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Runit oder der Erde kleine Knöpfe

VON SEBASTIAN SCHMIDT //


Auch durch das Video war Sarah die Sache nicht klar geworden, weshalb sie schließlich die Insel Runit betrat. Sie konnte Heimo nur mit Mühe davon überzeugen, ihre Reise so zu planen, dass sie gemeinsam einen Fuß auf das Atoll würden setzen können, auf den Dom. Nur um sicher zu gehen, dass das alles nicht gelogen war. Obwohl, eigentlich hätte sie das wissen müssen.


Es fing schon damit an, dass man vom Weltall aus betrachtet, also vom Bildschirm aus betrachtet, ein Gebilde sah, das einer rudimentären Lebensform unter mikroskopischem Glas glich. Runit ist eine Insel, Eniwetoks ihr Atoll, aber auch ein Stein, sagte Google, sei Runit. "Vielleicht erklärt sich damit deine Mystik?", hatte Heimo leicht zu laut gesagt. Heimo hatte sie gewarnt, hatte sich am Hemd gezerrt und war im Zimmer herumgestolpert wie ein betrunkener Hund nachdem er gemerkt hatte, dass Sarah das ernst meinte. "Aber die Strahlung", hatte er gerufen, leicht pathetisch, theatralisch, das fand er selbst. Die Strahlung, dachte er, das war etwas, was Sarah nicht hören wollte oder nicht sehen konnte, wohl aber klar verstand.


Betrachtete man Runits Dom bei Google Earth, bildete er zusammen mit den Detonationskratern der Umgebung eine Ansammlung bunter Knöpfe. Knöpfe, die jemand aus einem Döschen auf den Tisch gekippt hatte, oder anders: mechanische Knöpfe, die Sarah drücken wollte. Einmal hatte Sarah sogar den Bildschirm berührt. Was für ein Schwachsinn, dachte sie und fühlte sich ertappt. Knöpfe auf einem riesigen, metallenen Pult.


"Wenn niemand davon redet und es deshalb niemand weiß, ist es dann weniger wahr?", hatte Sarah gefragt, als sie auf das Boot gestiegen waren, das sie nun an die Insel heranfuhr. Das Boot hatte jemand aus einem Film gezaubert, es erfüllte alle Klischees, die denkbar waren. Ein Fischerboot ohne Dach. Der Motor ein gängiger Außenborder. Alles aus Metall. Das Boot war wahr. Während Heimo unsicher aber langsam an einem braunen Rucksack nestelte, schaute Sarah funkelnd in die Richtung ihrer Anlandung. Heimo war sich nicht sicher, ob die kleine Krümmung an Sarahs Oberlippe ein Lächeln bedeuten sollte. Er hatte das noch nie so gesehen. Man setzte die beiden an den Strand der unbelebten Insel des Marshall-Archipels. Von dort aus waren es 2000 Kilometer nach Japan, 3000 Kilometer ans Ende der Welt. Sehr lange sollten sie nicht bleiben, sagte der Fischer.


Es ging Sarah nicht nur um diese eine, diese spezielle Wahrheit, die man auf Bildern sehen konnte. Es ging hier um einen Beweis. Sarah musste wissen, ob das, was sich unter der Kuppel verbarg, dem entspräche, was man darüber schrieb, was man sagte, was niemand sagte und deshalb vor so vieler Augen verborgen blieb. "Es gibt eine Wahrheit, die kann man sich nicht auf dem Bildschirm ansehen, die kann man nicht lesen und nicht durch Youtube spüren, es gibt ein Dazwischen, oder mehr noch als das. Und damit meine ich keine Verschwörungstheorien. Ich meine Dinge, die nicht kursieren", hatte Sarah gesagt. "Am anderen Ende dieser Skala steht natürlich die Verschwörung. Aber nicht an diesem, nicht an meinem Ende."


Der Dom, der auf verschiedenen Fotos in Ähnlichkeit mit einem gelandeten Ufo geriet, mit einer Kommandozentrale bekannter Sci-Fi-Klassiker, war nur Schönheitskorrektur. Nur ein Prozent des verseuchten Materials lag unter der Kuppel, die restlichen 99 im Umkreis verstreut, herabgesunken, stellte Sarah sich vor, auf den Meeresboden, zwischen fragilen Korallen verkantet. Sarah kannte die Fakten. Aber da war noch so viel.



Die Atmosphäre auf Runit trug, wie alle Atmosphären, einen Imperativ im Herzen. Heimo fragte sich, ob es das war, was Sarah gesucht hatte: eine Vorgabe oder ein Gefühl, nach dem sie beide sich richten, nach dem sie handeln könnten. Etwas das Sarah nicht erfahrbar sondern in der selten aufgerufenen Monitordarstellung gänzlich fremd hatte bleiben müssen.


"Man kann das Wort Durchmesser mit einer Ausdehnung von einhundert Metern problemlos für eine Huldigung halten", sagte Heimo, als sie zum ersten Mal einen Fuß auf den viel zu kalten Sand setzten. Kleines Gestein, von dem sich Heimo kurz fragte, ob es Runit sei, die Gesteinsform, die er im Internet gefunden hatte. Dann gleich auf den warmen Beton. Wie schwer es gewesen war, an diesen Ort zu gelangen, dachte Sarah. Schlingpflanzen ordneten sich fast parallel um die Kuppel an, als wollten sie dieser Miniaturwelt damit ein eigenes Gradnetz geben. Heimo machte viel zu große Schritte über sie hinweg auf ihrem Weg zum Scheitelpunkt. Niemandem der beiden gelang es, das Wort Gipfel zu verwenden. Vor allem Heimo fiel auf, dass es an dieser Stelle so gar nicht passen wollte.



Schon unterwegs nach oben bildete er sich ein, dass Sarah weniger mit ihm sprach. Trotz einer Schrillheit, die in dem Moment lag, trotz dieser unsagbaren Aufmachung der Natur erschien ihm der Aufweg nach erstaunlich kurzer Zeit langwierig. Heimo musste an die wenigen Zeitungsberichte denken, die sie zu Hause studiert hatten. Die verbliebenen Bewohner Eniwetoks haben kein Wort für Strahlung. Sie haben Wörter für Wasser und für verschiedene Fischarten. Auch Heimo konnte das radioaktive verseuchte Material nicht riechen, nicht durch den Beton hindurch und auch sonst nicht. Der Dom auf Runit stinkt nicht. Heimo zerrieb das Blatt einer Kletterpflanze und beschnüffelte es, blickte skeptisch. Kontaminiertes Material schimmert nicht blau, wie in Filmen. Blau ist der Himmel. Auch nicht grün, grün sei die Hölle, sagen sie in amerikanischen Filmen über den Kampf gegen den Vietcong.


Sie staksten auf dem Scheitel der Kuppel herum, sie bewegten sich nur noch mit sehr kleinen Schritten, wippten und suchten einen Stand. Heimo schaute in die verstrahlte Weite. Und blickte auf eine Palme am Strand. Der Weg nach oben war ihm Ziel genug.


Da begann er, sich für einen kleinen, ihm fremden Käfer zu interessieren.


Nicht Sarah. Ihre Augen reflektierten das Sonnenlicht stark. Sarah suchte auf dem Waschbeton. Aber was? Unruhig wanderte ihr Blick im Zickzack auf der Kuppel, übersprang Pflanzen, übersah Käfer, die Heimo spannend fand. Dann fand sie etwas, dachte Heimo, oder irrte sich. Auch Sarah schaute in die Ferne und schien den Tränen nahe, ein kurzes, eingeschobenes Lächeln. Sie nahm einen unsichtbaren Richtpunkt auf dem Ozean. Der Fischer rief.



da-heim:

Sarah hatte auch auf der Heimreise merkwürdig wenig geredet und Heimo war einmal der Kragen geplatzt. Er hatte mit einer Art Offenbarung gerechnet, mit einer tollen Idee oder einer Bestätigung. "Vieles ist mir nun klarer", hatte er das erste Gespräch begonnen und Sarah mit schiefgelegtem Kopf angesehen. Ein kleines Kind, das auf eine Antwort wartete, auf eine Erzählung über ein Gespenst.


Sarah hatte nichts gesagt auf der Heimreise. Irgendetwas mit Flugtickets gestammelt. Einen Satz, den Heimo nicht verstand. Auch nach längerem Warten sagte sie nichts. Heimo wollte es später noch einmal versuchen, er brauchte etwas, wollte sich eine Finte ausdenken, er würde es ihr schon aus der Nase ziehen. Immerhin ist er mit ihr nach Runit gefahren, geflogen, geschippert. Diesen Stein, diesen Knopf, diese Station.


Heimo hatte ein paar Bilder geladen, während Sarah bei Rewe einkaufte. Als sie kam, zog er sie gerade noch liebevoll hinter sich her, zog sie an den Monitor und machte ihn an. Heimo zeigte auf das mikroskopisch anmutende Lebewesen, zoomte auf den Dom: "Und jetzt?".


Sarah zog sich weg von ihm, schmiss sich aufs Bett und hielt sich die Augen zu als spielte sie verstecken. Heimo war zu weit gegangen und Sarah gluckste, aber weinte nicht. Sarah wusste etwas, was sie Heimo nicht sagen wollte oder konnte oder beides. Etwas, das auch Heimo im Kopf haben musste, weil er ja dabei gewesen war, die ganze Zeit. Aber nicht erriet. Heimo hätte wissen müssen, was in Sarahs Kopf vorging.


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