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Die Closerie

Ein Romanauszug



1


Ich fixiere das Lämpchen neben der Webcam, es blinkt. In einem der Fenster kann ich einen bärtigen Mann sehen, Ende dreißig etwa. Wahrscheinlich wäre er attraktiv, ohne die Unmengen an Haaren im Gesicht. Sein Nickname ist Joshua.

Das zweite Videofenster ist schwarz. Joshua und ich warten. Er sagt nichts. Er strahlt Ruhe aus, wie er da so sitzt und schweigt. Trotz seines enormen Bartwuchses ist er mir auf Anhieb sympathisch. Die Ruhe dieser Menschen, deren Augen sich sogar weniger hektisch bewegen als die anderer Menschen. Sie zieht mich an. Joshua liest etwas auf seinem Handy. Er scrollt nicht, er swiped nicht. Er liest einfach. Unglaublich, diese Ruhe. Vielleicht denkt er auch über etwas nach und lässt seine Augen einfach, wo sie sind, wo sie vorher eben waren. Jetzt hebt er den Blick, schaut auf seinen Bildschirm, dann sagt er:

»Natascha, kannst du mich hören?«

Wir hören Geräusche, dann eine Frauenstimme:

»Ja. Diese verfluchte Technik. Ich schwöre, dass es vor zehn Jahren einfacher war, eine Webcam zum Laufen zu bringen.«

»Hast du einen Laptop?«, fragt Joshua.

»Ja.«

»Hast du einen Kameraschutz angebracht?«

»Ach, ich Esel«, stöhnt Natascha. Dann erscheint auf dem Bildschirm eine Frau mit langen dunkelblonden Haaren. Sie hat ein schönes Gesicht mit klaren Konturen und einen wachen Blick. Ihre Umgebung ist sehr blau, als wäre ein Filter eingestellt. »Das kommt davon. Ich habe mich mit meinem eigenen Cyber-Sicherheitswahn reingelegt.«

Ich lache freundlich.

»Ist mir auch schon passiert.«

Joshua schweigt gutmütig.

Natascha rückt etwas näher an die Kamera heran und fragt:

»So, wer seid ihr beide?«

Ich räuspere mich.

»Ich heiße Damian und habe gerade mein Studium abgeschlossen. Allerdings habe ich nur studiert, um es hinter mich zu bringen. Jetzt kann ich machen, was ich will. Ich möchte Schriftsteller werden und gebe mir dafür mindestens ein Jahr Zeit. Oder so lange, bis es klappt. Ich glaube, dass ich dafür um mich herum ein paar Menschen haben sollte, die auch etwas Kreatives machen. Deshalb habe ich die Idee mit der Closerie gepostet.«

Ich lächle in die Kamera und hebe die Schultern ein wenig an.

»Tja, und da habt ihr beide euch gemeldet.«

Hinter mir räumt meine schwarze Katze einen Teller von der Arbeitsfläche, der krachend im Waschbecken landet.

»Ach so«, sage ich und richte die Webcam so aus, dass die Katze zu sehen ist, »das ist Falicia.«

Natascha seufzt.

»Ich habe auch ein Haustier, aber das ist tot.« Sie kippt ihren Laptop, sodass wir einen Hasen sehen können, der auf einer Ablage sitzt. Er hat schönes, weiches Fell.

»Der sieht aber lebendig aus«, stelle ich fest.

»Ich habe ihn ausgestopft.«

Joshua fragt erstaunt:

»Darf man das?«

»Keine Ahnung. Aber ich habe die letzten Jahre so viel gearbeitet, dass er verhungert ist. Wahrscheinlich. Und jetzt kann ich mich nicht von ihm trennen. Ich habe Schuldgefühle.«

»Oh«, sagt Joshua.

Natascha zuckt mit den Schultern und wechselt das Thema.

»Ihr wohnt nicht in Berlin, oder?«

»Ich wohne in Genf«, antworte ich.

Joshua hebt die Hand, als würde er sich melden: »Berlin«.

»Okay«, sagt sie. »Macht es euch etwas aus, wenn ich während unserer Gespräche esse? Meine Freundin ist vorhin aus Neapel zurückgekommen und hat mir feines Gebäck mitgebracht. Ich esse sowieso gerne immer wieder über den Tag verteilt. Es kann mich jederzeit überkommen.«

»Deinen Hasen hat es bestimmt auch manchmal überkommen«, sagt Joshua schmunzelnd.

Natascha beißt in das Gebäck. Sie hat seinen Kommentar wegen des Tütenraschelns wahrscheinlich nicht gehört.

»Erzähl mal was von dir«, sagt sie, nachdem sie den ersten Bissen fertig gekaut hat. »Joshua, oder?«

»Eigentlich heiße ich Johannes«, antwortet er. »Ich bin Informatiker, aber nur noch auf freiberuflicher Basis.«

»Oh, das ist gut. Dann haben wir jemanden, der sich auskennt, wenn mit unserem Live-Room hier mal was schiefgeht«, wirft Natascha ein.

Johannes lächelt ein wenig gezwungen.

»Ja, warum nicht.«

»Schreibst du?«, frage ich.

»Ja, aber ich schreibe keine Romane. Ich schreibe Gedichte. Seit ein paar Jahren. Mein erster Gedichtband ist vor vier Monaten erschienen.«

»Nicht schlecht«, sagt Natascha anerkennend.

Ich bin ebenfalls beeindruckt.

»Kann ich dich googeln?«

Er lacht.

»Natürlich kannst du. Das ist ganz einfach«, antwortet er mit einem angedeuteten Zwinkern.

»Wonach soll ich suchen?«, sage ich gespielt hilflos.

»Joshua Vries«, antwortet er. »Der Gedichtband heißt ›Das Mädchen mit der Maroni‹ und ist im November erschienen.«

»Interessanter Titel.«

»Was ist eine Maroni?«

»Eine Esskastanie. Aber Maroni klingt irgendwie schöner.«

»Ihr schreibt beide«, sagt Natascha, »das kann ich nicht. Ehrlich gesagt, weiß ich gar nicht, welche künstlerische Begabung ich habe. Aber ich will es rausfinden. Im Moment habe ich das Bedürfnis, düstere Bilder zu malen. Wahrscheinlich wegen der letzten Jahre. Ich habe so viel gearbeitet.«

»Offensichtlich«, sagt Johannes, »dein Hase ist verhungert.«

Sie nickt traurig.

»Ist Joshua Vries dein Künstlername?«

»Ja. Mir wäre es lieber, wenn ihr mich mit meinem richtigen Namen, also Johannes, ansprechen würdet.«

»In Ordnung«, sage ich, »was meint ihr? Schaffen wir es, uns täglich hier zu treffen? Jeden Nachmittag in der ›Closerie‹?«

Johannes nickt.

»Von mir aus ja. Ich bin selten woanders und ich arbeite zurzeit an ein paar Gedichten. Über etwas Gesellschaft dabei würde ich mich freuen.«

Natascha streckt sich und dehnt ihre Armmuskulatur: »Ja, für mich wäre das auch ganz wunderbar. Ich bin gerade im Buy-out, meine Firma ist verkauft. Das heißt, ich muss im Moment gar nichts. Ich werde die Kamera ab dem frühen Nachmittag anmachen und dann bin ich da oder gehe weg und komme wieder. Ich bin auf jeden Fall online.«

»Schön«, sage ich. »Bei mir ist es ähnlich. Die Nachmittage sind sowieso alle frei. Nur abends muss ich öfter weg.«

»Uhh«, sagt Natascha, »du Hübscher bist ja wohl nicht in einem unredlichen Gewerbe aktiv.«

Ich werde rot.

»War nur Spaß. Mit deinem Bürstenschnitt und dem beigen Pullover gehst du wohl eher zu Fachvorträgen oder in den Irish Pub.«

»Natürlich«, sage ich gespielt brav, »was anderes käme mir nicht in den Sinn.«

»Dann«, sagt Johannes, »tauschen wir uns hier künftig über das Schreiben aus, und Natascha findet heraus, was sie machen möchte.«

»Ihr dürft mich gerne inspirieren.«

»Gut, wollen wir gleich morgen anfangen?«

»Ja, ich gehe in der Zwischenzeit in mich. Aber wahrscheinlich läuft es sowieso aufs Malen hinaus.«

»Hast du als Kind gerne gemalt?«, fragt Johannes.

»Ja, sehr gerne.«

»Dann könntest du ja zumindest ausprobieren, ob es dir noch Spaß macht.«

»Ich schau mal.«

»Also, bis morgen?«, frage ich.

»Bis morgen, ihr Lustigen«, sagt Natascha und winkt in die Kamera.


2


Der Wecker hat bestimmt eine Stunde lang geklingelt. Damian schiebt die Decke ein Stück von sich runter und öffnet langsam die Augen. Die wohlige Wärme der aufgebauschten Daunendecke tut gut. Unter ihr ist es dunkel und behaglich. Es ist die Höhle, in der Damian jede Nacht versinkt, als wäre sie sein einziger Schutz. Tagsüber macht Damian einen großen Bogen um das Bett. Auch nachts kann er sich lange nicht überwinden. Erst wenn er sich hineinlegt – weil er erschöpft ist oder weil er am nächsten Tag fit sein muss –, umschließt ihn die geliebte Behaglichkeit wieder. Er ist froh, wenn er sich am Abend ins Bett legen muss, wenn ihn irgendetwas dazu zwingt.

Er blickt sich um, die Sonne scheint in sein Schlafzimmer. Er schließt praktisch nie die Läden, weil er es nicht mag, nicht zu wissen, wo er ist und wie es draußen aussieht. Langsam bewegt er sich aus dem Bett. Er stellt beide Füße nebeneinander auf den Boden und spürt den Temperaturunterschied. Er stützt sich mit beiden Händen auf der Matratze ab und drückt seinen Körper nach oben. Er geht zum Fenster und lehnt seine Stirn gegen die kalte Scheibe. Dann hebt er den Arm zum Griff und öffnet das Fenster. Kühle Frühlingsluft strömt herein und klärt seine Sinne.

Wenn er morgens so aufsteht, fühlt er sich wie ein alter Mann. Langsam und schwerfällig. Wenn er später geduscht und seine Haare in Form gebracht hat, wird er für die anderen und für sich selbst wieder jener attraktive 25-Jährige sein, der viele Blicke auf sich zieht. Er ist zwar etwas knabenhaft, aber elegant gewachsen. Durch die Art, wie er seinen Körper bewegt und wie sein Blick Leidenschaft versprüht, strahlt er eine sexuelle Energie aus, die er sich selbst nicht erklären kann. Wenn er das Haus verlässt, spürt er die Blicke auf seinem Gesicht und auf seinem Körper. Als wäre sein Körper interessanter als der von anderen. Als wäre sein Gesicht etwas Besonderes. Nüchtern betrachtet sieht er sehr durchschnittlich aus, und wenn er diese Ausstrahlung nicht hätte, würde sich niemand daran erinnern, ihm jemals begegnet zu sein. Er ist groß und sportlich, hat feines, hellbraunes Haar und ein symmetrisches Gesicht, so wie man sich einen typischen amerikanischen Elitestudenten vorstellen könnte. Er kleidet sich klassisch elegant. Schlichte Hosen und einfarbige Pullover aus feinen Naturmaterialien – in bordeauxrot oder kamelhaarfarben. Manchmal auch dunkelblau. Obwohl ihm dunkle Farben ausgezeichnet stehen, trägt er lieber Farben, die ihn brav wirken lassen. Ein Hemd trägt er nur, wenn eine Frau ihn darum bittet, wenn er zu einem Anlass geladen ist, zu dem die anderen in Black tie erscheinen. Für solche Fälle besitzt er auch einen Anzug, aber niemals würde er einen Smoking anziehen. Darin würde er sich mit seiner junkerhaften Erscheinung und der sexuellen Energie wie ein Spielzeug der High Society fühlen.

Seitdem er das Studium abgeschlossen hat, hat er das Zeitgefühl verloren. Ein Tag folgt auf den anderen. Eine Stunde auf die andere. Minute für Minute. Das Leben ist pur und einsam.

Es fühlt sich an, als würde er jeden Tag auf den offenen Ozean hinausschwimmen. Keine engen Bahnen oder vorgegebenen Ziele. Ein Gefühl grenzenloser Freiheit. Nichts, nur das Wasser, seine Schwimmbewegungen und der regelmäßige Atem. Nachts wird er wieder zurück an den Strand gespült. Er hält seinen Blick bis zum Schluss weit auf das offene Meer gerichtet und erst, wenn er mit der letzten Welle auf den Strand gespült wird, akzeptiert er, dass der Ausflug vorbei ist, und lässt sich in den Sand sinken.

Damian sucht nach einer Form, um seine Emotionen in Worte zu fassen. Genauso wie sein Schweigen und die unzähligen Bilder, die sich in ihm ansammeln. Die Eindrücke von den Menschen und Orten, wenn er unterwegs ist. Ihnen allen will er eine Form geben. Eine gemeinsame Form. Das Schreiben ist die einzige Form, die ihm geeignet erscheint, dem inneren Erleben Struktur und Kontur zu verleihen. Er kennt niemanden, der schreibt. Seine Freunde von der Uni sind alle auf irgendeine Art ausgeflogen. Sie haben angefangen, zu arbeiten, sich für ein weiterführendes Studium in einer anderen Stadt eingeschrieben oder sind auf Reisen. Keiner ist einfach geblieben, so wie er.

Seine ersten Schreibversuche waren kläglich, obwohl er beinahe jedes Mal den Flow spüren konnte. Bei jeder Geschichte, die er anfing, kam er nach zwanzig oder dreißig Seiten ins Stocken. Er realisierte, dass er nicht mehr zu erzählen hatte als das, was auf dem Papier vor ihm stand. Alle Bilder und Gefühle zu der Geschichte waren erschöpft und der Textfluss kam zum Erliegen. Wie ein Zug, der auf einer Strecke abbremst und nicht mehr weiterfährt. Er schaffte es nicht, den Zug wieder zum Rollen zu bringen. Die Geschichten brachen ab. Der Stapel Notizbücher mit seinen gescheiterten Romanversuchen liegt neben dem Schreibtisch im Regal.

Trotz des Scheiterns geben ihm diese Versuche ein Gefühl von Macht. Er kann schreiben. Er muss nur noch rausfinden, wie er über die ersten Kapitel hinauskommt und der Zug so viel Schwung erhält, dass er von ganz allein rollt und an seinem Zielort eintrifft. Auch wenn Damian nicht weiß, wie dieser Zielort aussieht oder beschaffen ist.

Wenn er nicht schreibt, liest er. Er liebt die amerikanischen Autoren der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Ihre Sprache, ihre Leben. Wie sie zusammengekommen sind in den Bars von Paris in den 1920er-Jahren. Wie inspirierend dieser Austausch gewesen sein muss. Trinken mit Menschen, die dieselben Ziele haben wie du, und mit ihnen darüber reden, wie man es schafft. Ernest Hemingway, F. Scott Fitzgerald, Henri Miller, James Joyce und all die anderen.

Eines Nachts hat er auf Instagram ein Schwarz-Weiß-Bild von einem gut besuchten Restaurant aus dem Paris der 1920er-Jahre gepostet und dazu geschrieben, dass er andere Kreative sucht, die sich mit ihm virtuell über ihre Arbeit austauschen wollen.

Am nächsten Morgen hat sich Johannes bei ihm gemeldet. Am Abend dann Natascha. Das war vor ungefähr drei Tagen. Gestern sind sie das erste Mal zusammengekommen.


3


Natascha hat die Kamera eingeschaltet. Es ist bald 13 Uhr. Von den anderen ist niemand da, aber bei Johannes läuft auch bereits die Kamera. Natascha blickt auf eine lang gezogene Küche, die auf einen Balkon zuläuft. Rechts ist die eigentliche Küchenfront mit Herdplatten, Spülbecken und Kühlschrank zu sehen. Die Kamera auf dem Küchentisch ist so positioniert, dass Natascha im Hintergrund den Balkon und links ein kleines Regal sieht. Gestern stand auf diesem Regal nichts. Heute stehen dort ein paar Flaschen und ein Gestell aus Silber. Es könnte so ein altertümliches Gestell zum Einschenken von Wein sein. So genau kann Natascha das nicht erkennen. Das Bild ist etwas unscharf. Bei den Flaschen handelt es sich aber höchstwahrscheinlich um Wein- oder Whiskeyflaschen.

Jetzt hört Natascha, wie die Tür zur Küche geöffnet wird. Sie fährt sich durch die Haare und geht mit dem Kopf ein Stück nach hinten, damit es nicht so aussieht, als ob sie das Kamerabild genau studiere. Rechts im Bild geht ein Mann zum Wasserhahn und füllt ein Glas auf. Wahrscheinlich ist es Johannes. Als er zurückgeht, wirft er aus den Augenwinkeln einen kurzen Blick auf den Computer, der auf dem Tisch steht. Er entdeckt Natascha, die ihn freundlich anlächelt, zieht den Stuhl vor dem Computer zurück und setzt sich hin.

»Hi, Natascha«, sagt er erfreut.

»Hallo, hallo«, antwortet Natascha.

»Damian ist noch nicht da, oder?«

»Sieht nicht so aus«, antwortet sie.

»Okay.«

Einen kurzen Moment herrscht Stille.

»Was treibst du so?«, fragt sie dann.

»Ich? Ja, ich habe gerade ein paar Zeilen geschrieben und dann ist mir nichts mehr eingefallen«, sagt er und zuckt mit den Schultern.

Sie weiß nicht, was sie darauf antworten soll.

»Hm.«

»Und du? Woran arbeitest du zurzeit?«

Auf dem Bildschirm poppt ein weiteres Fenster auf. Damian erscheint, perfekt frisiert und freundlich lächelnd.

»Hallo zusammen«, sagt er, »ich hatte noch gar nicht mit euch gerechnet.«

»Wir auch nicht mit uns«, antwortet Natascha.

»Ja«, sagt Johannes und schmunzelt, »wir sind uns hier sozusagen zufällig begegnet.«

»So soll es doch sein«, sagt Damian. »Wenn man Lust hat, geht man in die Closerie und trifft dort die anderen. Und wenn nicht, kann man die Zeit nutzen, um ein bisschen zu arbeiten.«

»Genau«, sagt Johannes. »Damit diese zufälligen Begegnungen möglich sind, werde ich mich ab sofort im Laufe des Morgens einloggen und die Kamera laufen lassen.«

»Das kann ich leider nicht«, sagt Natascha, »ich habe einen Untermieter, der gerne in der Küche frühstückt und erst gegen Mittag zur Arbeit geht. Aber ab Mittag bin ich auch dabei.«

»Wir können es ja flexibel handhaben«, sagt Damian, »jeder kann sich zu jeder Tageszeit anmelden. Vielleicht begegnet er jemandem, vielleicht auch nicht. Nur am Nachmittag wäre es schön, wenn wir uns regelmäßig hier treffen.«

»Einverstanden«, sagt Natascha. Auch Johannes nickt.

»Wie läufts bei euch?«, fragt Damian.

Natascha antwortet für sie beide: »Johannes hatte bereits den ersten kreativen Schub, ist dann aber stecken geblieben. Ich habe nur ein paar alte Wasserfarben sortiert und gegoogelt, was ich für Material kaufen muss.«

»Und bei dir?«, fragt Johannes.

Damian zögert.

»Noch nichts Großartiges«, sagt er. »Ich habe meine Romananfänge durchgeschaut und überlegt, warum ich jeweils gescheitert bin.«

»Wie viel hast du denn bisher geschrieben?«, fragt Johannes.

»Es sind vier Versuche, alles zusammen vielleicht 140 Seiten.«

Johannes nickt.

»Mach dir keinen Kopf, das ist noch nichts. Ich habe ganze Notizbücher voll mit Gedichten, die nicht zur Veröffentlichung taugen.«

»Wirklich?«

»Ja. Das ist völlig normal. Man muss sich das Schreiben erst mal selber beibringen. Die Kunst besteht darin, einfach immer wieder von vorne anzufangen. So lange, bis es klappt.«

»Ist gut. Ich hab noch Motivation.«

»Dafür demotiviert ihr mich, bevor ich überhaupt angefangen habe«, sagt Natascha. »Ich hoffe, dass ich nicht erst mal fünfzig Bilder für den Abfall produzieren muss.«

»Das kommt ganz darauf an, was die Zielsetzung ist«, entgegnet Johannes. »Willst du vom Malen leben können? Dann musst du dich schon darauf einstellen.«

»Ach so, nein. Ich habe meine Firma ja verkauft.«

»Dann hast du keinen Druck.«

»Ja, aber ich produziere trotzdem nicht freiwillig etwas für den Abfall.«

Damian und Johannes lachen.

»Warum nicht?«, fragt Damian.

»Weil es keinen Sinn ergibt«, antwortet sie spitz. »Du hast auch noch nie richtig gearbeitet, oder?«

Damian weicht der Frage aus und zeigt mit dem Finger auf den Bildschirm: »Was sind das für Flaschen hinter dir, Johannes? Die waren gestern noch nicht da, oder?«

»Was?«, fragt er. Er notiert sich gerade etwas.

»Die Flaschen hinter dir«, wiederholt Damian.

»Ach ja«, sagt Johannes, »das soll ambientalen Charakter haben.«

Natascha und Damian schauen ihn fragend an.

»Ich habe nachgelesen zu der Closerie, die du beschrieben hast in deinem Post. Die Bar hat es ja wirklich gegeben in Paris. Und wenn wir das Flair auch wollen, brauchen wir ein paar Flaschen Wein und Schnaps. In unseren Küchen sieht es nicht gerade aus wie in einer American Bar im Paris der 1920er-Jahre.«

»Stimmt«, sagt Natascha, »aber immerhin sind bei mir die Küchenstühle gepolstert und mit weißem Leder überzogen.«

»Das ist mir gestern aufgefallen«, sagt Damian, »ich finde, das sieht grandios aus. Aber ihr habt auf jeden Fall recht, wir sollten ein bisschen am Ambiente arbeiten. Allerdings trinke ich nicht gerne, mir ist es also recht, wenn die Flaschen bei dir stehen.«

»Was ist mit Designerdrogen?«, fragt Natascha.

Johannes sagt gelassen: »Ist uns recht, wenn die bei dir liegen.«

»Ich überleg mir was für meine Küche«, sagt Damian. »Ich muss mich leider ausklinken für heute. Wir sehen uns morgen wieder hier.«


Johannes und Natascha sitzen sich nun allein gegenüber.

»Der ist noch jung«, sagt sie.

»Ja«, antwortet Johannes, ohne dass es nach Zustimmung klingt.

»Aber interessant«, sagt sie.

»Ja«, sagt Johannes wieder neutral.

Es entsteht Schweigen.

»Ist es dir recht, wenn ich hier sitzen bleibe und weiter an meinem Gedicht schreibe?«, fragt Johannes.

»Natürlich«, antwortet Natascha, »soll ich mich ausloggen?«

»Nein«, sagt Johannes und zögert. »Über ein bisschen Gesellschaft … würde ich mich freuen. Du kannst ja etwas anderes machen und die Kamera laufen lassen.«

»Was meinst du mit ›etwas anderes?‹«, fragt sie irritiert.

»Malen?«, antwortet er. »Oder was dir Spaß macht. Zeichnen oder so?«

»Ah so«, antwortet Natascha. »In Ordnung. Ich bleibe hier sitzen und bestelle mir Farben, Pinsel und Leinwand.«

»Sollte man so etwas nicht in einem Laden kaufen?«, fragt Johannes ein wenig schüchtern.

»Ach«, antwortet Natascha, »ich habe keine Ahnung von den Materialien. Die könnten mir dort alles aufquatschen. Da kann ich auch zu Hause bleiben und ein bisschen recherchieren.«

»Wieso gehst du davon aus, dass sie dir in einem Laden etwas aufquatschen? Die wollen doch, dass du wiederkommst, oder?«, fragt Johannes verwirrt.

»Ist es nicht das Ziel von Verkäufern, einem möglichst etwas aufzuschwatzen? Ich finde es ja auch schöner, in einen Laden zu gehen. Aber woher soll ich wissen, dass die mir keinen Unsinn erzählen, was man angeblich braucht.«

Johannes fällt nicht sofort eine Antwort ein.

»Ich fände es jedenfalls besser, wenn du in einen Laden gehst und dich beraten lässt. Du musst ja nichts kaufen, wenn du das Gefühl hast, dass sie dir nur etwas andrehen wollen. Aber du wirst zumindest etwas erfahren über Papier und Farben.«

Natascha seufzt resigniert.

»Na gut, ich gehe in einen Laden, aber wo rege ich mich hinterher auf, wenn es so kommt, wie ich befürchte?«

»Ich bin hier, wenn du zurückkommst. Und ich werde dir gerne zuhören«, sagt Johannes und hält drei Finger zum Schwur hoch.

»Alles klar«, sagt Natascha und formt ihre rechte Hand zu einem Peace-Zeichen. »Bis gleich. Ich lasse die Kamera laufen.«



 
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