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Boden ist Lava

VON ANNE BÜTTNER //

„Also falls ihr noch was haben wollt, morgen letzte Gelegenheit“, hatte H. in die Gruppe geschrieben. Übermorgen ist der Umzug. Das erste Mal, dass ich hier bin, ohne, dass du es bist.  


Irgendwas mit deinen Beinen. Weil die wieder so angeschwollen sind. Aber so richtig kriegst du es nicht zusammen. Dir sagt ja niemand was. Nur, dass du liegen sollst. Tagein, tagaus immer nur liegen. Weißt auch nicht, wozu. Dir fehlt ja nichts, außer manchmal ein bisschen die Luft. Aber deswegen gleich wieder so einen Aufriss zu machen, findest du übertrieben. Und ständig nur liegen undenkbar. Wenn du wenigstens schlafen könntest. Wenigstens halb so viel wie deine Zimmernachbarin, die noch doller schnarcht als du, was man, wie du eingestehst, auch erstmal schaffen muss.  


„Mach in Ruhe“, begrüßt mich H. an der Tür. „Wir sind soweit durch und morgen ja auch nochmal hier.“ „Mach ich, danke.“ „Ist schon komisch. Aber trotzdem gut, dass es jetzt doch so schnell geklappt hat.“ Ich nicke. "Geht ja nicht mehr anders." Geht eigentlich schon länger nicht mehr anders, aber bis vor kurzem war das Zimmer noch belebt.  


Viel mitzubringen ist nicht. Das gibt der Platz auch gar nicht her. Aber ein bisschen was dazustellen und sich das individuell gestalten, könne man natürlich, solle man sogar. Kleine Möbelstücke, Bilder, manche hätten auch Fensterbilder, Modellautos, Sammelteller, Setzkasten und was nicht alles, das sei ja ganz verschieden. Frau Bode, deren Zimmer wir zusammen mit der Heimleitung Anfang des Jahres ansahen, um mal einen Eindruck zu bekommen, hatte zum Beispiel Porzellanpuppen mitgebracht. „NE, FRAU BODE, IHRE SCHÖNEN PORZELLANPUPPEN HABEN SIE HIER!“ Dort zu wohnen, irgendwann, konntest du dir vorstellen. Dich so anschreien zu lassen, wie die arme Frau mit ihren Porzellanpuppen, nicht.  


Irgendwann ist also ab übermorgen. Alles, was dann noch hier in der Wohnung ist, nimmt der Entrümpler mit. Im Flur wären das, Stand jetzt, die Garderobe, der Spiegel, die Schuhkommode, daneben der gästepantoffelspendende Filzlatsch, ein Korb für Beutel, Taschen, Regenschirm, Schuhlöffel, das Telefontischchen, die Pinnwand mit Telefonnummern verschiedener Ärzte, einer Erinnerung an deinen nächsten Termin beim Kardiologen (gestern), dem Speiseplan von vorletzter Woche und einem Werbeprospekt vom Reisebüro mit einem Ausrufezeichen am Ausflug „Winterzauber inklusive Gänseessen“, sowie Kupferstiche der Stadt, die dir, den vier jüngeren Geschwistern und eurer Mutter, nach der Vertreibung erst Zuhause und dann Heimat wurde.  „Pack ein. Im Wohnzimmer hängen noch mehr“, ermutigt mich H., „vielleicht kannst du sie  noch verkaufen. Hat L. auch schon überlegt.“ Natürlich. Sehe L. vor mir, wie sie durch die Wohnung stöckelt und geschäftstüchtig Dinge vor ihr Handy hält oder ihr Handy vor Dinge.  Zwischen Pragmatismus und Abgebrühtheit verläuft ein schmaler Grat, von dem sie nichts weiß.  


Im Bad deuten nur der leere Spiegelschrank und die abgeklemmte Waschmaschine mit  „wird abgeholt“ Hinweis auf Umzug hin. Ansonsten wirkt alles, wie so ziemlich immer.  Wäschekorb in der einen, Waschhocker in der anderen Ecke, Fußbadewanne in der Dusche. Über der Heizung dein Miami-Badetuch, das aussieht wie Fototapete aus Frottee, darunter deine Adiletten. Auf der Ablage die Kükensanduhr, vier ungeöffnete Tuben blend-a-med, drei angefangene Kytta-Schmerzsalben, eine Flasche deines Buckelwassers, Nageletui, Wattestäbchenspender, daneben ein Körbchen mit Hornhautraspel, Kamm, Kopfmassagespinne, Einwegrasierer, außerdem Gebissreiniger, Hygrometer und Düfte, die du gar nicht so schnell verbrauchen kannst, wie wieder Weihnachten oder Geburtstag ist und es Nachschub gibt.  


In der Küche sieht es deutlich mehr nach Umzug aus. Auf dem Boden eine mit Schnellkochtopf, Vasen, Tortenplatte, Etagere, Backformen und Tupperdosen gefüllte Klappbox. In einer zweiten die Senseo, Messerblock, Rührgerät und Kaffeemühle. Auf der Anrichte keine Mikrowelle mehr und auch die Brotschneidemaschine ist weg. Obwohl die meisten Schränke und Schubladen geöffnet sind und einige so gut wie leer, fühle ich mich skrupellos beim Blick hinein. Dabei habe ich etliche Male reingeschaut, sie ganz selbstverständlich geöffnet. Habe Besteck entnommen, Geschirr, Gläser, habe dir Sachen rausgereicht, die zu weit oben, unten, hinten standen, habe alles Mögliche darin gesucht, meistens Filtertüten und die Dose mit deinen selbstgemachten Pfefferkuchen, in letzter Zeit häufig deinen Schlüssel, deine Zähne, deine Chipkarte oder das kleine rote Portemonnaie.  


Aus einem Beutel auf dem Stuhl lugen die beiden Brettchen mit der lachenden und der weinenden Zwiebel, die gesichtslose Umrisse an der Wand hinterlassen. Keine Ahnung, wem der Beutel gehört und auch egal. Es geht mir nicht um die Zwiebelbrettchen, nicht um den hängenden Obstkorb, nicht um die Topflappen, nicht um das Gewürzregal. Und auch nicht um die zwei Kaffeetassen mit passenden Tellern, die ich aber trotzdem einpacke, weil es unser Geschirr war, wenn ich mit gedecktem Apfelkuchen, immer musste es der sein, vorbeikam und unser Geschirr sein wird, wenn ich dich mit gedecktem Apfelkuchen in deinem neuen Zuhause besuche. „Gleich hier ein paar Eingänge weiter. An der Ecke, da, wo wir uns immer verabschieden, wenn du mich noch ein paar Meter bringst. Weißt du?“  Manchmal weißt du es, manchmal nicht.  


Dein neues Zuhause sind im Wesentlichen sechzehn linoleumbedeckte Quadratmeter mit bodentiefem Kippfenster, Pflegebett, Pflegenachttisch, Kleiderschrank, kleiner Fernsehkommode inmitten warmgelber Wände, dazu eigenes Pflegebad mit Dusche und Toilette. Bis übermorgen ist Zeit zu entscheiden, was noch mit rüber soll. Was es wert ist, behalten zu werden und von wem, was verkauft, verschenkt, eingemottet oder entrümpelt wird. Zeit zu entscheiden, was dir das ist oder sein könnte, was Frau Bode ihre Porzellanpuppen sind oder sein sollen.  


Auf dem Bett ein paar Sachen, die es, neben all denen, die schon drüben sind, noch in dein neues Zuhause schaffen: dein Fotokissen und dein bequemes, die geblümte Tagesdecke, das Schokoladenmädchen und der Arme Poet, deine Leselupe, der Apothekenkalender mit den Geburtstagen drin, ein XXL-Rätselheft, sämtliche Gedichte Tucholskys in einem Band und die Strickjacke, die du immer mochtest, auch wenn du sie die meiste Zeit nicht zubekommen hast. Spätestens bei den Baumwipfeln war Schluss und der Waldkauz kurz vorm Platzen.  Inzwischen ist sie dir mindestens alle Nummern zu groß. 


„Wie, der Computertisch? Der soll nicht mit? Und ihr Computer? Was ist mit dem?“ Du liebst es, an deinem Computerchen zu sitzen. Ein Emil schreibst du zwar nicht mehr, klickst dich aber oft stundenlang durch deinen Bilderordner, oder, wenn die blöden Gedanken kommen, durch dein Weihnachtsmannspiel. Manövrierst Santa geübt durch verschiedene Welten, steuerst ihn gekonnt über Abgründe und gefährlichen Lavaboden, jedes Mal die Luft anhaltend, wenn du die Leertaste zu spät erwischt hast, und sammelst Level für Level verlorene Geschenke ein, bis die blöden Gedanken weg sind oder alle Leben.  


„Da ist kein Platz mehr drüben. Wenn wir ihren Fernsehsessel mitnehmen, die Stehlampe, den Hocker, den kleinen Esstisch hier und zwei Stühle noch, ist das Zimmer ja schon voll.  Und der Rollator muss ja auch noch irgendwo hin.“ Du kannst also sehr viel sitzen in deinem neuen Zuhause. „Und die haben doch da auch ständig Programm. Wenn sie will, kann sie da jeden Tag was anderes machen. Und wir sind doch auch nicht aus der Welt.  Aber pass mal auf“, sagt H. und ich passe auf, was H. sagt, „sie wird froh sein, wenn sie mal ihre Ruhe hat.“ Hoffentlich.  


Ich weiß nicht, ob ich das heute hier packe. Keine Ahnung, ob ich außer dem Geschirr noch etwas anderes mitnehme. Ob ich stark genug bin für Pragmatismus, es schaffe, noch einen Schrank, eine Schublade, ein Fach, ein Kästchen, eine Schatulle zu öffnen oder auch nur einen Blick in die schon offenen zu werfen. Weiß nur, dass ich dich morgen wieder besuchen werde. Und dass ich, solang ich bei dir, nicht direkt Panik bekomme, sobald jemand in die Gruppe schreibt. 

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