VON KATRIN KRAUSE //
Als Lea auf den Schoß des alt gewordenen Mannes sprang und ihn fragte,
warum man nicht lügen dürfe, wusste der darauf keine Antwort.
"Na, weißt du das denn nicht selbst?",
fragte Vasili zurück und hoffte, dass sich die Frage seiner Enkeltochter damit erledigt hatte.
Aber Lea schüttelte energisch ihren wilden Lockenkopf und die Goldpigmente
in ihren Haaren erinnerten ihn an slawische Sommer und seine tote Schwester.
Eins

Vasili Antonow war nicht immer der verknöcherte alte Mann, der er heute ist. Wer ist überhaupt schon immer der gewesen, der er heute ist. Wir waren ja alle mal Kinder und wussten nichts über Dinge und Leute. Wir alle kommen aus irgendeinem Dorf.
Vasili war zum Beispiel Kind auf einem Bauernhof in Zhabka. Einem kleinen ukrainischen Dorf, dass sich eigentlich nur in der Nähe anderer kleiner ukrainischer Dörfer befand. Damals wusste Vasili noch nicht, dass er auf die Frage, wo er herkäme, immer nur mit "aus der Nähe von Kiew" antworten würde. Das war zwar nicht wahr, aber es war die einzige Stadt in der Ukraine, die den meisten Deutschen ein Begriff war. Sie hatten davon gehört. Auch, wenn sie sich mit der Zuordnung oft schwertaten. "Im Osten kenn ich mich einfach nicht so gut aus", sagten sie ihm dann entschuldigend, während
er verständnisvoll nickte und auf den Boden sah. Polen kannten sie, weil einige dort mit ihrer Familie einen günstigen Urlaub verbrachten und es einfach "in unserer Nähe" war. Außerdem kannten sie Russland und sie kannten Russland auf die gleiche Weise, wie sie China kannten. Deswegen hörte Vasili auf, sein Heimatdorf zu erwähnen, nachdem er es verlassen hatte. Aber in seinen verborgenen Erinnerungen musste sich jede Landschaft an der Landschaft seiner Herkunft messen. An schleimiger Erde, hohen Wäldern und dem weiten Himmel, an dem man zu jeder Zeit erkennen konnte, ob Gott es gerade gut meinte mit den Menschen. Als kleiner Junge war Vasili am blondesten und verbrachte die meisten Tage auf dunkelgrünen Wiesen mit den schweren landwirtschaftlichen Maschinen seines Großvaters, Miloslaw Antonow.
In Zhabka gab es nur eine einzige Straße. Eine matschige Hauptstraße, mit Pfützen so tief, dass sie selbst in den heißesten und trockensten Sommern nicht ganz austrockneten. In einigen Pfützen begannen ein paar Fische ein kurzes Leben zu führen. Jedenfalls so lange, bis der Reiher oder Vasilis Cousin Bohdan sie schnappte. Bohdan war ein Golem. Geformt aus Lehm, ungeschlacht und von innen hohl. Jeder im Dorf wusste das. Deswegen hielten die meisten sich fern. Nur Vasili und seine Schwester Polina verbrachten ein paar zeitlose Kindheitsnachmittage mit ihm. Polina tat es aus naiver kindlicher Zuneigung. Ihr Blick war noch nicht scharf genug, um Gutes von Schlechtem zu unterscheiden. Vasili tat es aus dem Pflichtgefühl, das ein geteilter Nachname in uns erweckt.
Als Polina an einem Freitagnachmittag weinte, weil sie einen kleinen toten Fisch sah, der mit Sicherheit auf Bohdans Rechnung ging, erfand der Golem ein neues Spiel.
Er fing ein paar dieser winzigen silbrigen Fischchen mit dem Netz und Polina sah zu. Sie zappelten, als sie ihre Pfütze verließen. Denn man muss wissen, dass kleine Fische ihre Pfützen niemals freiwillig verlassen würden, der andere Lebensraum ist fremd und ein Besuch endet meistens tödlich.
Polina fragte ihren Cousin, warum die Fische tanzen.
"Sie tanzen nicht, sie sterben", sagte der und das Mädchen fing an zu schreien.
Er ließ das Netz zurück in die Pfütze gleiten.
"Schon gut, pscht. Oder willst du, dass wir Ärger bekommen?"
Das wollte Polina nicht und schwieg.
Dann war Bohdan einen Moment lang still und der Lehm, der tief in seinem Dunklen lag und noch weich geblieben war, härtete in der Nachmittagshitze aus. Er sah die weichen Fische im Pfützenschlamm und beneidete sie für ihre sorglos wendige Lebendigkeit, aber das wusste er nicht. Er hielt das Gefühl, das in ihm aufstieg, für Vergnügen und vielleicht war es das auch. Schließlich war er ja ein Golem und die fühlen anders.
Dann griff er ins Netz und in ihm pumpte es. Aber sein Herz war es nicht.
Mit dem Zeigefinger öffnete er Polinas Unterhemd am Kragen und ließ die zappelnden Fische aus seiner Faust hineinfallen. Sie schrie.
"Pscht", machte der Verwandte und Polina erinnerte sich ans Schweigen. Zwischen dem weißen Unterhemdchen und Polinas warmer Kinderhaut kämpften die Tierchen ihren aussichtslosen Kampf.
"Sie sollen aufhören, Bohdan", sagte Polina und dabei spürte sie Ekel und noch etwas Anderes. Es war etwas Verborgenes und es lag hinter ihrem Bauchnabel. Diese glitschigen Tiere. Es zog sich zusammen in Polina, als wäre dort ein Faden an ihrem Nabel und an der Schnur zog jemand tief nach Innen. Unter der Stirn war es warm, Polina schüttelte sich vor Abscheu. Sie hasste Bohdan. Sie wollte ihm sagen, dass er sie rausnehmen soll, aber sie wollte auch nicht, dass diese Tiere mit dem wilden Spiel unter ihrem Bauchnabel aufhören.
"Bohdan, mach, dass sie aufhören", sagte sie schließlich leise, denn dass etwas hieran sich ganz und gar nicht gehörte, das konnte sie spüren.
Bohdan lachte:
"Wenn du willst, dass sie aufhören, dann musst du sie töten", sagte er, als hätte er bloß eine Scheibe Brot geschnitten. Polina sah ihn ehrfürchtig an. Es war ein Spiel für Kinder und es ging um Leben und Sterben. Das war das liebste Kinderspiel von allen. Slawische Märchenerzähler wussten das. Polina war ein Kind und sie war neugierig auf den Tod. Das Aufbegehren der Fische machte sie wild und ihr Denken zu einer wirbelnden dickflüssigen Suppe. Erwachsene können nicht verstehen, was der Tod für Kinder bedeutet. Diese unaufgeräumte Aufregung, Gefühle, die man nicht kennt. Und dann auch noch dieses eigenartige Ziehen hinter dem Bauchnabel.
Als das Aufbegehren schwächer wurde, als die Fische ihren verzweifelten Kampf zuende gekämpft hatten, wurde es finster in Polina. Bohdan zog ihr Hemdchen aus dem Hosenbund und die erstickten Pfützentiere fielen auf den Boden.
"Na guck mal. Jetzt hast du sie getötet. Du bist eine Mörderin, Polina."
Als Bohdan sagte, was sie nun geworden war und ihr alle Konsequenzen in dieser Angelegenheit bewusst wurden, schämte sie sich furchtbar. Jeder wusste doch, dass Gott keine Mörder und Lügner liebt und Polina wollte vom Leben doch wirklich nicht viel mehr, als von Gott und ihren beiden Eltern geliebt zu werden. Das war nun hin. Sie hatte ihre Liebe verspielt. Sie war eine sechs Jahre alte Mörderin. Gott und Bohdan waren Zeugen. Als sie an diesem Abend nach Hause kam, belog sie ihre Eltern. Mutter Antonow fragte, wo sie heute gespielt hätte und Polina sagte: "Im Wald". Diese Lüge hatte sie sich gut überlegt. Mit Gott hatte sie es sich ohnehin verscherzt und da sie zweifellos in die Hölle kommen würde, wollte sie wenigstens in den Augen ihrer Eltern das unbescholtene Mädchen bleiben, das sie heute morgen noch gewesen war.
Als Polina in dieser Nacht in ihrem Bett lag, schwitzte sie furchtbar und wusste, dass es um den Verbleib ihrer Seele schlecht bestellt war. Wenn sie die Augen schloss, sah sie schuppige Fratzen und zitternde Flossen. Der Teufel rief nach ihr. Er schickte seine Dämonen. Die schlimmen Dinge, die sich in der Dunkelheit hinter ihren Lidern abspielten, waren eine Vorschau auf die Unterwelt. Polina wusste das.
Weil sie beim Gedanken an die ewige Verdammnis nicht schlafen konnte, schielte sie zu Vasili rüber. Er schlief schon. Sie schlich zu ihm.
"Vasili?"
Sie zog mit Daumen und Zeigefinger am Ohrläppchen, das sich beim nächtlichen Kauen immer mitbewegte.
"Was? Nein. Geh in dein eigenes Bett."
"Nein, Vasili, bitte."
"Was ist denn? Wieder Gespenster?", Vasili war genervt von den ständigen Nachtängsten seiner kleinen Schwester. Das kommt davon, dass babusya ihr immer diese Gruselgeschichten erzählt, dachte er. Er selbst hielt nichts von Gruselgeschichten, denn sie entsprachen nicht der Realität. Er war alt genug, sowas zu wissen. Keine von babusyas Geschichten tat das und das einzige, das nachts aus den Schränken flog, waren ein paar Motten. Eine fromme Familie wie seine hatte keine Heimsuchung zu befürchten. Das hatte sogar Priester Chownyk gesagt, der manchmal sonntags zum Tee kam und viel über die Welt wusste.
"Nein Vasili. Keine Gespenster."
Polina schüttelte den Kopf und das dünne Haar schwebte wie silberne Spinnweben um sie herum. Sie begann zu weinen, Vasili verstand den Ernst der Lage und legte ihr eine beruhigende Bruderhand auf das wilde Köpfchen.
"Ich muss dir ein Geheimnis verraten."
Sie flüsterte und die finsteren Höhlen, aus denen seine Schwester ihn anstarrte, erschraken ihn. Es war Vollmond, silbernes Licht fiel auf die staubigen Dielen und das Gesicht seiner kleinen Schwester war so dunkel wie nie zuvor.
"Ich werde nicht mit mumiya, bat'ko und dir in den Himmel kommen."
Er erschrak, doch er versuchte die Fassung zu behalten, zu der man als großer Bruder verpflichtet ist.
"Doch, das wirst du. Gott hat dich lieb. Und ich dich auch."
"Ich glaube, das hat er nicht. Jedenfalls nicht mehr."
Obwohl Polina nur flüsterte, brach der Rest ihrer Stimme.
"Wieso denkst du das?"
"Ich hab was Schlimmes gemacht."
"Was denn?"
Vasili konnte sich kaum vorstellen, dass seine liebe Schwester irgendetwas wirklich Schlimmes getan haben konnte, vielleicht hatte sie eine Kanne Milch umgeworfen, oder ein Kleid zerrissen, dachte er noch.
"Ich habe Tiere getötet."
Vasili schluckte.
"Du hast was?"
"Ja, ich habe Tiere getötet, und ich glaube, es hat mir gefallen."
"Was? Polina, was? Du musst mir ganz genau erzählen, was du gemacht hast."
Sie weinte.
"Ich habe Fische getötet. Die Fische aus den Pfützen. Ich hab sie erstickt. Ich bin eine Mörderin, Vasili. Gott wird mir nie vergeben."
In Vasilis Magen begann es so zu zappeln, als wäre er randvoll mit sterbenden Fischen. Du sollst nicht töten, das fünfte Gebot. Warum hatte er nicht auf seine Schwester aufgepasst. Ohnmacht ergriff ihn im Liegen und er musste sich festhalten an der kratzigen Wolldecke. Dann umarmte er seine Schwester.
"Gott wird dir vergeben", sagte er und Vasili war sich nicht sicher, ob das stimmte. Doch das kleine Mädchen wurde ruhiger.
Zwei
Es war einige Sommer später und es war im tiefsten Rheinland, als man über den plötzlichen Tod des kleinen Mädchens nicht mehr sprach. Erst war es bloß eine Grippe gewesen, dann eine Lungenentzündung, dann hatten die Dämonen sie zu sich genommen. Vasili war sich sicher. In ihren letzten Tagen sprach sie von einem tiefen Loch unter dem Bett, in das es sie reinzöge. Immer wieder musste Vasili nachsehen, doch da war nichts, außer zittrige Wollmäuse auf alten Dielen. Alle Ärzte und der Priester Chownyk kamen und die Eltern weinten. Das ganze Dorf weinte. Am 6. September starb Polina. Dann regnete es bis Oktober. Die Hauptstraße in Zhabka wurde überschwemmt und die übriggebliebenen Fische in den Pfützen fanden ihren Weg zurück in den Bachlauf. Bis heute wurden keine Fische mehr in den Pfützen auf Zhabkas einziger Straße gesichtet. Die letzten Monate in Zhabka waren Apathie. Sofia Antonow verlor einige Kilos, Matwej Antonow verlor seinen Job und davon, was Vasili verlor, soll hier nicht weiter die Rede sein.
In Langenfeld war alles anders. Alles, außer die große Traurigkeit. Die Straßen waren gepflastert und jede Familie hatte mindestens ein Auto. Papa Antonow fuhr mit dem Bus zur Arbeit. Mama Antonow hatte am Kochen und auch am Essen immernoch keine Freude. Im Supermarkt gab es Maggitüten, das deutsche Wunder. Im geräumigen Abstellraum stand nur Vasilis Pritsche, auf der ihn jede Nacht tiefe Finsternis beschlich. Die wenigsten wissen, wie sich das anfühlt. Finsternis kriecht immer zuerst in die Unterarme und in die Unterschenkel, sie lähmt die Knie, dann breitet sie sich aus, vereist die Zellen. Das Herz darf sie niemals erreichen und wenn sie es tut, dann ist es zu spät. Dann wirst du sie nie mehr los.
In Vasilis Nächten war es so, in seinen Tagen kaum anders.