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Bis zum Mittelpunkt


Seine Stimme ist gereizt. Seit Tagen schon. Immer sofort in dieser Frequenz, wie bremsende Züge, ein zermürbendes, ausgedehntes Quietschen. Schon der Vater hat im Keller seine Zeit verbracht. Ist dort runter, am Wochenende nur rauf um zu essen. Was er dort mache, wurde er die ganze Zeit über gefragt. Man hörte es Schnaufen, als wäre dort ein Pferd, unter ihnen. Aber wie sich herausgestellt hat, war es kein Pferd. Daran muss er denken, die Tür schon in der Hand, bereit sie zuzuschlagen. Du verstehst das nicht. Wie sollte ich auch? Er weiß noch, wie sie den Keller nach dem Tod seines Vaters ausgeräumt hatten. Viel kleiner als er ihn in Erinnerung hatte. Da hätte ein Pferd kaum reingepasst. Die Schritte über ihm sind genervt. Seine Frau läuft Kreise in der Küche. Er muss an einen Cartoon denken. Vielleicht läuft sie solange, bis sie einen Graben in den Fliesen zieht und rasch ist die Decke so dünn, dass sie einbricht und auf seinem Kopf landet und er niedergestreckt aus einer länglichen Platzwunde den hellen Teppich vollblutet. Er mag keine Ärzte. Sein Vater hätte einer werden können. Aber der Krieg hatte zu viele Finger gekostet, um behandeln zu können. Du hast doch noch zehn. Na dann frag dich mal, wie viele es vorher waren. Die Schritte bleiben. Sie stampft. Für solche Momente hat sie sich Hausschuhe mit einer besonders harten Sohle gekauft. Damit er sich so fühlt, als würde sie über seinen Schädel laufen und Haare rausrupfen. Sie käme vom Bauernhof, hatte sie ihm gesagt, sie wisse wie man Hühner angeht. Sein Keller ist größer als der Keller von seinem Vater. Aber nicht nur größer, auch ordentlicher. Bei seinem Vater stand alles drin. Eingewecktes Obst, Terpentin, alte Radios, ein kaputter Rasenmäher und ein Regal mit Bettwäsche, für die man keine Verwendung mehr fand. Einmal fand er ein benutztes Kondom hinter einer Werkzeugkiste. Er hatte nicht in Frage gestellt, sondern war angeekelt nach oben gerannt, ohne die gesüßten Kirschen. Was ist los, hatte ihn seine Mutter gefragt und er sagte, er hätte einen Geist gesehen, nicht größer als ein erigierter Penis. Warum er das gesagt hatte, heute denkt er, er wollte seinen Vater eine mitgeben, aber auf der Hälfte des Weges war er zu erschöpft, um die Aussicht genießen zu können. In dreißig Minuten wird sie, kommst du endlich, rufen und dann wird das Mittag fertig sein und sein Sohn wird aus dem Zimmer kommen und sich zu ihnen an den Tisch setzen und erst letztens hatten sie unzählige zerknüllte Taschentücher hinter dem Bett gefunden und wenn er nun sieht, wie sein Sohn das Besteck greift, er möchte gar nicht daran denken, dass ihn sein Vater vielleicht ähnlich betrachtet haben mag.

Er setzt sich in seinen Sessel, legt die Füße auf den Hocker und nimmt Jack London zur Hand. Sein Vater hat nicht gelesen. Nicht die Zeitung, nicht im Wohnzimmer und schon recht nicht einen Klassiker im Keller. Darauf ist er stolz. Ihm voraus zu sein. Einmal, er war zehn Jahre alt, da wurde versäumt die Tür abzusperren und er weiß, wie er nach unten ist, ganz vorsichtig bei jedem Schritt, als wäre das Holz morsch, die Treppe einsturzgefährdet, und wie es kurz dauerte, bis er sich ans Dunkel gewöhnte und dann seinen Vater sah. Ohne Pferd. Zur Verärgerung seiner Frau, hat er selbst in seinen Keller viel investiert. Schscht. Hört du Schnecken, wie sie ihre feuchten Körper durch deine Blutbahnen bewegen? Als würde jemand mit Absicht die falsche Melodie singen. Es ist ihm unverständlich, wie sich sein Vater in diesem modrigen Loch, zwischen dem Staubigen und Abgestandenen gerne aufhalten konnte. War es nicht auch sein Vater, der immer ungewaschen gerochen hat, mit diesem Hauch von Erkältungssalbe an seinem Körper. Selbst bei der Beerdigung kam es aus dem Sarg und ist es jetzt nicht der Friedhof, der wie von ihm einparfümiert nach Eukalyptus und welkem Herbstlaub riecht, dass sich im Bordstein verfangen zersetzt. Erschrocken war der Blick, als er ihn auf der Kellertreppe stehen sah, wie es ihm einleuchtete, den Schlüssel im Schloss nicht umgedreht zu haben, wie ein Moment der Stille zu mehreren Momenten wurde, als würde man ihn verschwinden lassen, in einem tiefen Loch, in das jeder eine Handvoll Erde wirft, bis er nicht mehr zu erkennen ist und Dunkelheit wirklich mal richtig dunkel ist, wo es keine Gewöhnung, sondern nur noch Schuldigkeit gibt.


Sein Vater ist nachts gestorben. Ob sie nicht alle nachts sterben, fragt er sich. Wenn einem niemand dabei zuschaut. Manchmal holt ihn ein Traum ein. Mit maulwurfsklauenähnlichen Händen schaufelt er Erde beiseite, gräbt sich am verrottenden Sarg seines Vaters vorbei, der sich im Gespräch mit einer toten Möwe über die Vergänglichkeit beschwert, immer tiefer hinein, Jules-Verne-tief, bis zum Mittelpunkt und dort, im Inneren, in fast unerträglicher Hitze, kommt er an einer Tür an und er würde gleich die Tür öffnen und dann wäre vor ihm die Kellertreppe aus dem Haus seiner Eltern, gleich am Eingang links die abgewirtschafteten Gartenjacken, darunter schlammverkrustete Gummistiefel, auf der rechten Seite ein Poster von einer Harley Davidson, noch heute fragt er sich, warum dort dieses Bild hing, sein Vater hatte sich nie geäußert, auch nur im Entferntesten an Motorrädern interessiert zu sein oder mal eins bestiegen zu haben, die Stufen, sie würden genauso wie damals nachgeben, und erst nach der sechsten oder siebten Stufe würde er in den Raum schauen können, die Augen zusammengekniffen, nur schwache Konturen sehend, bis sein Vater sich abzeichnet, deutlich wird, wie ein erschrockenes Tier, das in der Falle steckt, mit Metallzacken in der Wade, muss er nun hinnehmen, dass jede Gegenwehr den Schmerz nur immens verstärken würde. Aber er öffnet nie die Tür, sondern verharrt angespannt, bis er geweckt wird. Es gibt keinen Speck für die toten Mäuse. Wann wir das endlich begreifen würden? Es gräbt sich doch auch niemand zum Himmel vor.


Es hätte so vieles sein können. Vielleicht Wind, durch ein kaputtes Rohr zum Schnaufen verurteilt, ein lädierter Heizkörper, erschöpfte Holzbalken, die auf Deckenplatten drücken und merkwürdige Resonanzen verursachen, das ausgepowerte Pferd mit aufgeblähten Nüstern, aber wie sein Vater da in der Ecke hockte, um ihn herum diese Ansammlung von Schrott, Korrosion, in gelierter Flüssigkeit fristenden Früchten, stumpfen Werkzeugen, da ist es auch Mitleid, das ihn kurz ergreift, wenn er es auch so schnell wie möglich in seinen korrigierenden Verdauungsapparat herunterschluckt. Im Leben begegnen einen nicht viele von solchen Situationen, daher ist es auch nicht verwerflich, derart überfordert zu sein, im Angesicht eines in die Jahre gekommenen Mannes, der Kopf krebsrot, die Adern wulstig unter der Haut hervortretend, wie Gasleitungen, die sich durch monochrome Landschaften ziehen, wie er peinlich berührt den Schoß abdeckend sagt, er trainiere für den Tag, an dem die Luft knapp wird. So viele Bäume kann es gar nicht geben, dass genug für alle da ist. Seine Stimme hechelt, dazwischen abgehakte Wörter, Apnoe, Fotosynthese, Stoffumwandlung, Regulierung. Ganz sicher wird er nie wie sein Vater sein wollen. Aber manche Blumen welken auch im frischen Wasser.


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