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Der Gelieferte – Ein Leben in dreizehn Verspätungen

VON LEO LEMKE //



Erste Verspätung // 12 Stunden // Kreißsaal

Zwischen zwei schweißnassen, fetten Schenkeln sitzt Frau Doktor Prasad und starrt in ein ihr bekanntes Gesicht. Das Baby, dessen Kopf vor ihr aus der Vagina baumelt, erinnert sie an ihren Postboten. Und ihren Essenslieferanten auch. Muss an dem Muttermal unterm linken Auge liegen, denkt sie sich. Sie tut es als einen Zufall ab und fährt mit der Entbindung fort. Die Blage hat einen halben Tag auf sich warten lassen. Nicht nur die Mutter, Vera Rosenthal, ist erleichtert, als es endlich vorbei ist.

Eben noch von Geschrei zerfetzt, ist die Atmosphäre im Kreißsaal nun ausgesprochen friedlich. Ein Putzroboter saugt Körperflüssigkeiten vom Boden auf und spielt dabei das wohltemperierte Klavier. Die ersten Sonnenstrahlen des Tages fallen auf Mutter und Sohn im Krankenbett. Mit einer Fluppe im Mund lädt Frau Doktor Prasad eine DNA-Probe in die Datenbank hoch.

Während der Ladebalken langsam von links nach rechts kriecht, betrachtet sie die aufwachende Stadt durch das halb geöffnete Fenster. Die Skyline aus aberwitzig hohen Wolkenkratzern hebt sich wie ein mit Leucht- und Hologrammreklame durchsetzter Scherenschnitt vor der aufgehenden Sonne ab. Vornehmlich Banken, Versicherungen, IT-Unternehmen, doch letztendlich ist es das Lieferello-Verteilerzentrum dieses Bezirks, das alle Blicke auf sich zieht. Bedrohlich orange erigiert es gen Himmel und ejakuliert selbst zu dieser Uhrzeit im Sekundentakt Fahrradkuriere auf die Straßen. Sie muss wieder an das Muttermal denken, als ein lautes Piepen sie zurück zum Computer ruft.

Anstelle eines DNA-Berichts prangt das Wort „Vertraulich“ in orangen Großbuchstaben auf dem Bildschirm. Es ist also kein Zufall. Prasad wirft einen Blick auf Vera Rosenthal, dann auf das Verteilerzentrum und fürchtet das, was kommen wird.

Zwanzig Minuten später steht ein Mann in einem orangen Anzug mit seiner Assistentin im Zimmer.

„Ich verstehe das nicht“, sagt Vera Rosenthal mit zitternder Stimme. „Sie nehmen mir meinen Nils weg?“

Der Mann im Anzug lächelt schief. „Das ist faktisch inkorrekt. Das ist nicht Ihr Kind, Frau Rosenthal. Das war es auch nie. Individuen mit dem DNA-Strang des Typs KYS-762 sind laut Patentrecht Eigentum der Takeaway Federal Corporation. Wir nehmen uns, was uns sowieso schon gehört.“

Frau Rosenthal stammelt etwas vor sich hin, schaut hilfesuchend zu Frau Doktor Prasad, doch die betrachtet nur den Rauchfaden über der Zigarette, die sie aus dem Fenster hält.

Die Absätze der Lackschuhe des Mannes klackern, als er langsam aber bestimmt auf das Bett zugeht. „Frau Rosenthal, ich muss Sie nun darum bitten, mir das Kind zu übergeben.“ Er streckt die Hände aus wie ein Bettler. Seine Haut ist von fast gespenstischer Glätte. Seine Nägel frisch manikürt. Frau Rosenthal umklammert ihren Sohn fester.

„Nein“, sagt sie. „Sie bekommen ihn nicht.“ Der Mann seufzt. „Frau Rosenthal, was denken Sie denn, wie wir uns gerade fühlen, hm? Sie sitzen da mit unserem Eigentum, mit Firmeneigentum, und wollen uns ein schlechtes Gewissen machen, weil wir es uns zurückholen. Finden Sie das nicht etwas unfair?“

„Sie bekommen ihn nicht.“

„Wir werden Sie wegen Diebstahls verklagen. Wollen Sie das?“

„Ist mir egal.“

Der Mann lacht und lässt den Blick einmal durch den Raum schweifen, um dann wieder Frau Rosenthal anzuschauen und sich ganz nah zu ihr zu beugen. Sein Atem streicht heiß über ihre halb entblößte Brust. Nur Mutter und Kind können hören, was er flüstert.

„Machen Sie sich nicht vor, Sie hätten eine Wahl. Wir wissen, wo Sie wohnen. Wir haben die Kontrolle über Ihr Essen. Jeden Tag steht einer unserer Männer in Ihrer Haustür. Geben Sie uns jetzt das Kind und wir können Unschönes vermeiden, ja?“

Seine Hände drängen zwischen Mutter und Kind. Keine Gegenwehr. Er hält Nils mit beiden Armen von sich gestreckt wie einen Müllsack und übergibt ihn eilig seiner Assistentin. Beim Verlassen des Saals dreht er sich noch einmal um, richtet sich beim Sprechen die Krawatte.

„Wir erlassen Ihnen die Lieferpauschale auf Lebenszeit. Und das Chop Suey, das Sie so gerne essen, geht von jetzt an aufs Haus. Na, wie klingt das, Frau Rosenthal?“

Die starrt nur leer auf Nils in den Armen der Fremden.

„Was wird jetzt aus ihm?“

Der Mann macht ein verdutztes Gesicht. „Ist das nicht offensichtlich? Er wird Lieferbote.“

Und als Vera Rosenthal das hört, beginnt sie mit einem Mal zu schreien, als hätte man ihr soeben ihr Kind gestohlen.

Zweite Verspätung // Drei Minuten // Sporthalle

Deckenprojektoren werfen große orange Hologramme auf die Wände der Sporthalle: das Logo der Lieferello Corp., ein Hirsch mit Besteck im Geweih. Götterbote Adurag wacht über seine Schützlinge. Vor einem Hindernisparcours aus Bänken, Böcken, Recks und anderen Sportgeräten geht ein Mann in oranger Uniform drei Reihen strammstehender Kinder ab. Jedes von ihnen trägt einen großen Würfel auf dem Rücken und ist Nils wie aus dem Gesicht geschnitten. Hohe Wangenknochen, schmale Lippen, Muttermal unterm linken Auge. Als die Eingangstür quietscht und Nils verschwitzt und nach Luft schnappend in die Halle stolpert, ist es fast so, als blicke er in ein Spiegelkabinett.

„N-17-S, der Unterricht hat vor drei Minuten begonnen. Haben Sie eine Entschuldigung vorzuweisen?“, fragt der Sportlehrer zwischen den Reihen. Nils braucht ein wenig, bis er wieder zu Atem kommt.

„Ich bitte vielmals um Entschuldigung, Sir!“

„Wissen Sie, was Sie das kostet?“

„Drei Wochen meiner Mindesthaltbarkeit, Sir!“

„Und das nehmen Sie auf die leichte Schulter?“

„Nein, Sir. Zeit ist unser höchstes Gut!“

Der Lehrer mustert Nils mit zusammengekniffenen Augen.

„Wenn Sie sich so einsichtig zeigen, will ich Ihnen eine Chance geben, die Zeit wieder wettzumachen. Laufen Sie den Parcours in unter drei Minuten und wir vergessen Ihre Verspätung. Meinen Sie, Sie schaffen das?“

„Ich werde mein Bestes geben, Sir!“

„Dann kommen Sie her, N-17-S. Ich gebe Ihnen Ihre Lieferung.“

Der Lehrer fasst Nils an den Schultern und dreht ihn seinen Brüdern entgegen. 8-UN-6 schaut gleichzeitig kämpferisch und mitleidig zu ihm. Nils spürt, wie der Deckel seines Würfels abgezogen wird, hört das Kratzen des Klettverschlusses, dann schwere Schritte, die sich dorthin entfernen, wo er eben einen Berg Medizinbälle gesehen hat. Insgesamt viermal hört Nils die Schritte gehen und wiederkommen. Als der letzte Medizinball in seinem Würfel landet, kann der Achtjährige sich gerade noch so auf den Beinen halten. Mit zittrigen Knien dreht er sich dem Parcours entgegen.

„N-17-S, denken Sie noch immer, dass Sie das schaffen werden?“

„Ich werde“, ächzt Nils, „mein Bestes geben.“

„Genau das will ich hören! Was sind Sie?“

„Ein Lieferbote!“

„Und was wurden Sie?“

„Geschaffen, um zu liefern!“

Die Kinder in den Reihen wiederholen das Credo unisono. Nur der Mund von 8-UN-6 bewegt sich nicht.

„Geschaffen, um zu liefern! Geschaffen, um zu liefern!“

„Was ist, 8-UN-6? Wollen Sie direkt hinterher?“

„Mit Vergnügen, Sir!“, ruft der kleine Lieferbote und stellt sich zu Nils an die Startbahn. Die beiden Jungs grinsen einander an. Vom Chor ihrer Brüder zu unmöglichen Leistungen angestachelt, wanken sie schnaubend auf das erste Hindernis zu.

Dritte Verspätung // Anderthalb Zeilen // Kapelle

Durch die orange getönten Fenster strömt warmes Licht in die Kapelle, ergießt sich über einigen Dutzend gesenkten identischen Häuptern. Vorne in der Kanzel beendet der Pfarrer seine Predigt.

„Darum ist es an euch, die ihr unter eurem linken Auge von Adurag gezeichnet wurdet, die Menschen zu versorgen, an guten wie an schlechten Tagen. Geschaffen, um zu liefern.“

„Geschaffen, um zu liefern!“, tönen die Lieferboten zurück.

„Ich möchte euch nun bitten, eure Gesangsbücher aufzuschlagen und mit mir zum Abschluss des Gottesdienstes ‚All you deliver‘ anzustimmen.“

Eifrig blättern die Schäfchen in ihren Heftchen. Als die Orgel einsetzt, erklingen engelsgleiche Stimmen. Nils und 8-UN-6 warten ein paar Sekunden, bis sie einsteigen, bringen alle aus dem Rhythmus und verfehlen absichtlich jede Note. Sie werden sofort der Kapelle verwiesen und verlieren beide einen Monat ihrer Mindesthaltbarkeit.

Vierte Verspätung // 1,5 Minuten // Herr Schmidt

Es ist seine erste Woche im Dienst und Nils steht nervös im obersten Stock eines Altbaus. Es riecht im ganzen Treppenhaus nach Dönerpizza, doch niemand scheint sie haben zu wollen. Keine der Türen ist mit einem Namen versehen.

„Hallo? Herr Schmidt? Sind Sie da?“, ruft Nils ratlos in die Spirale des Treppengeländers hinab. „Ich bin hier unten“, hallt es wütend zurück.

Im Erdgeschoss erwartet ihn ein Mann in Bademantel und Crocs. Sein Gesicht zu einer Grimasse verzogen, als lauerte er einer Gazelle am Wasserloch auf. „Entschuldigen Sie die Verspätung“, beginnt Nils, wird jedoch barsch unterbrochen.

„Ich habe doch geschrieben: Dritter Stock, im Hinterhaus.“ Der Mann wedelt wild mit den Armen in Richtung eines Innenhofs, wobei der locker sitzende Mantel ein bisschen zu viel preisgibt. „Zweimal hab ich das geschrieben. Kannst du nicht lesen?“

Nils wirft irritiert einen Blick auf sein Handy. „Hier steht nichts von…“

„Jaja, jetzt gibt her die Pizza!“

Schmidt reißt Nils den Karton aus der Hand, der ihn völlig perplex anstarrt.

„Was guckst’n so? Willst du noch Trinkgeld, oder was? Kannste haben.“

Nils sieht die Faust zwar noch kommen – behaarte Finger, umrandet von billiger Microfaser – kann ihr jedoch nicht mehr ausweichen. Seine Nase knirscht beim Aufprall und seine Beine knicken sofort ein. Als er am Boden liegt, setzt Schmidt noch zwei Tritte in seinen Magen nach und spuckt aus, aber verfehlt Nils Kopf um Haaresbreite. Die Spucke schlägt knapp vor Nils Augen auf den kalten Boden auf. „Scheiß Nichtgeburt!“, bellt Schmidt und trottet mit seiner Dönerpizza und wallendem Bademantel in Richtung Hinterhaus. Die anderthalb Minuten Verspätung kosten Nils am Abend sechs Wochen seiner Mindesthaltbarkeit.

Fünfte Verspätung // 0,5 Sekunden // Proteinbrocken

Die Kantinen der Lieferello-Verteiler sind die größten gastronomischen Lokalitäten der Stadt. Zu den Stoßzeiten trifft man hier an langen Tafeln ein Meer immer gleicher Köpfe an: tausende Lieferboten, die essen, was die Automaten an den Eingängen ausspeien. Frisch synthetisierte Proteinblöcke und Vitaminshots. Exakt auf den Bedarf eines jeden angepasst.

Irgendwo in diesem Meer sitzt Nils, kaut auf einer geschmacklosen Masse herum und starrt gedankenverloren auf den einen Tisch, an dem keine freie Platzwahl herrscht. Auf einer Empore, auf ihre Brüder hinabblickend, diniert die Elite des Verteilers. Mit besonderem Eifer, Gefügigkeit und stetem Zufrühsein haben sie sich an die Spitze geliefert. In ihren Würfeln riecht es nicht mehr nach Pizza, Pommes und Asian Cuisine, in ihren Lieferwagen stapeln sich keine Warensendungen. Die Elite liefert Dinge von Wert. Nils ertappt sich bei der Vorstellung, wie es sich anfühlen mag, zwischen ihnen zu sitzen.

„N-17-S, fang!“

Erschrocken dreht er sich um, kann jedoch nicht mehr rechtzeitig reagieren. Ein Brocken trockenen Proteins knallt ihm gegen die Stirn und hinterlässt einen geröteten Abdruck. 8-UN-6 hat ein fettes Grinsen im Gesicht.

„Guck die Trottel nicht so anhimmelnd an, die sind Teil des Systems!“

„Mach ich doch gar nicht“, sagt Nils.

„Ich hab’s doch in deinem Blick gesehen! Du tust zwar so, als wolltest du hier weg, aber insgeheim willst du da oben sitzen. Wünschst dir, du wärst einer von Götterbote Adurags Lieblingen.“

Der Lieferbote neben ihm steht auf und sucht sich, irgendwas von Blasphemie murmelnd, einen anderen Sitzplatz.

„Was? Nein! Das stimmt–“

8-UN-6 lacht auf, als er sieht wie rot Nils wird. „Ich mach doch nur Spaß!“ Dann setzt er eine ernste Miene auf. „Versprich mir, dass du niemals einer von denen wirst, ja?“

„Niemals“, sagt Nils und kippt sich seinen orangen Vitaminshot in einem Zug in den Rachen.

Sechste Verspätung // 8 x 15 Minuten // Louis Vater

Als Nils an die gigantischen Pforten einer Villa klopft, öffnet zu seinem Erstaunen ein kaum sieben Jahre alter Junge. Das Happy Meal knistert, als die kleinen Hände es ergreifen.

„Herr Lieferbote?“, fragt er und schaut aus großen braunen Augen zu Nils hinauf. „Magst du mit mir essen? Mein Papa ist nicht zuhause. Ich hab’ Angst allein.“

Nils schaut auf den Jungen, der in der riesigen Eingangshalle der Villa noch kleiner wirkt, als er’s sowieso schon ist, und beginnt zu überschlagen. Im schlimmsten Fall müsste er bis Ende der Schicht hierbleiben. Das wären acht verpasste Lieferungen. Eine Lieferung, die nach fünfzehn Minuten nicht eingetroffen ist, kostet ein Jahr Haltbarkeit. Dreißig bleiben ihm noch.

„Klar“, sagt er. „Kann ich machen.“

Siebte Verspätung // 2 Tage // Schlafhalle

Wann ein Lieferbote seine sechs Stunden Schlaf leistet, hängt von seinem Schichtplan ab. Die riesige Schlafhalle, in der sich hunderte von Turmbetten mit dutzenden Etagen aneinanderreihen, ist darum zu jeder Tageszeit künstlich verdunkelt. Einmal im Monat stürzt ein Lieferbote im Schlaf zu Tode.

Es ist 23:50 Uhr und Nils hört in dem Bett unter sich jemanden schluchzen. Elitelieferant 4-PF-9 umarmt in Embryonalstellung sein Kissen und starrt ins Leere. Was denn los sei, fragt Nils, hinter seiner Matratze hervorlugend. Er habe seit zwei Tagen sein Bett nicht verlassen, erklärt 4-PF-9, ohne aufzuschauen. Kraftlos sei er gewesen, alles habe sich sinnlos angefühlt und da sei er liegen geblieben. Einfach so. Seine Haltbarkeit sei vor seinen Augen im Minutentakt abgelaufen, aber es habe ihm nichts ausgemacht. Überhaupt nichts. Er hätte das nicht mehr gekonnt, diese Lieferungen ausführen. Die Fahrerei, die Blicke der Sapiens. Das war alles zu viel geworden. Doch jetzt, wo jeden Moment sein Aufruf kommen könne, da bekomme er es doch langsam mit der Angst zu tun. Diese Geschichte von den weißen Engeln, die habe ihm schon immer Angst gemacht. Was, wenn Adurag ihn jetzt nicht in seinen ewigen Wald lassen wird?

„Das ist los“, sagt 4-PF-9 und beendet damit seine Erklärung. Nils nickt und legt sich wi