verinnerlicht oder auch nur verstanden zu haben, merkte ich, dass es etwas veränderte, in der Stimmung, dass es außergewöhnlich war. Selbst der Satz “Take a handful of sand and look at it. There are more stars in the universe than grains of sand in the world, can you imagine?” wirkte völlig normal. Alles schien wie in einem Teenie-Film, von allem ein wenig zu viel, es käme gerade so beim GZSZ-Skript durch, doch ich saß da und erlebte es. Ich fragte mich: Kann dies wirklich das Paradies sein? 


Den Tag darauf machten wir Ausflüge auf der Insel. Wir sahen Dingos – wilde Hunde, blaue Seen, Sandwüsten. An einem Tag ging es zu den erwähnten Champagne Pools. Man nannte sie so, weil die Steinformation am Strand einen kreisförmigen Pool bildet und die Meereswellen dauernd das Wasser rein und rausziehen. Dadurch kommt viel Luft ins Wasser und man sitzt im prickeligen Nass. 


Mit Gruppen von Jeeps, dem einzigen Gefährt, das es mit den Sandbänken aufnehmen kann, fahren wir also Sensation für Sensation ab und kommen nach einer langen Fahrt am Strand entlang an. Da sind sie also: die Champagne Pools. Die Sekt-Schwimmbecken. Hier sind Menschen, die ich seit Tagen, Stunden und manchmal erst Minuten kenne. Wir betreten vorsichtig die großen Becken, von denen wir Fotos mit der Digicam machen, die wir als unzählige Erinnerungen in diesen Monaten abspeichern, die einen Bruchteil dessen ausmachen, was wir in dieser Zeit erleben. 


Mitten im Champagne Pool habe ich einen dieser Movie-Moments. Irgendein Chris neben mir, der Horizont vor mir, das Meer im unendlich wirkenden peripheren Sichtfeld. Ich stehe mit meinem im Sale bei H&M ergatterten Bikini mit Zickzackmuster in der Mitte des Pools. Ich fühle mich, als ob die Welt sich um mich dreht und gleichzeitig, als ob ich mich in jenem Moment in Staub auflöse. Alles ist egal, aber auf keine dramatische Art. Meine Eltern zu Hause schlafen um diese Uhrzeit. Das Kapitel der Schulzeit habe ich zu Ende geschrieben, ein neues liegt vor mir. Ich bin ganz still, ziehe mich in mich zurück, jedoch nicht negativ. 


Ich glaube, ich war ein wenig enttäuscht. Der Name “Champagne Pools” ließ vor meinem inneren Auge einen Jacuzzi aufblitzen, Whirlpool-Wellness. Es war wie alles auf dieser Insel schön anzusehen, aber war es spektakulär? Nein. Das Prickeln habe ich nicht wirklich gespürt. 

Und wenn ich ganz ehrlich bin, weiß ich gar nicht, ob ich damals dort war. Ich weiß nicht mehr, ob ich mir eine Erinnerung konstruiert habe. Alles war aufregend, alles war so unfassbar einfach, wenn ich es mit heute vergleiche. Ich glaube, ich wusste schnell, dass das nicht das echte Leben ist. In diesen Monaten ertrank ich geradezu in Erinnerungen und Empfindungen. Eine Schwere begleitete mich, sie drückte mich auf den Boden der Tatsachen zurück, denn alles war so leicht. Alles fiel so leicht. Keine Entscheidungen, keine Ängste. Und immer mit der Schwere das Wissen, dass dies nicht für immer bestehen würde. Doch es gelang mir gut, es anfangs zu ignorieren. Ich kam und ging wie viele. Überhäuft von Anekdoten, Experimenten und Eindrücken. Einem starken Sehnen nach etwas, das ich bis heute nicht in Worte fassen kann. 


Ich scrolle durch einen Ordner auf meinem alten Computer, ich recherchiere Verlinkungen auf Facebook. Ich finde kein Foto von mir oder den Menschen, die damals mit mir reisten bei den Champagne Pools. Es drängt sich ein Gefühl auf, so als ob ich weiß, dass damals in diesem pisswarmen Wasser etwas in meinem inneren Ich passierte, etwas, das mich einen Schritt weiter zum Erwachsensein führte. Ein Momentum, inmitten einer Welt, in der nur das Ich zählte, im Nachhinein unfassbar egoistisch. Inmitten einer Attraktion, einer von vielen, so vielen, dass ich mir bis heute nicht sicher bin, ob meine Augen sie wahrhaftig gesehen oder ob ich sie mir Pixel für Pixel von Bildschirmen, Erzählungen zu einer absoluten Erinnerung gekleistert habe. Fast schäme ich mich ein wenig für mein Unbekümmertsein – wie naiv. 


Was ich weiß, ist, dass ich so viel erlebt habe in jener Zeit, dass ich zu viel erlebt habe. Ich kam zurück mit der Hoffnung, dass alles leichter werden würde, so wie dort. Dass es überall Champagne Pools gibt, in die ich mich stellen kann, das Wasser Zug um Zug durch Neues ausgetauscht wird, wie Tag um Tag und Hindernis um Hindernis. 


Viele Jahre später schreibst du mir, dass du heute in einem Onsen warst. Du bist seit zweieinhalb Monaten in Tokio, wesentlich älter, als ich es damals in Australien war. An deiner Art zu Schreiben merke ich, wie du dich zurückgezogen hast. In einen eigenen Moment, vom heißen Wasser eingehüllt, in dein Innerstes. Was haben diese Becken voll mit Wasser an sich? Ist es eine Erinnerung an das Umhülltsein im mütterlichen Leib, wohl wissend, dass da bald was ansteht, sobald man das Wasser verlässt? 


Du fällst auf den gleichen Trick herein wie ich, du meinst, eine Erkenntnis zu haben. Doch du verkennst. Das Wasser täuscht, es lullt uns ein in Hoffnung, an Orten, die uns eine Auszeit geben, so wie toxische Menschen Alternativen anbieten, die es so nie geben wird. Ob ich nun dort war oder nicht: Im Nachhinein hätte ich nicht zu den Champagne Pools gemusst und das zu sagen, macht mich traurig.

0 Kommentare

Comments


bottom of page