top of page
Suche

Anna

VON MARIE FOULIS //


Ich hatte nichts von ihr gehört und begann, unruhig zu werden. Es waren nun fast acht Wochen vergangen, seit ich das Paket abgeschickt hatte, und ich hatte / nichts / gehört. Keine Nachricht war durch den Äther gedrungen, nicht die knittrigste Postkarte lag im Briefkasten, dabei zeigte mir das Onlinetracking an, dass das Paket zugestellt worden war, ich konnte es sehen, wenn ich die Sendungsnummer eingab: CTT. Ihre Zustellung war erfolgreich, stand da, in einem gelben Kasten neben einem grünen Haken, und ich begriff nicht, wieso ich nichts von ihr hörte. Ich blickte morgens verständnislos auf das Trackingergebnis und abends auf das Postfach, neben dem ein Kreis mit einer Eins darin hätte erscheinen sollen. 


Wenn ich zwischendurch die Augen vom Bildschirm hob und den Versuch unternahm, in mich hineinzuhorchen, wie man es mir für solche Momente empfohlen hatte, dann, und das stellte ich mit einer Leichtigkeit fest, die irritieren musste, wo es sich doch oft genug als vergeblich erwies, hinter der Nebelwand meines Bewusstseins eine Erinnerung oder auch nur einen klaren Gedanken zu fassen bekommen zu wollen … Dann jedenfalls stellte ich fest, dass es keine gewöhnliche Unruhe war, die ich beim Warten verspürte, dass dieses Störgefühl nichts Latentes mehr hatte, nicht länger lauerte: Es war aus dem Dunst ans Tageslicht gekrochen, wann, konnte ich nicht bestimmen, aber es konnte nicht eben erst geschehen sein, denn es war zu einer Rastlosigkeit verkommen, zu einer Getriebenheit, einer heißen, stressschweißtreibenden, schürfwundenaufkratzenden Getriebenheit. Sie erinnerte mich an die Sorge auf den Stirn- und um die Kinnpartien von Familien, deren Angehörige in den 90ern verschwunden waren, und an die sie abbildenden körnigen, überbelichteten Nahaufnahmen, die Radiotelevisão Portuguesa damals über die Röhrenbildschirme hatte flackern lassen. Sie erinnerte mich auch an die Worte, die man durch das Klicken der Auslöser im Zweiunddreißigsteltakt zerhackt auf die Frage fand, wie man sich angesichts dieser Situation schlage, an die am wohl häufigsten paraphrasierten Emotionen dieser Sendezeit: Dass man wisse, dass etwas Schlimmes oder eben nichts Schlimmes passiert sei oder sein könne, dass man es tief in der Magengrube, wie mit einem sechsten / einem siebten / oder achten Sinn spüre, dass der, dass die Vermisste noch dort draußen, noch am Leben sei, oder tot.


Es war also beinahe ein Instinkt in mir, der mir sagte, dass etwas nicht stimmen konnte, nein, ich zweifelte keine Sekunde daran, dass ich richtig lag, denn auch die Distanz, die zwischen uns liegen mochte, seit Jahren, mittlerweile, konnte / nichts / daran / ändern, wie nah wir einander nach alledem noch waren, wie oft wir einander in Gedanken begleiteten, einander unsere Stimmen für die Gewissensentscheidungen des Lebens liehen, und es ergab nur Sinn, dass uns all das erhalten geblieben war: Schließlich hatten wir eben so begonnen, als Brieffreundinnen, im weitesten Sinne, hatten einander in der Schule heimlich Zettel zugesteckt, sie mir zunächst, denn ich war eines dieser blassen, geisterhaften Kinder gewesen, die sich zu ducken man erzogen hatte, ich hätte es nie gewagt, mich jemandem derart oder überhaupt zu nähern, und schon gar nicht jemandem wie Anna. Anna besaß diesen Charme, diesen weltherrschaftseroberungstauglichen, gefährlichen Charme von Schönheitsköniginnen und Serienmörderinnen, aber das war längst nicht alles, was sie ausmachte, Anna hatte Substanz, das erkannten alle. Ich hätte mir nicht erklären können, weshalb sie ausgerechnet mich als ihre Vertraute gewählt hatte, aber das musste ich auch nicht, denn ich war nie in die Verlegenheit geraten, mir diese Frage zu stellen, dafür hatte Anna gesorgt, die mich wie selbstverständlich gesehen hatte, und bedingungslos gemocht.


Aus der zweiten Reihe hatte ich sie beim Heranreifen beobachten dürfen und war daran selbst gewachsen: ich, die Freundin, die man nachts um drei Uhr anrief, wenn man von der Party kam, auf die sie nicht eingeladen war, was aber auch besser so gewesen sei, wie man ihr versicherte, weil dort ohnehin niemand etwas taugte, und weil wir niemand anderen bräuchten, solange wir uns beide hätten. Ich, die Verbündete, vor der man das sechste / das siebte / das achte Mal über demselben Jungen weinte, bis man es endlich besser wusste, im Geheimen aber, denn unsere Zweifel waren nur / für / uns und für niemand anderen. Ich, die Gefährtin, der man das jüngst geschriebene Gedicht zeigte, und zwar in der unvollkommenen, in der verletzlichen, in der Säuglingsform, der man das Blut und den Schleim erst noch vom Gesicht tupfen würde, ehe man das erste Foto schoss.


Auf unserem Baile de Finalistas, dem Provinzparkett des Großmaultums, der am wohl schamlosest drittfinanzierten Parade der Mamã- und Papa-Kalitäten, war sie es gewesen, die mich gefunden hatte, wie ich unter dem Treppenaufgang gesessen hatte, hinter dem Vorhang, neben der aufgestapelten Restbestuhlung der Eventhalle. Unter dem Beben der Bässe aus dem Saal über uns und jenem, das irgendwo aus meinem Inneren drang, war sie in ihrem Ballkleid über die Fliesen zu mir gekrochen und hatte mich gehalten. Obwohl ich in diesem Moment nichts weiter hatte tun können, als es schlaff geschehen zu lassen, hatte mich mit einem Mal ein unwahrscheinliches Glück durchflutet: Ich wusste, ab hier, dass wir, dass das zwischen uns für immer so bleiben würde wie in diesem Augenblick, dass sie, wo immer, an meiner Seite sein würde, dass ich, wann immer, die Augen schließen konnte und wir zu diesem Moment zurückfinden würden, dem Moment / unter der Treppe / im Coliseu, in dem sie mich in der einen Sekunde so hielt wie eine Mutter ihr Kind, und in der nächsten wie eine Liebhaberin. Oft, heute noch, manchmal, wenn ich den Impuls nicht so unterdrücken konnte wie ich es sollte, kehrte ich dorthin zurück, unter die Treppe, wo alles mit einem Mal einen Sinn ergeben hatte.


Irgendwann hatte ich sie jemand anderen so halten sehen. Das Kleid, dass sie dabei getragen hatte, war ein weißes gewesen. Natürlich hatte ich meiner Begleitung nicht wenig von Anna erzählt, die ich lange nicht gesehen hatte, aber zu der ich, insbesondere wenn ich von ihr las, noch immer diese Verbundenheit spürte, diese Nähe, die nur wir beide verstehen würden. Auf der Feier dann aber, so kam es mir vor, gehörte ich plötzlich nur mehr zum Randgeschehen, wurde beäugt, geduldet. Während Annas Bruder dem Paar zuprostete, zerknüllte ich unter der Tischdecke geräuschlos das Gedicht, das ich für meine Trauzeuginnenrede geschrieben und von dem ich zum Glück niemandem erzählt hatte. Meine Begleitung, die nichts verstand, hatte mich später draußen unter der Regenrinne in den Armen gehalten, während ich, den Blick abgewandt, durch die schlierige Fensterscheibe beobachtet hatte, wie Anna den Saum um die Turnschuhe schwang, die sie unter ihrem Kleid trug. Ich war erneut, noch immer, die geheime Entität gewesen, mit der man sich nicht zeigte. Und während sie vorauszusetzen schien, dass dies eine Selbstverständlichkeit, dass es zwischen uns nichts weiter zu besprechen gab, hatte ich einen Moment gebraucht, um meinen Schmerz zu verwinden.


Ich war kein Unmensch. Ich war zu echter Größe fähig. Ich gönnte ihr alles. Ich wünschte ihr alles. Und es war mir wichtig, dass sie das verstand. Das Paket war wichtig. Es hatte Ewigkeiten bei mir gelagert. Wie oft hatte ich Anna schon versprochen, es käme bald, ihr in jeder Nachricht, die ich schrieb, von Neuem angekündigt, es sei jetzt endlich unterwegs, während es in Wahrheit noch immer neben der Heizung gelagert und Staub angesetzt hatte, weil ich mich einfach nicht dazu hatte bringen können, es endlich auf die Post zu geben. Und jetzt, ausgerechnet im Moment meines Durchbruchs, unserer wahrscheinlich letzten Chance, jetzt, wo ich getan hatte, was getan werden musste, wo ich das Paket und alles, was dazu gehörte, auf den Weg gebracht hatte, ausgerechnet jetzt hörte ich einfach nichts von ihr. Ich wusste: Etwas stimmte nicht.


Nachdem Anna einen Monat lang keinen Laut von sich gegeben hatte und die Servicemitarbeiterin in der CTT-Pakethotline zuerst ungehaltener geworden und dann dazu übergegangen war, mich bei jedem weiteren Anruf kommentarlos in die Warteschleife zu hängen, hatte ich beschlossen, mich zumindest darin zu vergewissern, dass das Paket angekommen war. Ich hatte die Pflanzen gegossen und die A1 nach Monte Novo genommen. Hier, oder überhaupt so weit im Süden, war ich noch nie gewesen, meinte ich, aber ich hatte trotzdem recht schnell gefunden, wonach ich suchte, auch wenn ich, als ich auf den Parkplatz zum Apartmentkomplex eingebogen war, mit einer Spur der Enttäuschung auf die so gewöhnlichen, so beengend bürgerlichen Siedlungsbauten geblickt hatte, hinter deren Jalousien ich Anna jedenfalls nicht vermutet hätte.

Ich hatte keine Aufmerksamkeit auf mich ziehen wollen – wäre es meine Absicht gewesen, Anna zu besuchen, dann hätte ich mich angekündigt – nein, es ging nur darum, sicherzugehen, dass das Paket hier hatte abgegeben werden können, dass Anna es erhalten hatte, dass sie überhaupt in der Lage war, sich für ihre Antwort die Zeit zu nehmen, die bis hierhin verstrichen war, und um das zu ermitteln, mussten wir nicht sprechen. Dafür würde ein kurzer Blick reichen. Ich hatte noch eine Sonnenbrille aus dem Handschuhfach geklaubt, bevor ich mich, den Kopf gesenkt, dem Hauseingang genähert hatte. Zuerst hatte ich das Klingelschild studiert, das Annas Apartmentnummer zugeteilt war. Es lautete auf eine Asmarov SA, eine Firma, offensichtlich, Hier im Wohngebiet? Das war mir direkt merkwürdig erschienen, aber womöglich hatte ich mich in der Nummer geirrt, War es nicht 1B gewesen? Ich hatte jede einzelne der dreißig Plaketten eingehend betrachtet. Annas Name hatte auf keiner gestanden. Auch auf den Briefkästen, schmale Fächer  in Zehnersäulen auf dem Kiesbett nebenan, las ich nur den Namen der Asmarov SA. Das dazugehörige Postfach, zwei Finger breit, war leer.


In meinem Unterleib hatte sich ein Brennen ausgebreitet. Ich konnte / nichts / daran / ändern: Ich schämte mich. Anna wohnte hier nicht mehr. Sie musste umgezogen sein. Und ich hatte so viel Zeit verstreichen lassen, das Paket, die Versöhnung, unsere endgültige Heilung so lange nutzlos in mir umhergewälzt, dass ihr Wegzug ausgerechnet an mir, an mir von allen Personen, vorübergegangen war. Wie wollte ich mein Versprechen halten, für immer an ihrer Seite zu sein, wenn sie schon zur nächsten Station ihres Lebens aufgebrochen war? Wenn ich sie nicht einmal erreichen konnte? Wozu hatte ich uns verkommen lassen?


Zurück im Auto hatte ich die Telefonnummer eingegeben, die handschriftlich unter dem Firmenlogo der Asmarov SA auf dem Briefkasten zur 1B angebracht worden war. 

„Alô?“ Es war die Stimme einer Frau gewesen, zögerlich, langsam, mittelalt, vermutlich. 

Etwas in mir hatte mich davon abgehalten, ihr meinen Namen zu nennen, und so hatte ich nur gefragt, ob ich mit der Asmarov SA spreche. 

„Asmarov…“, hatte die Frau fragend wiederholt, und dann, „Vielleicht möchten Sie eigentlich meinen Sohn sprechen?“

„Das ist möglich“, hatte ich gesagt und mir über den Brillenrand im Spiegel der Sonnenblende in die Augen geblickt. „Die Angelegenheit ist aber eigentlich nicht kompliziert. Es geht um eine Paketsendung, die wohl versehentlich an den Firmensitz Ihres Sohnes geschickt wurde.“

„Firmensitz“, hatte die Frau in unbestimmtem Ton wiederholt.

„Apartment 1B?“, war ich längeren Grübeleien zuvorgekommen.

„Ach, 1B“, hatte die Frau eher geseufzt als gesagt, und das hatte mich aufhorchen lassen. „1B, ja, das… Da gibt es schon länger Ärger, immer Ärger.“

„Oh, da seien Sie unbesorgt, ich bin mir sicher, dass die Sache schnell aus der Welt ist“, sagte ich und besah im Spiegel meine Zähne. „Vielleicht können Sie mich mit Ihrem Sohn in Verbindung setzen? Dann würde ich mit ihm einfach einen Termin zur Abholung vereinbaren.“

„Verstehen Sie“, hatte die Frau begonnen, ohne im Geringsten auf das Gesagte einzugehen, „Sie – Sie müssen das entschuldigen. Mein Sohn, der…der hat es im Leben bisher nicht immer leicht gehabt, ja. Er ist eigentlich ein guter Mensch, ein feiner Junge, und das sage ich nicht nur als seine Mutter. Sehen Sie, wir haben alle unsere Schwierigkeiten, Sie und ich, und bei meinem Sohn…der hat da eben…ja, mit größeren Herausforderungen zu kämpfen.“

Ich hatte geschwiegen.

„Sie – Sie wissen vielleicht nicht, wie das ist, wenn man so… so / lange / allein ist wie mein Sohn, da hat man viel Zeit, auch um nachzudenken, zu viel Zeit, und da… Dass er da diese Versteifung hat, das… Aber er war auch schon-schon immer so, er hat da immer schon einen enormen Fokus auf Manches entwickeln können, und manchmal bringt das eben auch bestimmte Eigenheiten hervor. Und ich sag’s ihm auch, ich sag’s ihm immer wieder, Sohn, das wird dich in Schwierigkeiten bringen, wenn du da so was machst, wie anderer Leute Post, nun…“

„Abzufangen?“, hatte ich angeboten.

„Auf-… aufzubewahren“, hatte die Frau ergänzt. „Aufzubewahren, und – und erstmal nicht herauszugeben, nicht? Ja.“


So sehr es mich auch beunruhigt hatte zu hören, dass es nach allem noch länger dauern mochte, bis Anna ihr Paket erhalten würde, so wenig war ich umhingekommen, Mitleid für die Frau am anderen Ende der Leitung zu entwickeln: mit einer Mutter, deren Sohn so stark beeinträchtigt, so – nicht fokussiert, nein: versessen schien, dass sie hilflos mitansehen musste, wie sich seine Zurückgezogenheit verselbstständigte. Ich hatte auch Mitleid mit ihm, der an irgendeinem Zwang, irgendeiner Störung zu leiden schien, ich glaubte diesen Typ Mensch zu kennen, dessen soziale Dysfunktionalität nur eine latente war, ihm aber insbesondere deshalb zum Nachteil geriet: Ihm, der die an ihn gerichtete Erwartungshaltung einer Gesprächsnormalität nie erfüllen würde, der chronisch enttäuschen würde mit den ungewöhnlich betonten Silben, den Abbrüchen im Blickkontakt, den immerselben, mantrahaft verwandten Formulierungen, der, mehr noch, befremden würde, in seiner Personenähnlichkeit noch weniger leicht zu akzeptieren war als jede abstrakte Darstellung eines Menschen, der man eine Eigengesetzlichkeit vielleicht noch zugebilligt hätte. Doch mit meinem Mitleid war am Ende niemandem geholfen, vor allem nicht, und das, das war entscheidend: Anna.


„Sehen Sie“, hatte ich also gesagt. „Das Paket ist für mich deshalb so wichtig, weil …weil der Adressat es dringend braucht.“

„Der Adressat“, hatte die Frau wiederholt.

„Eine…eine gute Freundin. Es ist mir sehr wichtig.“

„Wichtig, ja?“

„Sehr. Sehen Sie… Diese Freundin und ich, wir haben da diese besondere Verbindung.“

Schweigen.

„Und – vielleicht haben Sie das auch schon erlebt… Sicher haben Sie auch schon eine solche Begegnung gehabt, eine einschneidende. Eine, die man nicht vergisst. Eine Freundschaft von ganz besonderer Nähe eben. Und-“

„Anna?“, hatte die Frau gefragt.

„Bitte?“

„Anna. Ihre Freundin heißt Anna.“ 

Es hatte wie eine Unterstellung geklungen. Es war eine Unterstellung gewesen.

„Ja“, hatte ich gesagt.

Mit einem Mal war alles Neutrale aus ihrer Stimme gewichen. Stattdessen schwang ein klarer, reiner Unterton mit: Angst. Eine beinah vertraute Angst.

„Ich kann Ihnen da nicht weiterhelfen. Es tut mir leid.“

„Aber…Aber warum?“, versuchte ich ein Lachen. „Ich brauche da Ihre Hilfe. Es ist wirklich wichtig, ich-“

„Ich weiß nicht, was es an dieser Frau ist“, hatte sie mehr zu sich als zu mir gesagt. „Ich weiß nicht, was es ist, aber das… Das geht nicht. Es geht nicht. Ich habe es ihm auch gesagt. Bitte-“„Ihm? Warum ihm?“

„Nein!“ Ihre Stimme wurde hart. „Nein. Es reicht. Das muss aufhören. Ich habe es ihm gesagt, ich sage es Ihnen: Hören Sie einfach auf.


Ich war / kein / Unmensch. Ich hatte verstanden, dass ich zu einer Mutter sprach, die ihr Bestes gab, ihren Sohn zu schützen. Ich hatte es ihr nicht übel genommen, dass sie mir nicht helfen wollte. Aber ich war mir nun sicher, dass etwas nicht stimmte. Dass Anna mir nie, nie aus freiem Willen so lange nicht geantwortet, mich so / lange / allein gelassen hätte. Und dass er damit zu tun haben musste. Er war nicht versessen auf irgendetwas, auf irgendein beliebiges Kinderspiel mit den Sendungen fremder, gesichtsloser Leute, er war versessen auf das eine Gesicht unter ihnen, auf das einzige: Anna. Es konnte kein Zufall sein, dass Anna seiner Mutter ein Begriff war. Es würde kein Zufall sein, dass er ausgerechnet das Apartment bezogen hatte, in dem Anna so lange gewohnt hatte. Ausgerechnet dort seine ‚Asmarov SA‘ betrieb, unter deren Deckmantel er Annas Post abfing. Persönliches, für sie Gedachtes, allein für sie Gedachtes, nur / für / uns Gedachtes. Berge an Intimem, durch das er nun vermutlich seine Finger rann, um sich ihr nah zu fühlen, sich an ihr zu reiben, sie zu beatmen, nein, ich hatte kein Mitleid mehr, das war widerlich. Es war erbärmlich. Und er würde damit nicht durchkommen.


Der Mann hinter dem Krämerladentresen ums Eck hatte mir auf die Brüste gestarrt und ihnen erklärt, alles, was an Apartment 1B adressiert wäre, ginge an Apartment 1B.

„Auch Pakete? Auch welche, die an Privatpersonen adressiert sind?“, hatte ich gefragt.

„An Privatpersonen?“, hatte er dumm wiederholt.

Ich hatte langsam die Arme verschränkt. Er: tief ausgeatmet. Mir dann ins Gesicht geblickt. Widerwillig. Und, aber vielleicht bildete ich mir das auch nur ein: wachsam.

„Alle Post geht dorthin“, hatte er wiederholt. „Alles, was an Apartment 1B adressiert ist.“ 


Eigentlich hatte ich überhaupt keine Zeit dafür, ihn zu beobachten. Ich hatte ohnehin, auch ohne ihn, schon so viel unserer Zeit verloren. Aber was blieb mir für eine Wahl? Ich hatte auf dem Parkplatz Stellung bezogen und ihn beobachtet, wie er mittags, gegen 14 Uhr, kurz das Haus verließ; bei der Gelegenheit den Briefkasten zu 1B öffnete; kurze Zeit später zurückkehrte, zwei oder drei Konservendosen im Arm, manchmal auch mit großformatigen Briefumschlägen oder einem Paket, Annas Briefen, Annas Paket, denn wer würde ihm schon schreiben, wer war er schon, oder vielmehr: was. Ich hatte zugesehen, wie frühmorgens, irgendwann zwischen zwei und vier, dann endlich das Licht hinter den Jalousien im Erdgeschoss erloschen war. Einige Nächte lang hatte ich gewartet. Bis ich mir sicher sein konnte, seine Routine zu kennen. Bis ich den Moment ermittelt hatte, in dem ich ihn für das hätte bestrafen können, was er mich bis hierhin gekostet hatte – auch wenn die Gewissheit hierüber reichen musste. Denn es ging nicht um ihn, oder um mich. Es ging allein um Anna. Und darum, dass sie ihr Paket erhielt.


***


Ich blickte mir im Spiegel der Sonnenblende auf die Zähne, während er die Haustüre hinter sich zuzog und sich Richtung Supermarkt entfernte. Dann stieg ich aus, holte das Brecheisen aus dem Kofferraum und schlug die Scheibe zur Terrassentür ein.


Die Wohnung war dunkel, tiefdunkel vertäfelt, wahrscheinlich das letzte der Apartments, die im Komplex noch nicht saniert worden waren, und von einer muffigen, bedrückenden Enge. Auch ohne die Unterlagen, die in einigen Dutzend Stapeln die Gesamtfläche des Wohnzimmers kachelten, hatte ich Mühe, mir vorzustellen, wie Anna sich jemals freiwillig in dieses Loch hineingezwängt hätte – undenkbar, für meine Anna jedenfalls. Ich zog mir einen Splitter aus dem Handrücken, stieg über die Scherben hinweg und drang, zu beiden Seiten Stapel streifend, durch den Wohnungsflur in den hinteren Teil des Apartments vor, von dem ich vermutete, eigentlich wusste, dass dort das Büro lag, in dem morgens zwischen zwei und vier das Licht erlosch. Auch hier: Unterlagen, Dokumente, gefaltet, zerknittert, in Ordnern, auf Stapeln, in Türmen, foliert; dazwischen: Artikel und Bilder und Forengesuche, Fotokopien von Liebesbriefen und Tagebucheinträgen, Handschuhe, Servietten, Slipeinlagen. Öffentliches, Soziales, Privates, Intimes, alles über sie: über Anna. In Totalität mit System archiviert. Zum willkürlich wiederholbaren Übergriff. Ein unbeherrschbarer Ekel durchschoss mich in heißen Stößen, und in den Intervallen: eine beinah vertraute Rage.


Mein Blick fiel auf einen der Stapel. Einstweilige Anordnung stand da, verfügt gegen den Antragsgegner Adam Asmarov


Adam, dachte ich verächtlich, Adam, gottverdammt, eine richterliche Verfügung. Was musste für ihn erst geschehen, damit er kapierte, dass Anna ihn nicht wollte? Ihn nie gewollt hatte? Ihr Möglichstes getan hatte, Raum und Raum und noch mehr Raum zwischen ihr und ihm und seinen Abartigkeiten zu schaffen? Was musste noch geschehen, damit er begriff, was er da getan, wie sehr er sie bedrängt haben musste, wie er sie auch jetzt noch mit jeder seiner beschrifteten, gestapelten, abgehefteten Aggressionen immer weiter verletzte? Reichte das hier nicht? Ein Verpiss dich aus ihrem gottverdammten Leben, schwarz auf weiß, ein Verpiss dich vom Staat, ein Verpiss dich, Adam, reichte das nicht? Was bedurfte es noch, bis er einsah, dass er sie so nicht verstehen und ihr schon gar nicht näher kommen würde? Nicht er, der sie nicht verehrte, auf keiner der Ebenen, auf denen Anna es verdiente, verehrt zu werden, er war kein Verehrer, er ehrte sie nicht, er war nichts weiter als ein widerlich fixierter, obsessiver Freak. Adam, gottverdammt –


Dann las ich: Einstweilige Anordnung, auf dem Stapel rechts daneben. Verfügt gegen die Antragsgegnerin Luisa Moreira.


Verfügt gegen die Antragsgegnerin Luisa Moreira.


Die Gegnerin. 


Gegen die Gegnerin. 


Gegen die Antragsgegnerin Luisa Moreira.


Ich verharrte im Raum / mit dem Blick / auf dem Stapel


Im Moment / unter der Treppe / im Coliseu


Im Regen / bei Gedichten. 


Im Regen / bei Gedichten. 


Ich verharrte im Raum / und sah auf den Stapel / und hob nicht den Blick; 


auch nicht, als ich Lärm von der Straße her vernahm, 


Stimmengewirr / Fragen / Beschlüsse / Anweisungen, 


oder 


das Klirren der Schlüssel / das Knacken des Schlosses zur Wohnungstür / das Tropfen meines Bluts auf den Teppichboden. 


Ich verharrte im Raum / das Brecheisen in der linken / den Blick auf dem Stapel zur rechten, 


als sie eintraten, er, 


Adam wohl / und noch ein Mann / und eine Frau, die ich nicht kannte.


„Luisa“, sagte Adam tonlos.

„Luisa“, sagte die Frau und hob mir die Handflächen entgegen.


Ich verharrte im Raum / mit dem Blick / auf dem Stapel


Das Brecheisen zunächst noch in der Hand. Dann, nach Stimmengewirr,


nach Fragen / Beschlüssen / Anweisungen, 


dann irgendwann: ohne das Brecheisen. 


Nur mit dem Blick / auf dem Stapel.


„Luisa“, sagte die Frau und hob mir die Handflächen entgegen, mit gespreizten Fingern, bis sich die Gummihandschuhe darüber spannten.

„Luisa, wir verabreichen Ihnen jetzt ein Sedativ. Ich werde für Sie zählen. Ich fange an, ja, und Sie zählen mit. Eins – zwei – drei – vier – fünf…“


Sechs / sieben / acht.


***


Ich hatte mich ausgeruht. War lange, so / lange / allein gewesen. Und Zeit war verstrichen, einige Zeit. Im Nebel meines Bewusstseins, jedenfalls. Ich hatte gewartet. Verständnisvoll. Genügsam. Doch dann –


Dann hatte ich nichts von ihr gehört und begann, unruhig zu werden. Es war nun schon einige Zeit vergangen, seit ich das Paket abgeschickt hatte, und ich hatte / nichts / gehört. Keine Nachricht hatte mich erreicht, nicht die geringste Reaktion hatte ich erhalten. Es gab dafür keinerlei Erklärung. Und das – 


Das machte etwas mit mir. Ich konnte / nichts / daran / ändern: Es machte etwas mit mir. Wenn ich in mich hineinhorchte, dann war da etwas: diese Rastlosigkeit. Eine Getriebenheit. Eine heiße, stressschweißtreibende, schürfwundenaufkratzende Getriebenheit.






0 Kommentare

コメント


bottom of page