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Durchgeweicht

VON LENA MARIA TROHAR //

Sechzehn Minuten. In vier konnte Max draußen keine Runde mehr schaffen, wenn er eine Minute für den Ausstieg einrechnen musste. Er überlegte. Er hätte zeitlich gesehen noch einen Kreis entlang der Säulen ziehen können, sein Körper war aber schon so angeschwollen, dass er die Arme nicht mehr heben und mit den Beinen nicht mehr strampeln konnte. Also ließ er sich treiben, den Blick immer wieder zur Uhr gerichtet und seine Gliedmaßen soweit unter Kontrolle, dass es ihn nicht von der breiten Treppe, die aus dem Becken führte, wegtreiben konnte. Die Uhr war die gleiche, wie sie alle paar Meter an den Wänden aufgehängt worden war. Sie war überdurchschnittlich groß, rot und so rund, wie es die meisten analogen Uhren sind. Zusätzlich zu den analogen, gab es jeweils unter jedem Balkon, von denen man über die Becken schauen konnte, digitale Uhren. Sie waren schwarz und surrten ein kleines bisschen. Das Surren war aber nur vernehmbar, wenn man direkt über ihnen am Balkon auf einer der Liegen entspannen oder ein Buch lesen wollte. 


Die nächste Minute war schon wieder vergangen. Max beobachtete den Sekundenzeiger, der wie ein Messer durch Margarine über das große Ziffernblatt schnitt. Max ließ sich weiter quellen. Zwanzig Minuten waren zu wenig. Das hatte ihn schon als Kind gestört. Vor allem, wenn sie im Sommer am Meer waren und seine Mutter den Urlaub nicht genießen konnte, weil sie ständig darauf achtete, dass er nicht zu nah ans Wasser kam, dass er nicht im feuchten Sand stand, dass die kurze Zeit im Meer penibel eingehalten wurde. Zwanzig Minuten. Es war eine Empfehlung. Aber alle Menschen hielten sich daran. Wenn Max gegen die Vorsicht seiner Mutter protestierte und meinte, es sei ein genereller Richtwert und daher von Mensch zu Mensch unterschiedlich, hörte er immer die gleiche Rede: „Ja, das könnte stimmen. Vielleicht kannst du 30 Sekunden länger drinnen bleiben, vielleicht aber auch nicht. Vielleicht ist dein Pensum nach zwanzig Minuten und 2 Sekunden erreicht. Wenn dann plötzlich die Schmerzen einsetzen. Wenn du so viel Wasser aufgenommen hast, dass dein Limit erreicht ist. Wenn deine Haut derart spannt, dass dein ganzer Körper blau wird. Dass deine Qualen so groß werden, dass du zu schreien beginnst. Aber dann alle schon wissen, dass dir nicht mehr zu helfen ist. Dass man dir nur noch die letzte Gnade erweisen kann, um dein Leid sofort zu beenden. Wir wissen es nicht. Und wir werden es nicht erfahren.“ 

Also ließ sich Max in der Nähe der Treppe treiben, den Blick immer wieder zur Uhr schweifen lassend und im Herzen genervt. In der letzten Minute vor dem Ausstieg hatte er es sich angewöhnt, an der Beckentreppe zu verweilen und die anderen Durchweicher zu beobachten. Es gab immer die Mütter, für die der Thermalbesuch Höllenstress bedeutete und die schreiend und fuchtelnd am Beckenrand standen oder Kindern hinterherschwammen. Es gab die Sportelnden, die in der Sekunde, in der sie das Wasser berührten, anfingen energisch zu kraulen, um jeden Moment auskosten zu können. Es gab die, die einfach das heiße Bad genossen, denen man beim Aufschwämmen regelrecht zusehen konnte und die, die das Bad nutzten, um ihre alten Hautzellen abzuschrubben, ihren Partnerinnen unter Wasser an die Brüste zu fassen oder sich trieben ließen, um die anderen beim Ein-oder Ausstieg zu beobachten. 


17:48. Jetzt musste er aus dem Wasser steigen. Wobei steigen lose gesehen werden sollte. Max musste sämtliche Muskelkraft aufwenden, um mit seinem durchtränkten Körper von der Stelle zu kommen. Er spannte seinen Rücken an und schaffte einen kleinen Hopser. Der erste war der schwerste. Noch einen und noch einen, Zentimeter um Zentimeter. Hopser um Hopser bahnte er sich seinen Weg in die Luft. Die Treppen in und aus dem Pool waren extra so gebaut, dass sie extrem breit und extrem flach beschaffen waren. Die meisten konnte wegen der Schwellungen ihre Beine nicht heben und schafften es nur so allein aus dem Wasser. Aber je weiter man aus der Nässe an die Luft kam, desto schwieriger wurde es. Alle Teile des Leibes, die mit dem Wasser in Berührung gekommen waren, hatte enorme Maße angenommen. Man ging mit dem eigenen Körpergewicht ins Becken und kam übergewichtig heraus. Manche hielten deshalb Finger in die Höhe, oder stiegen nur bis zur Taille ab. Tauchen war verboten. Max hatte sich bis zum Hals in Pool getaucht und hatte es schwer über die Treppen zu kommen. Den letzten Schritt der Stiege an dem Beckenrand schaffte er nur mit allergrößter Mühe. Er keuchte bereits vor Anstrengung, dabei begann jetzt erst der noch arbeitsintensivere Teil. Er musste das Wasser jetzt aus seinem Körper streichen. 


Dafür wobbelte er zu den dafür vorgesehenen Abtropfstellen neben dem Beckenausstieg. Zwei Kolosse warteten vor ihm, so durchtränkt, dass er sie nicht hätte erkennen können, wären es seine Freunde gewesen. Die Abtropfstellen waren konkave, geflieste Kabinen mit Abflussrinnen. Man stellte sich rein und arbeitet sich an sich selbst ab. Die gesamte Breite des Pools war mit ihnen gepflastert, weshalb Max nicht lange warten musste, bis er an der Reihe war. Da alles an ihm bis zum Ansatz seines Halses geschwollen war, begann er damit seine Finger auszudrücken. Dazu streckte er sie aus und versuchte die Fingergelenke zu überspannen, um sie dann langsam wieder einzurollen und zu Fäusten zu machen. Wasser rann aus seinen Fingerspitzen, perlte aus dem Fliesenboden und lief auf den Abfluss zu und hinab. 


Sobald er seine Hänge befreit hatte, strich er mit der linken Hand, den rechten Unterarm und mit der rechts Hand, den linken Unterarm aus. So arbeitet er sich an seinen Armen hoch, um sich von diesen Wülsten loszukriegen und Bewegungsfreiheit in den Gliedmaßen zu erlangen. Die Arme wieder auf ihr Normalgewicht ausgewrungen, während der Rest des Körpers einem Koons-Ballon glich, fuhr Max mit dem Oberkörper fort. Die schweren, durchweichten Beine halfen ihm dabei sogar einen festen Stand zu halten. Und während er mit Hüfte und Beine weitermachte, dachte er, er dürfe seine Zehen nicht wieder vergessen.


„HAAAAAANNES!!!!!!!“ Der Schrei zerhackte die Halle. Sämtliches Geplätscher hörte mit einem Ruck auf. Alle wussten sofort, was diesem Notruf galt und spürten die Panik der Frauenstimme im eigenen Körper zerlaufen. Max spähte vor die Abtropfkabine in Richtung des Schreis. Auf der anderen Seite der Halle liefen Menschen zu einer Liege, direkt am Beckenrand. Ein Mann schaute benommen um sich. Der Ruf seiner Frau hatte ihn aufgeweckt. Irgendwann inmitten seines Nickerchens war sein Fuß von der Liege gerutscht und ins Wasser gehangen. Blau geschwollen zog er ihn aus der Nässe. Bis zum Knöchel war der Fuß fett geworden, und selbst jetzt schien er noch weiter anzuquellen. Der Mann rührte sich nicht, ob vor Schock oder vor Panik, Max konnte es nicht erkennen. Nichts in der Halle rührte sich. Wo man sonst Menschen reden und Wasser plantschen hörte, vernahm man nur noch das Surren der digitalen Uhren. Und dann geschah das unvermeidbare. Die Haut riss. Es spritze Blut, Muskelfasern und Knochenstücke mit einem Mal durch das gesamte Bad. Es klebte an den Wänden, an den Bänken, außen an den Abtropfkammern, schwamm im Pool und hing in den Haaren und auf der Haut der Menschen. Max hatte eben noch den Kopf zurück in die Kabine gestreckt, er hatte schon gewusst, was passieren würde. Er strich seine Zehen aus und hörte die Sanitäter kommen. Den Fuß würde man nicht mehr rekonstruieren können.

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