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Der Überrest


Es war kein Zischen, aber auch kein Ächzen, das sich durch Karls gepresste Lippen zwängte. Der Morgen stand still vor den Fenstern, als der Wecker den ereignislosen Schlaf zerschlug. Karl schob die Decke von seinem beleibten Körper und verweilte für einen kurzen Moment. Dann schwang er ein Bein aus dem Bett, um sich aufzurichten. Er rieb sich die verklebten Augen durch den Stoff. Er gähnte das erste entzifferbare Geräusch in die Stille des Schlafzimmers. Neben ihm schlief Mathilde. Oder tat zumindest so. Da war Karl sich seit Wochen nicht mehr sicher. Er trug einen Ganzkörperanzug, der auch seinen Kopf umschloss, sowie Hände und Füße. Sich die Brust reibend fühlte Karl, dass sein Anzug prall gefüllt war, so als habe er sich ein Daunenkissen unter die Kleidung gesteckt. Beim Aufstehen machte er ein Geräusch wie ein Sitzkissen, das mit unzähligen Styropor-Kügelchen gefüllt ist. Mit ausgestreckten Armen suchte und tastete er sich in Richtung des Badezimmers.


Die Prozedur war gleichgeblieben. Nur die Abläufe hatte Karl mit der Zeit verfeinert. Auch lief er nicht mehr Gefahr, den Spiegel herunterzureißen. Sie hatten schlichtweg keinen neuen mehr gekauft. »Du brauchst den sowieso nicht und ich kann mich selbst nicht mehr sehen«, hatte Mathilde gesagt, was Karl im Bauch herumdrückte. Noch mit den ausgestreckten Armen tastete er sich an den Badewannenrand, von wo aus er sich blind hervorragend auskannte. In der Badewanne befand sich ein schwarzer Müllbeutel. Karl stieg vorsichtig in die Wanne und hielt sich mit einer Hand an der gekachelten Wand, um sein Gleichgewicht auf der rutschigen Oberfläche nicht zu verlieren. Dann folgte das andere Bein, immer gefolgt von einem raschelnden Geräusch, das Karl bei jeder größeren Bewegung machte. Als er sicher stand, schloss er den Duschvorhang, der an beiden Enden mit einem Klettverschluss an der Wand befestigt und versiegelt werden konnte. Mit den Füßen stieg er dann in die Öffnung der Mülltüte und fächerte diese mit den Händen zu allen Seiten auf, sodass sie ihren vollen Umfang einnahm.


Er griff zum Reißverschluss seines Anzuges, der sich auf Höhe seines schwindenden Haaransatzes befand und zog ihn auf. Und dann war es, als hätte man eine Lawine losgetreten. Ein tosendes Rieseln hallte von den Fliesen wieder. Karl konnte den Aufschlag seiner Hautschuppen hören. Bis das Rieseln stoppte, hatten sich seine Augen allmählich an das Licht gewöhnt. Nun grub er mit den Händen seine Hüften frei. Mit abgeklopftem Oberkörper von seinem alten Selbst befreit, stieg er langsam aus den Hosenbeinen des Anzugs und schüttete die restlichen Hautschuppen in die Mülltüte. Er setzte sich auf den Rand der Badewanne und starrte auf den prallen, schwarzen Sack, in dem sich verschiedene Schichten seines Daseins befanden. Draußen vor der Badtür vernahm er Mathildes Schritte gefolgt von einem Klopfen an der Tür.


***


Der Dermatologe bat ihn herein und bot den Sitz vor seinem Schreibtisch an. Karl schloss die Tür und sah, wie die Rezeptionistin mit Besen und Kehrblech in Richtung Wartezimmer schritt. Kaum dass Karl saß, sagte der Arzt nur »Erbkrankheit« und blickte dabei durch seine rundlichen Brillengläser, als habe er gerade »Mettwürstchenwettessen« gesagt. »Erbkrankheit?«, fragte Karl. »Ja, Erbkrankheit«, antwortete der Arzt, als hätte er »Fußgängerüberweg« geantwortet. »Und da gibt’s nichts, was man dagegen tun kann?«, wollte Karl wissen. »Nein«, sagte der Arzt, als hätte er »Nein« gesagt. Dann hörte man nur noch das Ticken einer Uhr. Doch Karl sah nirgends eine Uhr stehen. »Und..?«, setzt Karl an. »Und«, fuhr der Arzt fort, »wir werden sehen, dass wir das Wachstum in irgendeiner Art und Weise eindämmen können.« Der Arzt blickte dabei nicht Karl, sondern ein Papier auf seinem Schreibtisch an. »Und wie?«, frage Karl. »Nun, wir könnten ein Mittel gegen Hautschuppen ausprobieren. In der Drogerie gibt es da ja Shampoos«, der Arzt wischte das Papier von der einen zur anderen Seite. »Ein Shampoo?«, fragte Karl. »Ja, ein Shampoo. So eins gegen Schuppen. Kennen Sie sicher. Versuchen Sie das. Und melden Sie sich, wenn sich etwas ändert.« Der Arzt stand auf und Karl tat es ihm gleich. Er reichte dem Arzt seine sich bereits häutende Hand. Der Routine behaftet hob der Arzt ebenfalls seine Hand, um nach Karls zu greifen. Das Gesicht des Arztes erkannte jedoch vorher, was nicht rechtzeitig von ihm begriffen wurde: den Ekel, der von Karl ausging. Mit einem schiefen Lächeln, krallte sich seine Hand in Karls und ein Teil von Karl blieb im Behandlungszimmer zurück.


Der Ball flog über die Kante des Tischtennistisches. »Tischtennistisch, seltsames Wort«, dachte Karl. Die Kinder, die sich an die Platte stellten, begannen von vorn damit, im Kreis um den Tisch zu laufen und jeweils den Ball zu schlagen. Er saß mit seinen beiden Arbeitskollegen im Führerhaus ihres Arbeitswagens. »Und der Arzt hat keine Lösung gefunden?«, fragte Mohammad und wischte sich die Remoulade vom Oberteil, die aus dem Fischbrötchen kleckerte. »Anti-Schuppen-Shampoo«, schmatzte Karl durch den zerkauten Brei in seinem Mund. Er blickte zu Mohammad, der nur fassungslos den Kopf schüttelte. »Anti-Schuppen-Shampoo?«, Mohammad lachte. »Machste nichts.« Karl wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. Dann griff er zur Kappe seiner Thermoskanne, in der der schwarze Kaffee mit einem seichten Film an der Oberfläche umherschwappte. »Und deine Frau?«, fragte Karim. »Hat die Schnauze voll.« Karl spülte sich mit dem wässrigen Kaffee den Brei von den Zähnen und pulte mit dem Finger ein Stück zerkautes Fett aus einer Zahnlücke. »Redet seit Wochen kein Wort mehr mit mir.« Karl schaute aus dem Fenster und beobachtete die Kinder. »Glaubst du, sie ekelt sich?« Karim schaute über Karl hinweg Mohammad an und schüttelte mit großen Augen den Kopf und fächerte seine Hand vor seinem Hals hin und her. Mohammad nickte, »okay, weiter geht’s«, und öffnete die Tür. Karl rutschte nach, um auszusteigen. Blieb dann stehen und wischte seine Resthaut vom Sitz. Karim, der noch auf der Fahrerseite saß, schaute ihm dabei zu. »Ich weiß«, sagte Karl, »ich weiß.« Mit den Hautfetzen in seiner Hand blickte er hoch zu einer knorrigen Buche und sah das Schimmern der Sonne durch die Zweige und Blätter. Er warf die Teile seiner Selbst auf die Verladefläche, holte seinen Besen und machte sich daran, den Kehricht von den Gehwegen der Stadt zu fegen.


Nach Feierabend begrüßte ihn das Schweigen. Mathilde saß am Küchentisch. Sie hatte ihre Seite mit einem Schälchen Butter, Käse aus einer Plastikverpackung und einer Ketchupflasche eingedeckt. In ihrer Hand hielt sie ein Brotmesser, an dem verschmierte Butter hing. Auf ihrem Brettchen waren kleine Tierchen gedruckt und ein wenig Ketchup lag auf dem Kopf eines der Wesen. Karl ging ins Bad, um sich umzuziehen. Nachdem er fertig war, stellte er den Müllbeutel vor die Wohnungstür. »Bring ich später noch raus«, sagte er und blickte zu Mathilde, die unbekümmert in ihr Käsebrot biss. »Heute auch nicht, was?«, seufzte er. Dann ging er zum Kühlschrank und setzte sich mit einer Packung Wurst und einigen Scheiben Brot an den Tisch. »Die Butter darf ich mir aber noch nehmen, oder?«, Karl griff zur Butterschale, doch Mathilde biss nur ein weiteres Stück von ihrem Käsebrot ab und kaute. »Mensch, Tilde!« in Karl hätte man die Geduldsfäden reißen hören, wäre das Geräusch seiner wachsenden Haut nicht bereits so laut geworden. »Ich hab mir das doch auch nicht so ausgedacht. Ich hab das..« Karl blickte Mathilde in die Augen. Doch Mathilde blickte durch ihn hindurch und kaute. Mit hängenden Schultern fuhr Karl fort, dass der Arzt gesagt habe, dass da nichts zu machen sei. Worte wie Erbkrankheit und Vertrauen streiften Mathildes Ohren, doch sie biss nur in das Käsebrot und kaute. Als Karl mit Reden fertig war, blickte er mit tränenbesetzten Augen zu Mathilde. Doch die hob ihren letzten Bissen in den Mund, stand auf und ging ins Schlafzimmer.


Nachdem Karl am nächsten Morgen den neuen Müllsack zugeknotet hatte, rieb er sich am gesamten Körper mit Anti-Schuppen-Shampoo ein und duschte sich ab. Als er den Hahn zudrehte, setzt er sich tropfend auf den Rand der Badewanne. Dort kauernd mischten sich die Wassertropfen mit den Wölbungen der sich neu bildenden Haut. Karl sah aus wie Plastik, das zu lang in der heißen Sonne gestanden hatte. Draußen fuhrwerkte Mathilde mit dem Staubsauger herum. In Karls Kopf herrschte Unruhe. So sehr er auch nachdachte, er kam auf nichts. Dann rutschte ihm ein schleimiger Klumpen den Rücken hinunter und blieb genau zwischen seinen Pobacken stecken. Als er aufstand, klebte sein halber Arsch am Beckenrand fest. Panik schlich durch seinen Magen und hinterließ Herzrasen. Mathilde schlug mit dem Staubsaugerbürstenkopf so heftig gegen die Tür, dass Karl aus seiner Lethargie erschrak. Mathilde reinigte bereits den gesamten Morgen die Wohnung. Bei einem besonders großen Hautfetzen unter dem Esstisch hatte sie Karl einen abschätzigen Blick geschenkt und schnalzte dabei mit der Zunge. Karl setzte sich neben seinen halben Arsch und starrte die Kacheln an. Mathilde knallte wieder mit dem Staubsauger gegen die Badezimmertür. Das Geräusch kroch Karl unter die Haut und löste etwas an ihm ab. Früher war alles viel sanfter gewesen. Er erinnerte sich nicht mehr, wie sich die Berührungen seiner Frau anfühlten. Geschweige denn, wie sich Tilde in seinen Händen anfühlte. Er blickte auf den schwarzen Müllsack, der neben der Badewanne stand und spürte, wie sich seine Brustwarze mit einem guten Stück seiner Brust von ihm ablöste und kurz wünschte Karl, dass es ein Loch in ihn reißen würde. Er lauschte, wie Mathilde mit dem Staubsauger zur Küche ging. Überall stieß sie heftig mit dem Sauger gegen die Möbel. Dann ging sie ins Wohnzimmer. Scheinbar zog sie den Staubsauger vehement hinter sich her, sodass dieser zur Seite fiel. Es folgten weitere Geräusche von heftigen Stößen gegen Möbel und Wände. Dann fiel etwas und zerbrach. Das Motorgeräusch des Saugers kam auf den Flur zurück und blieb dort stehen. Mathilde musste vor dem Schlafzimmer stehen geblieben sein. Karl hörte das Klacken des Ausschalters. Der Motor kam zum Schweigen. Karl lauschte. Nichts. Dann das Aufreißen der Haustür und sas Zuknallen der Haustür. Und alles, was Tilde da ließ, war ihre Stille.


Karl hetzte am frühen Morgen ins Badezimmer und erbrach Hautfetzen in die Toilettenschüssel. Endlich bekam er wieder Luft. Aus dem einstigen Pulverschnee an Haut waren ganze Hautflächen geworden. Speichelfäden hingen ihm aus dem Mundwinkel. Dann fiel sein Mund plätschernd ins Klowasser. Blass und geschwächt kauerte sich Karl neben die Schüssel. »Mathilde! Mathilde«, Karl rief, doch Mathilde war seit gestern nicht zurückgekehrt. »Mathilde!« Nach einer Weile übergab sich Karl ein zweites Mal, dieses Mal war es aber nur Magensäure und ein Teil seiner Nase. Mit einem Arm am Beckenrand der Wanne hob er sich auf die Beine und duschte sich ab, vermied jedoch das Shampoo. Er setzte sich auf den Rand und überschaute das Chaos, das er im Bad hinterlassen hatte, während ihm Hautklumpen wie losgelöste Eisschollen den Rücken hinunterglitten. Ein Teil seines Beines lag noch vor der Toilette und ein Stück Hand krallte sich am Toilettensitz fest. Karl wurde schwindelig, er setzte sich in die Wanne und er verlor kurzzeitig das Bewusstsein. Als er wieder zu sich kam und aufstand, lag er noch zur Hälfte auf dem Wannenboden. Erst schaute er. Dann nahm er seine gebrechliche Hülle und stopfte sich in den Müllsack.


An dem Tag, als Karl sich das erste Mal sein Gesicht abzog, verließ Mathilde ihn entgültig. Sie hatte nur schnell ein paar Sachen in einen Koffer gestopft und stürmte, ohne Karl anzusehen, wieder aus dem Haus. Auf dem Bett hatte sie dieWohnungsschlpssel und einen Abschiedsbrief liegengelassen, der nicht viel mehr enthielt, als ein Eingeständnis, sich selbst nicht mehr belügen zu können und dass dies keine Basis einer Beziehung für sie sei. Karls Hoffnungen verschwanden wie die schwarzen Müllsäcke in der elektrischen Presse des Müllabfuhrwagens seines ehemaligen Arbeitgebers. Er stand in der Küche und wusste nicht, wohin mit sich. Da war jetzt so viel von ihm überall, dass er selbst nicht mehr wusste, wo er sich selbst verloren hatte. Karl verlor zunehmend schneller größere Teile seiner Haut. Die Badewanne sah aus, wie ein Bällebad. Auch die kleinere Abfindung von der Kündigung half Karl nicht darüber hinweg, dass das Letzte, was er von Mathilde in Erinnerung behalten sollte, ihr Schweigen war. Da riss an ihm die Haut und eine vordere Hälfte von ihm fiel zu Boden. Wie ein überdimensionales, welkes Blatt lag Karl vor sich. Ihm fehlte jeglicher Ausdruck in dem Eindruck, den er da in seiner ehemaligen Haut hinterlassen hatte. Dann dachte er an Karim und Mohammad und an Tage, die einfacher waren. Tage, an denen er sich in seiner eigenen Haut wohl gefühlt hatte und vermisste die Sorglosigkeit. Er vermisste Mathildes Hand in seiner, die ihm gerade abfiel und zu Boden schwebte. Als Karl sich vor das Küchenfenster stellte, sah er sich nach langer Zeit selbst. Sein Gesicht sah aus, als habe man ein bleiches und befeuchtetes Tuch daraufgelegt. Er bewegte die Augenbrauen nach oben, doch sein Gesicht folgte nicht der Bewegung. Dann spitzte er die Lippen und machte eine kreisende Bewegung. Auch jetzt gab sein Gesicht nicht nach und verharrte im alten Ausdruck. Karl pulte mit dem Fingernagel seines Daumens unter sein Kinn und bekam die Haut zu fassen. Dann nahm er den anderen Daumen dazu und zog. Wie Tilde damals ihre Gesichtsmasken mit einer Bewegung abzog, so zog Karl sein eigenes Gesicht vom Kopf. Es war wie das Geräusch eines Paketklebebands, das langsam von seiner Rolle abgezogen wurde. Karl zog und zog und unter der Maske kam ein Babyweiches Gesicht zum Vorschein. Dann endlich hatte er sein Gesicht abgezogen und hielt es in beiden Händen, sodass er sich selbst darin betrachten konnte. Karl sah müde aus, dachte er über sich selbst. Karl sollte sich vielleicht hinlegen, entschloss er.


Eines Nachts hörte das Geräusch seiner wachsenden Haut auf. Karl erwachte durch das Ticken der Uhr, die neben ihm auf dem Nachtschrank stand. Ein Ticken, das er zuletzt nur noch beim Arzt gehört hatte. Umgeben von sich selbst und mit geschlossenen Augen lag er da und lauschte. Doch die Stille und das Ticken bohrte ein riesiges Loch in die Gegenwart und alles, was hineinkam, war noch mehr Stille. Kurz erinnerte er sich an die braunen Augen von Tilde. Als er in dieser Starre so lag, bemerkte er, dass seine Haut fest geworden war. Unfähig sich zu bewegen hoffte er fast, sich vielleicht in einen bleibenden Menschen zu verwandeln. Dass vielleicht doch alles nur ein böser Traum war. In seinem Hals fühlte er einen Druck und einen Schwindel im Kopf, der sich mit leuchtenden Punkten vor seinen Augen bemerkbar machte. Karl wollte tief Luft holen, doch sein alter Brustkorb gab seiner sich heben wollenden Brust nicht nach. Nur fähig, die Augen zu bewegen, füllte sein Innenleben sich mit Geräuschen und Gesten. Mit dem, was nicht mehr war. Dem einen Karl, der mit Tilde das erste Mal tanzt. Der Karl, der Karims Erstgeborenen auf den Schoß sitzen hat. Daran, was war und daran was nicht mehr ist. An die vielen Karls, die er in den letzten Tagen sah. Vor ihnen saß oder seine Faust durch sie hindurch schlug und sie anschrie. Immer nur schrie. Doch jetzt verlebte Karl sich in die stille Einsamkeit. »So endet es also«, dachte Karl erstaunlich nüchtern.


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