VON JANA GELDNER //
„Komm. Komm raus jetzt. Wir haben nicht mehr viel Zeit.“ Aber ich bin beschäftigt. Mit den Daumen presse ich gegen meine geschlossenen Lider und mit dem Schmerz kommt das Feuerwerk. Ich spüre. Meine Augäpfel, weich und formbar unter den Fingern. Ein dumpfer Druck, wo sie aufliegen. Ein leichtes Prickeln, das sich von unten nach oben ausbreitet. Die Eindrücke werden langsam unangenehmer, aber ich höre nicht auf, weil die Farben angefangen haben.
Erst breiten sich helle Flecken auf der Rückseite meiner Lider aus, spiralförmig, pulsierend, und dann tiefblaue, schließlich rote Muster. Wie bei einem Kaleidoskop, seltsam symmetrisch und gleichzeitig chaotisch. Tausende kleine Sterne, die fließen und tanzen. Unvorhersehbar, unsehbar. Golden, blau, rot.
Ich will wissen, was danach kommt, aber mein Körper signalisiert mir, dass es Zeit ist, aufzuhören. Er wehrt sich mit Schmerz gegen die Farbe nach rot – ich weiß, dass es eine geben muss, aber ich bin noch nie so weit gekommen.
Noch ein Stückchen, noch ein bisschen weiter. Das Prickeln wird immer intensiver, jetzt auch begleitet von einem Pochen, das sich von meiner Iris in den Hinterkopf ausbreitet. Ich spüre meinen eigenen Herzschlag verstärkt und schmerzhaft in meinen Augen, in meinem Kopf, in meinen Daumenspitzen. Ich lasse los.
„Hallo? Bitte beeil dich ein bisschen.“
Eine tanzende Galaxie auf meinen Lidern. Ich habe das Gefühl, etwas sehr wichtiges beinahe verstanden zu haben. Ich kann es in meinen Knochen spüren, dumpf und nicht erklärbar. Unter meinen Rippen, tief innen. Weil, weil … weil eine menschliche Ohrmuschel geformt ist wie ein Schneckenhaus. Weil eine Lunge aussieht als wurzelten Bäume in ihr. Weil das Blut in meinen Adern vor kurzem noch ein Gewitter war, nur geliehen ist, nicht bleiben wird. Weil Tränen schmecken wie der Ozean. Ich bin traurig und mein Brustkorb ist voller Geschichten, will ich dem Universum zurufen. Und es lacht und macht weiter wie gehabt. Ach, Kind.
„Ich weiß du hast keine Lust, aber diesmal gibt’s keine Ausreden. Der Termin ist in 15 Minuten. Los jetzt oder wir kommen zu spät.“ Ich denke manchmal an das erste Kind, das auf dem Mars geboren werden wird. Wird es wissen, was ein Schneckenhaus ist? Ich weiß nicht, wie lange es dauert, bis die ersten Kolonien da oben entstehen. Aber ich bin mir sicher, dass es früher oder später so weit ist. Weil uns das hier noch nie genug war, weil wir alle Sternstaub sind und uns die Farbe nach rot neugierig macht. Und dann nehmen wir unsere Geschichten und Formen mit nach oben und finden neue Dinge, in denen wir uns wiedererkennen. Ach, Kind.
Die tanzenden Sterne vor meinen Augen beginnen langsam zu verblassen. Das Blut in meinen Adern ist nur geliehen, genauso wie der Rest von mir und irgendwann muss ich es zurückgeben. Gestern war ich Morgentau und Staub und ein paar Klänge, aber heute bin ich hier, bin ich jetzt und muss mich beeilen und meine Schuhe anziehen. Gestern war ich ein Universum und heute muss ich zum Zahnarzt.
„Na endlich. Komm, wir sind schon viel zu spät dran.“
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