VON PIERRE STOLTENFELDT //
Eigentlich ist es ganz simpel. Zwischen den Rippen ziehen sich, Hau-Ruck, ein paar Muskeln zusammen und das Zwerchfell packt weiter unten mit an. So schaffen sie Platz im Brustkorb, okay? Dadurch erzeugen sie Unterdruck, verstehst du? Unterdruck. Das Prinzip kennst du doch. Denk mal nach, von einem Pömpel für verstopfte Abflussrohre, vielleicht, oder von einem dieser altmodischen Staubsauger mit Haltegriff kennst du das Prinzip doch. Wegen des Unterdrucks füllen die Lungen sich dann mit Luft und dabei dehnen sie sich aus. Einatmen, verstehst du? Anschließend quetschen die Muskeln die Luft einfach wieder heraus, wie Cremereste aus einer Tube. Ausatmen - genau! Danach geht das alles wieder von vorne los. Dabei brauchen die Lungen keine Hilfe, weißt du? Das machen die ja nicht erst seit gestern. Das machten die schon, als wir noch in den Bäumen saßen, Läuse fraßen und einander mit Scheiße bewarfen. Von ganz alleine machen die das. Die hören auch nicht einfach auf damit. Verstehst du das? Ob du das verstehst? Gut. Warum säuselt die Stimme aus deinem Kopfhörer dann immer noch “Einatmen” und “Halten” und “Ausatmen”? Mach dich nicht lächerlich. Du brauchst diese Stimme nicht. Deine Lungen brauchen sie nicht. Du bist ja nicht der Pionier der Lurche, der vor einer viertel Stunde als erster aller Arten aus dem Wasser gekrochen kam. Der musste die Luft noch mit viel Mühe runterschlucken, weißt du? Wenn der das mal vergessen hat: Gute Nacht. Damals waren der Evolution das Zwerchfell und die Rippen noch nicht eingefallen. Jetzt aber schon. Also atme einfach. Atme, Nik. Du kannst das.
In Zimmer 209 des Kranken- und Pflegehauses Maintal liegt das Surren von Elektrizität in der Luft. Ein medizinischer Apparat röchelt und piept und es riecht nach dem sauren Aufstoßen von Desinfektionsmittel. Im Beutel eines Tropfes, auf dem ein Etikett mit dem Namen “Sam<*> Weber” klebt, verringern sich flüssige Schlaf- und Schmerzmittel sekündlich. Du sitzt auf der Bettkante, krumm und erschöpft. Schweiß tränkt dein Hemd von den Achseln bis zum Hüftspeck, in den der Hosenbund ein Rautenmuster stempelt. Deine Augen hast du trocken geheult, du stinkst nach Furcht und Erschöpfung. An den Wänden werfen Kacheln das Licht der Leinwände zurück. Leinwände. Was glaubst du? Hat man den Namen aus demselben Grund behalten, aus dem man auch Liebesbriefe auf Papier oder das zerkaute Plüschtier aus Kindertagen aufbewahrt? Leinwände. Die wurden mal aus Leinen gewebt, wusstest du das? Weißt du noch, wie die sich anfühlten, bevor sie alle aus Kunststoff gemacht wurden? Leinwände. Ist doch komisch, oder? Früher sah man die nicht überall hängen, in öffentlichen und privaten Räumen, drinnen und draußen. Früher war das anders, erinnerst du dich? Früher waren da Glühbirnen, wo sie nun zu Zylindern gerollte Leinwände auf die Masten der Laternen gesetzt haben. Auch in den Fenstern verlassener Wohnungen und in Windschutzscheiben klebten die früher nicht. Weißt du nicht mehr, wie dunkel es einmal war ohne das ständige Flimmern? Weißt du das nicht mehr? Ist vielleicht auch nicht so wichtig, jetzt.
In der Ecke des Krankenzimmers hat man nicht eine, sondern gleich acht Leinwände unter der Decke aufgehängt. Du überschlägst im Kopf die Anschaffungskosten, verrechnest dich drei Mal und denkst dir, dass der Nutzen die Kosten schon rechtfertigen wird. Die Geräte verbrauchen kaum Strom, denkst du, und ohne das Flimmern würden die Patienten nervös werden, denkst du, und das würde die Heilung behindern, denkst du. Die formbaren Folien der Leinwände sind hier wie die Rispen der Weintraube arrangiert und von allen drei Betten im Zimmer einsehbar. Da nur ein Bett belegt ist, sind die meisten gerade ausgeschaltet und beinahe durchsichtig. Einzig ein rotes Leuchten im Kunststoff signalisiert ihre Bereitschaft. Zwei der größten Leinwände jedoch schlafen nicht. Die eine zeigt dir Gischt auf weißem Sand, Abendrot und Delfine im Wasser. Sie überträgt auch ihren Ton in deinen Kopfhörer: “Einatmen”, “Halten”, “Ausatmen”. Eine zweite zeigt Konsumvorschläge. Delila hat Güter ausgewählt, die du gebrauchen und bezahlen könntest: Strahlende Zähne beißen in einen Hamburger aus Algenprotein, balgende Kinder treten einen Welpen wie einen Fußball, Chrom glänzt staubfrei auf einem Massageroboter. Die Tonübertragung brauchst du hier schon lange nicht mehr. Dann und wann bewegst du die Lippen lautlos zu den Bildern und sprichst einen der Slogans auswendig mit. “Wauzi Wuff - der beste Freund des Menschen”, formen deine Lippen zum Beispiel. “Jetzt mit 72 Stunden Akkulaufzeit.”
Eine der kleineren Leinwände flimmert ebenfalls. Sie zeigt wieder und wieder dasselbe verwackelte Video. Ein Sondereinsatzkommando der Metropolpolizei stürmt gepanzert und bewaffnet in eine Elementarschule. Man sieht das Geschehen durch die engen Maschen des elektrischen Drahtzauns, der das Schulgelände vor Eindringlingen beschützen soll. Am Himmel kreisen Helikopter, im Erdgeschoss des Gebäudes zerplatzt ein Panoramafenster, auf dessen Scheibe die Kinder mit Farbe ihre Handabdrücke gepresst haben. Die winzigen Finger regnen als grüne, blaue und gelbe Scherben auf den Kunstrasen im Hof. Das Video ist nur vierzig Sekunden lang und die Kamera bebt in ungeübten Händen. Jemand hat den Vorfall durch Zufall beobachtet, im Streben nach Ruhm aufgezeichnet und ins Netz geladen, obwohl dafür ein hohes Bußgeld fällig wird. Obwohl jeder weiß, dass sowas die Ermittlungen behindert. Obwohl Fin Kreuzer von der Metropolpolizei dir videotelefonisch versprochen hat, die Medien würden euch bis zum Wochenende in Ruhe lassen. Nun summt es schon wieder an deinem Handgelenk und wieder leuchtet auf der Leinwand, die du dort wie einen Armreif trägst, eine fremde Rufnummer auf. “Delila, Nummer blockieren”, keuchst du, und der Kunststoff an deinem Arm wird wieder durchsichtig. Wieder überholt dein Atem die Ansage in deinen Ohren, wieder hörst du deinen Herzschlag trommeln. “Einatmen”. “Halten”. Und “Ausatmen”, erinnert dich die Säuselstimme. Es dauert diesmal Minuten, bis dir das Gehorchen gelingt.
Hinter der Krümmung deines Rückens wimmert im Schlaf nun das Kind. Du drehst den Hals zu hastig und ein heißer Schmerz glüht zur Strafe in deinen steifen Wirbeln. Das Kind hat im Fieber seine Decke aus dem Bett getreten. Das hast du bei deinen Atemübungen überhaupt nicht mitbekommen, nicht wahr? Nun flattern seine Lider im Flimmerlicht der Leinwände und der Mund murmelt Silben ohne Verwandtschaft. Trocken bröselt ihm dabei die Haut von den Lippen. Dem Kind hat der Schweiß die Salbe von den Schrammen gewaschen und wo eine Kugel ihm die Haut vom Fleisch gerissen hat, breitet sich rosarot Wundwasser auf dem Verband aus. ”Delila, Video 3 beenden”, sagst du der Leinwand an deinem Handgelenk und es wird augenblicklich dunkler im Zimmer. “Dan!”, wird das Träumen des Kindes da plötzlich zu Sprache. “Nein. Dan!”, wird da die Sprache plötzlich zu einem Brüllen. “Dan, Dan, Dan!”, brüllt sich das Kind jetzt im Schlaf die Stimme kaputt, wie die Kugeln ihm das Fleisch kaputt gebrüllt haben. Seine Finger greifen etwas im Traum, sie verkrampfen und wühlen sich spitz durch das Laken an der Auflage aus Naturgummi vorbei, zerren Brocken von Schaumstoff aus der Matratze heraus. Das Kind schreit und es tritt, bis das Bettgestell klappert, und reißt sich beinahe die Kanüle mit dem Schlafmittel aus dem Arm.
Was tust nun du, vom Wackeln einmal abgesehen? Was tust du gegen das Rasen und die Angst? Wirklich nichts? Dein Körper wird hart wie die Wirbel in deinem Nacken, alles an dir wird noch krummer und kleiner, allein die Augen bleiben beweglich. Sie pressen die letzten Reste von Flüssigkeit aus ihren Säcken und schwimmen darauf davon. Unter der Tür entdecken sie das Licht der Leinwände im Flur einen Spalt breit blau flimmern. Sie finden den Streifen wie einen Schimmer Hoffnung am Horizont. Du weißt, dass eine dieser Leinwände da draußen den Herzrhythmus des Kindes anzeigt, den Sauerstoffgehalt in seinem Blut, seine Atemfrequenz. Jemand wird auf die Leinwand schauen und kommen, vielleicht wird Delila auch jemanden rufen. Doch niemand öffnet die Tür und auch das Flimmern verrät dir nicht, wie ausgerechnet du einem neunjährigen Kind helfen kannst, auf das man mit einem Maschinengewehr geschossen hat. Ob du ihm einfach die Stirn küssen oder seine harte Hand weich streicheln kannst, ein feuchtes Tuch oder eine Ärztin holen musst, ob du ein Videotutorial anschauen oder ihm einfach deinen Kopfhörer ins Ohr stecken sollst - du weißt es einfach nicht. Darum glotzt du bloß heulend in das Flimmern und atmest ein und hältst die Luft in den Lungen und atmest aus, bis das Kind von ganz alleine nicht mehr brüllt. "Einatmen", sagt Delila in deinem Ohr, "Halten", sagt sie und: "Ausatmen". Du wischst mit dem Ärmel den Rotz von deinem Mund und drehst dich langsam zu dem Kind. Sein Gesicht ist noch immer ganz Faust, der Körper liegt verbogen, doch ruhig. Mit dem Daumen und dem Zeigefinger nimmst du eine der feuchten Strähnen so vorsichtig von seiner Stirn, wie du einen Fussel vom Mantel eines Unbekannten nehmen würdest. “Es tut mir leid, dass ich nicht bei dir war”, sagst du und meinst nicht bloß den Morgen. “Es tut mir so leid.”
><
Manchmal, wenn der Krampf deiner Augen sich löst und sie erschöpft in die Dunkelheit ihrer Höhlen rollen, schauen sie darin die Vergangenheit an. In manchen Nächten halten die Mantras und Tabletten, das Flimmern und Delilas Säuselstimmen sie nicht davon ab. Im Schlaf finden deine Augen Diskolicht und Tortenschlachten, die ersten Schritte des Kindes und Schwimmen ohne Schwimmflügel, seltener noch das Gesicht seiner Mutter. Tin. Häufig haben die Augen Mühe, alle ihre Einzelteile in der Finsternis zu finden. Ihren Namen aber buchstabieren sie immer noch richtig. Tin. “Sollen wir es nicht noch einmal ohne versuchen?”, fragte sie in einer Nacht, als eure Körper im purpurnen Widerschein eines Sexfilms flimmerten. Tin saß hinter dir, ihre Brüste lagen weich auf der Krümmung deiner Wirbelsäule und ihre nackten Arme und Beine umschlangen deinen Torso. “Sollen wir es nicht noch einmal ohne versuchen?” Ihre Frage war warmer Atem in deinem Nacken. “Warum nicht?”, sagtest du und dein Penis blieb schlaff auf deinem Schenkel liegen. “Heute?”, setzte Tin nach. “Nicht heute”, sagtest du, entkamst der Umarmung und nahmst den Helm vom Nachtschrank herab. ”Ein anderes Mal. Versprochen.” Du stülptest den engen Schaumstoff über deine Schläfen und klapptest die Leinwand vor deine Augen. Treu und gefolgsam erhob sich der Schwellkörper. “Dann ein anderes Mal”, sagte Tin leise, legte sich auf der Matratze zurück und schob ein Kissen unter ihr Becken.
So kam es, dass Tin die Mutter deines Kindes wurde, während Delila ihren Körper und ihr Gesicht durch Versatzstücke anderer ersetzte. Die Täuschung war beinahe vollkommen. Deine Hand berührte Tin, dein Schweiß tropfte auf Tins Brüste herunter, dein Glied steckte zwischen Tins Schenkeln. Doch zeigte Delila deine Hand auf fremden Wangen, deinen Schweiß auf fremden Brüsten, dein Glied zwischen dem synthetischen Rosa fremder Schamlippen. Einzig an den Kanten, wo das Fremde endete und das Bekannte begann, erahnte man den Schwindel. Einen feinen Streifen Licht, wie eine unsauber geschlossene Naht, konnte ein geübtes Auge dort bemerken. Deine Augen aber waren anders beschäftigt. Bevor deine Samen- und Tins Eizelle verschmolzen, schmolz zuerst ihr Gesicht, wurde sie schöner und berühmter. Als dein Glied trotzdem wieder erschlaffen wollte, formte Delila sie vor deinen Augen maskuliner, femininer, kindlicher, viel, viel älter, außerirdischer und zu vollkommen grotesken Gestalten. Das hätte dich wundern müssen, denn bei den letzten Malen hatte es genügt, wenn der Helm Tins Kopf durch den einer Schauspielerin ersetzte. Nun aber zuckte dein Glied erst, als ihr Brustwarzen aus den Pupillen und der graue Phallus einer Ziege aus dem Mund wuchsen, und er zuckte erneut, als ihre Brüste sich zu den Köpfen von Zwillingen verformten, die einander Urin in den Mund spuckten. Tin entstand für deine Augen immer neu und immer wieder und immer grenzenloser, bis dein Penis sich endlich entleert aus ihr und dein Schädel sich ebenso leer aus dem Helm zurückzog.
“Vielleicht würde es helfen, wenn du ihn auch wieder aufsetzt?”, sagtest du nach langem Schweigen. Ihr lagt nackt nebeneinander, zwischen euch trockneten Körpersäfte auf Papiertaschentüchern. Langsam kam dir die Scham aus dem Magen in die Kehle gekrochen. “Dachte, du findest das auch spaßig."
“Ja, zwischendurch mal zur Abwechslung, aber doch nicht immer”, sagte sie und fischte ihren Slip mit den Zehen vom Bettrahmen.
"Ich dachte, dir gefällt, was Delila für dich auswählt".
“Ich will aber nicht, dass Delila auswählt!", sagte sie und alle Leinwände im Zimmer erloschen. Seit Jahren war es nirgendwo mehr so dunkel gewesen.
“Was war das jetzt?”, fragte sie in der Finsternis. “Du hast ‘Delila, Aus’ gesagt”. Dein Grinsen konnte sie in der Dunkelheit nicht sehen. Ob das Beben auf ihrer Seite der Matratze ein Lachen oder ein tiefes Schluchzen zur Ursache hatte, war auch für deine Augen unsichtbar. Rote Punkte glühten wie unerreichbare Sterne unter der Decke, ein einziger glühte hell auf dem Nachtschrank. Ohne das Flimmern war die Realität bloß Finsternis.
"Ich kann selbst auswählen, weißt du?", sprach sie endlich, als die Matratze wieder ruhig lag. "Ich scheiße auf Delila. Ich wähle selbst. Ich. Meine Entscheidung. Das ist ein Geschenk, Nik. Ich begreife nicht, wieso du dir das wegnehmen lässt.”
><
Als du hart und verdreht zwischen zwei Stühlen erwachst, fällt Tageslicht grau durch das Fenster. Das Bett, in dem das Kind gelegen hat, ist leer. Jemand hat die zerstörte Matratze geholt und das zerstörte Kind mitgenommen. Der Lattenrost liegt verlassen und nackt auf dem Metallgestell. Eine der Leinwände zeigt kurze Animationsfilme für Kinder. Ein Känguru leert einen Benzinkanister über einem schnarchenden Dingo und kramt in seinem Beutel nach Zündhölzern. Eine weitere Leinwand zeigt Nachrichten in Text und Bild. Hastig überfliegst du die Schlagzeilen und atmest auf, als keine davon ein Schulattentat meldet und auch das verwackelte Video nicht wieder auftaucht. Fin Kreuzer scheint sein Versprechen zu halten. Eine dritte Leinwand präsentiert Delilas Auswahl von Mantren und beliebten Kurzvideos für den Tag. Du hängst dich über die Armlehne und tastest am Boden nach deinem Kopfhörer, der dir in der Nacht aus dem Ohr gerutscht sein muss. Du betest, dass der Wischroboter noch nicht da war, sonst wird Delila schon wieder einen neuen Stecker bestellen müssen. Schließlich werden deine Fingerspitzen fündig. Du pustest ein Haar von deinem Kopfhörer und stöpselst ihn wieder ins Ohr.
Delila hat heute eine kräftige Frauenstimme. "Guten Morgen, Nik", grüßt sie. "Wie geht es dir heute?" Auf deinem Handgelenk wählt dein Finger den roten Smiley aus. "Deine Wunden werden nicht heilen, wenn du nicht zugibst, verletzt zu sein", rät Delila. "Delila, zeig mir Bestärkungen”. Sofort fährt ein neuer Text über die flimmernde Leinwand. "Du bist robust. Du bist fähig. Du bist geliebt", liest die Frauenstimme vor. In dem Animationsfilm hebelt inzwischen ein Biber einem Bären das Auge mit einem Zahnstocher aus der Höhle und schmückt damit ein Cocktailglas. "Du bist schön. Du bist geliebt", fährt Delila in deinem Ohr fort. “Du bist genug.” Du schiebst dein Nachtlager aus Stühlen mit der Schuhsohle auseinander und stehst auf. Dein Körper knarzt wie morsches Holz und du ächzt, als du deine Glieder von dir streckst. Auf der Leinwand lässt eine Gruppe gehässiger Gänse Napalm über einem Fuchsbau fallen.
Die Tür, die gegenüber des Fensters zur Nasszelle führt, steht offen. Du hörst dahinter eine Stimme, die Ruhe und Gelassenheit ausstrahlt. Vom Türrahmen aus siehst du das Kind nackt und gewaschen auf mintgrünen Kacheln stehen. Das bunte Flackerlicht der Leinwand kann nicht verbergen, dass es an Stellen blau, grün und rot ist, an denen Kinder im schlimmsten Fall dreckig sein sollten. Es starrt ausdruckslos auf eine Leinwand über dem Waschbecken, auf der gerade lichterloh brennende Füchse aus einem Erdloch türmen. Eine Pflegekraft kniet am Boden neben dem Kind und versteckt routiniert eine gesalbte Wunde unter Bandagenlagen. Die Pflegekraft sieht harmlos aus, trägt wenig Schminke und auf dem Kopf leiert ein riesiger Haarknoten eine medizinische Netzhaube aus. Nun verklebt sie das Ende des Verbands mit einer Sprühflasche. “Delila, Aufgabe erledigt”, sagt sie ruhig in ihr Handgelenk. Auf einer zweiten Leinwand in der gekachelten Zimmerecke können die Krankenakte des Kindes und eine Liste mit Aufgaben nachgelesen werden. Der Eintrag “Bandagen erneuern” verschwindet und eine neue Aufgabe rückt auf: “Vater über Anruf Fin Kreuzer (Metropolpolizei) informieren”.
An deinem Handgelenk summt es und Delila meldet schriftlich "Stef<an> / m / du”. In deinem Ohr klärt ihre Stimme die Aussprache: “Sch-teff”. “Guten Morgen, Stef”, sagst du zu der Pflegekraft, “Hey, Sammy”, sagst du zu dem Kind. Es starrt weiter teilnahmslos auf die Füchse, die sich gerade das verkohlte Fell von den Knochen reißen. Stef hingegen schaut von seinem Verband auf und lächelt. “Guten Morgen -”. Er wirft einen routinierten Blick auf seinen Armreif und sein Lächeln sinkt in den Winkeln ein Stückchen herunter. “Ach, stimmt ja!”, sagst du. Du schämst dich für dein Versäumnis. Natürlich wird in öffentlichen Einrichtungen erwartet, beim Betreten den internen Zugriff auf Anrededaten zu genehmigen. Delila hat die Freigabe gestern bei deiner Ankunft vorgeschlagen, doch warst du zu aufgelöst, um dich auch noch darum zu kümmern. Was soll’s. Dann eben nochmal so wie früher, was? “Nikolas Weber”, holst du dein Versäumnis nach und bietest Stef eine Hand an, die er aus Gründen der Sterilität nicht berühren wird. “Quatsch. Verzeihung. Nik. Nik reicht völlig. Männlich”, überholst du dich selbst.
Stef wartet geduldig. "Achso. Du. Du ist in Ordnung". Du ziehst die Hand wieder zurück und wischst den Schweiß an deiner Hose ab.
“Wie geht es dir, Nik?”, will Stef wissen und weil du die Frage diesmal nicht mit einem traurigen Smiley beantworten kannst, guckst du an ihm vorbei auf das Kind, das bloß da steht und starrt. Du zuckst mit den Schultern. “Hat Sammy mit dir gesprochen?”, fragst du. Stef schüttelt den Kopf. “Nein. Mit der Metropolpolizei vorhin auch nicht. Posttraumatischer Mutismus ist nicht unüb- Entschuldige, blödes Medizindeutsch. Will heißen: Es kommt vor, dass es jemandem die Sprache verschlägt, wenn so etwas Furchtbares passiert. Ich hoffe, dass eine psychiatrische Fachkraft-” “Was ist mit den anderen Kindern?”, unterbrichst du ihn und Stef gibt dir ein Handzeichen, das du nicht deuten kannst. “Ich bin gleich wieder bei dir, Sam”, sagt er sanft, nimmt einen Morgenmantel aus Frottee von einem Haken neben der Tür und legt ihn über die Schultern des Kindes. Dann verlässt er mit dir den Nassraum und zieht die Tür mit dem Ellenbogen hinter sich zu. “Die meisten waren tot, als unsere Einsatzkräfte an der Schule eingetroffen sind. Außer Sam haben wir drei Kinder hergeholt. Leider hat keines die Nacht auf der Intensivstation überstanden”, sagt er leise. “Die Kleinen waren völlig zerfetzt. Ein Schulattentat, mein Gott. Man kommt sich vor wie zur Jahrtausendwende. Es ist ein Riesenglück, dass Sam da lebend rausgekommen ist.”
><
"Hallo?" Orangefarbene Fahnen hingen schlapp von Regalkanten. Zwischen den starren Falten in ihrem Stoff grinsten Biber in Arbeitskleidung auf dich herab. Noch höher über deinem Kopf fielen dicke Balken von Tageslicht durch Oberlichter. Staubflocken schneiten träge herab und trockneten auf dem Schleim deiner Atemwege fest. "Hallo?" Ein Hilfsroboter mit ausfahrbarem Greifarm erschrak und rollte hinter ein Lagerregal. Dahinter schepperte es und irgendetwas Schweres fiel zu Boden. "Ich schwöre, ich mache abstrakte Kunst aus dir, wenn du nicht aufpasst!", schimpfte jemand und der Roboter trillerte hysterisch. Eine junge Person, dem Anschein nach weiblich, trat in den Flur zwischen den Regalen. Sie hielt eine Bohrmaschine in der Hand. Am Handgelenk darunter konntest du keinen Armreif entdecken. Du merktest einen Schauer in deinem Magen, als du einen Augenblick zu lange auf die nackte Stelle schautest. "Entschuldigung", sagtest du. "Ich bin gerade nebenan eingezogen. Ich benötige handwerkliche Hilfe bei der Renovierung." Die Person mit der Bohrmaschine starrte dich groß an. "Sieht das hier für dich nach einem Dienstleistungsparadies aus? Wir verkaufen hier nix. Sag dem Ding an deinem Arm, was du brauchst, den Rest regeln die Postdrohnen. Handwerkliches Fachpersonal kostet extra. Bei Fragen rufst du in unserem Servicezentrum an." Du musstest grinsen. "Wie gesagt: Ich wohne hier gleich nebenan. Dachte, ich komme einfach mal rein. Also soll ich jetzt wieder rausgehen und von draußen hier anrufen?"
"Ja", sagte die Person mit der Bohrmaschine und dem nackten Handgelenk und musterte dich von Kopf bis Fuß. An deinem Grinsen blieb ihr Blick lange kleben. "Obwohl. Was brauchst du denn? Mach das doch selbst, da kannst du richtig Schotter sparen."
“Da hab ich zu viel Angst, mich aus Versehen umzubringen.”
“Unsinn!” Die Person kramte in der Bauchtasche ihres Overalls, friemelte an etwas herum und es schnurrte an deinem Handgelenk. “Kaiserin von China / w / Ihr, Euch” zeigte Delila an und dein Grinsen wurde ein Lachen. “Ich bin übrigens Tina, falls du danach gerade suchst”, sagte die Kaiserin von China, als sie einen transparenten Armreif aus ihrer Bauchtasche zog und Sägespäne vom Kunststoff pustete. “Kannst Tin sagen.”
“Ich bin Nik”, sagtest du. “Freut mich, Nik”, erwiderte sie, drückte sich den Bohrer auf das Herz und betätigte den Schaltknopf.
“Scheiße, bist du ir-”, riefst du aus, aber die Maschine durchlöcherte nicht ihre Brust. Sie gab bloß ein Störsignal von sich und zog den Bohrer in sein Inneres ein. Jetzt grinste Tin.
“Es ist so gut wie unmöglich, sich versehentlich das Licht auszuknipsen, Nik”, sagte sie. “Für den Fall, dass du hinterm Mond lebst, erklär ich’s dir gerne im Schnelldurchlauf. Abflussgranulat, Rattengift und Schneckenkorn werden seit ein paar Jahren mit Brechmittel versetzt, falls die mal einer mit den Cornflakes verwechselt. Früher gab es Einkaufstüten aus Plastik, heute ist sowas undenkbar. Die verpesten nämlich nicht nur die Umwelt. Damals hat die sich ab und an auch mal jemand über den Kopf gezogen, wenn er Langeweile hatte, weißt du? Außer in der Armee oder bei der Polizei hat niemand mehr Zugang zu Schusswaffen, die ohne Fingerabdruck-Scan oder Gesichtserkennung benutzt werden könnten. Fenster, aus denen man in den Tod stürzen könnte, lassen sich nicht mehr öffnen, Dächer und Brücken sind mehrfach gesichert. Selbst Küchenmesser verbinden sich inzwischen aus Sicherheitsgründen mit dem Netz. Wusstest du das? Küchenmesser. In Psychiatrien haben sie die Teile schon im Einsatz. Da wird die Klinge stumpf, wenn dein Armreif bemerkt, dass du sie auf den eigenen Körper richtest. Ach, und natürlich überwacht das Teil an deinem Handgelenk auch deine Schlaf- und Essgewohnheiten und schlägt sofort bei der Krankenkasse Alarm, wenn es eine Depression wittert. Glaubst du wirklich, da kannst du dich aus Versehen ausgerechnet mit einer Haushaltsbohrmaschine umlegen? Nicht einmal, wenn du wolltest, Nik. Glaub mir, die geben sich echt Mühe, dass finanziell flüssige Leute wie du und ich ihnen nicht hops gehen.”
“So dick hab ich’s jetzt auch nicht”, sagtest du.
“Du wohnst mitten im Speckgürtel”, sagte sie. “Höchstes Durchschnittseinkommen und niedrigste Rate von sogenannten selbstverschuldeten Unfällen in der Bundesrepublik. Guck mal nach Gelsenkirchen oder nach Dessau. Da hörst du ganz andere Geschichten. Offene Pulsadern, ein Familienvater, der sich mit einem Schnürsenkel am Dachbalken aufhängt, ein Toaster in der Badewanne. Solche Sachen, andauernd. In mehr als der Hälfte der Billigwohnklötze in Duisburg kann man auch im zehnten Stock noch problemlos die Fenster aufreißen. Kein Witz. Da gab's unabhängige Studien, kann man alles nachlesen.”
“Du bist ja richtig tief drin im Thema."
“Ich mach mir über sowas Gedanken”, sagte Tin. “Das sind doch alles strahlende Beweise dafür, wie wir als Gesellschaft ticken.” In ihren Augen funkelte eine Freiheit, die dir wahnsinnig aufregend vorkam. “Da geht's nicht um Menschen. Das einzige, was da wirklich zählt, ist die der Erhalt unserer Kaufkraft.” Sie hielt den Armreif vor sich und richtete die Maschine darauf. Als sie den Schalter betätigte, gab der Apparat wieder das Störsignal von sich und zog den Bohrer in sein Inneres. “Und der Erhalt unserer Götter.”
><
Von den hohen Sichtbetonklötzen des Kranken- und Pflegehauses versteckt, erstreckt sich eingezäunt und videoüberwacht eine zugehörige Parkanlage mit Minigolfplatz, Freiluft-Spielcasino und See, auf dem man im Sommer Tretboot und im Winter Schlittschuh fahren kann. Bei gutem Wetter lohnt sich die Fernrohrfunktion der Leinwände, denn am Horizont kann man an solchen Tagen die beeindruckenden Turmbauten des Bankenviertels erspähen. Aus Lautsprechern, die man zwischen den Leinwänden verbirgt, tönen rund um die Uhr klassische Musik und Vogelgesänge. “Gerade die Alten, die man zum Sterben herbringt, profitieren von den attraktiven Freizeitangeboten. Die Angehörigen dürfen die nämlich kostenlos nutzen”, sagt Stef, doch du hörst ihm nicht richtig zu. Du hast eine Sitzbank gefunden und endlich eine Gelegenheit, deine Benachrichtigungen abzurufen. Stef nimmt das Kind an der Hand, dessen Kleidung man vom Blut bereinigt und an den Einschusslöchern gestopft hat. “Freedom” steht in bunten Buchstaben auf seinem grünen Pullover. “Komm, ich zeig dir die Enten. Die sehen aus wie echte!”, sagt er sanft und zieht das Kind hinter sich her zum See.
Delila setzt dich in Kenntnis, dass du in der Nacht neun Anrufe von unbekannten Rufnummern verpasst hast. Außerdem hat deine Schwester eine Videobotschaft hinterlassen. Du bist erl