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Ein neuer Fluss

VON ANISSA //

Im Naturkosmetikladen an der Friedrichstraße sind nachts die Decken eingestürzt. Schwere Mengen heißen Wassers pressten nach unten und überschwemmten das Innere des Geschäfts. Ein immer voller Laden, mit tausendfachen Gerüchen, die in die Nase ziehen und an den Härchen brennen, gefüllt mit sich im Dutzend wechselnden Menschen und lauten Angestellten, deren Nüstern längst immun geworden sind. Fünffach geschulte Profis, die mit schlanken Zeige- und Mittelfingern Pflegelotion mit Duft des Hauses in perfekten Kreisformen und im Takt der Sehnsucht auf fremde Unterarme auftragen. Dort, wo die Haut am dünnsten ist und man die Rillen der Fingerspitzen spüren kann. 


Das Geschäft, menschenleer und voll beladen mit seinen etlichen Absorbanten in Lavendel, Rosmarin und Zitrone, sog das Wasser in sich auf, sodass nichts übrig blieb, bis auf einen riesigen Fluss glitzernder, schlierig sprudelnder, schäumender Natursubstanz. Galaxiebadebomben, Stückschaum brocken, Kaffeesatzcremes, Aprikosenkernbalsame, Wohlfühlbadekristalle, Grünteeextraktgele, Zuckerwattepads, Einhornbäder sowie 35 Tonnen Patchouli in Form von Öl, Creme, Salbe, Parfum, Shampoo, Duschgel, Gesichtsmaske, Nagellack, Handmaske, Nagelmaske, Nagellackentferner, Peeling, Lippenstift und Geschenkgutschein vereinten sich zuletzt in jenem Sud zu einem neuen, großen Ganzen. Klebrige Massen entwichen unter Druck ihren kleinen schwarzen Schraubdöschen, aus ihnen gestapelte Wände stürzten ein, leises, kleines Plastik fiel lautlos in den brodelnden Bach, der frei von Silikonen, Glycerin, Tieren und Polyethylenglykolen keiner Fliege etwas zuleide tun konnte. Klammheimlich, im ewigen Halbdunkel der Großstadt mit ihren dazwischenfunkenden Blitzlichtern, wenn die Fühler der Bahnen die Leitungen schrammen, löste sich alles auf. Ohne auch nur ein Auge auf sie gerichtet zu spüren, vergingen alle diese Tausenden ganz auf sich allein gestellt in ihrer Schönheit. Dinge, die nur darauf ausgelegt sind, im Prozess selbst schön zu werden, wenn sich jeder einzelne ihrer Milliarden Partikel aus ihrem Ding heraus traut, duftend und bunt und geschmeidig, aus seinem alten Ganzen, wie ein dickes Kuckucksbaby, das sich zum ersten Mal aus dem Nest stürzt. Wagemutig, aber immer noch ein Baby, allein hinaus in die Welt. Im Prozess erst ihren Zauber ganz entfaltend, blieb jeder einzelne Partikel in dieser Nacht unsichtbar. Alles schäumte auf, einmal und vorbei, als wäre es umsonst gewesen. 


Und es war umsonst, denn es floss kein einziger Cent in den Laden, nur der Quell heraus, schimmernd und reflektierend unter den roten Blinkern der machtlosen Rauchmelder und grün-weißen Schilder der versperrten Notausgänge. Langsam wabernd war der Fluss, geradezu viel weniger vor anfließend als sich in sich selbst bewegend, wie ein Gasplanet, der sich zusammenhält, indem sich jede einzelne Bewegung jedes einzelnen Teils immer wieder wiederholt und um sich selbst und alle anderen dreht. Im Ganzen vorwärts und seitwärts gleitend, verließ der Fluss den Laden, unwissend, mit welchem Ziel, in endlicher Freiheit losgelassen nur dahin, wohin es ihn mit der Schwerkraft führte. Draußen im Drögen, im Mittel zum Zweck, die Friedrichstraße als Nichtort, ebenfalls unwissend, wohin, nur dafür da, selbst ein Wohin zu sein für alle anderen, dort war es abschüssig und somit sanft für den neuesten Fluss der Stadt, eine Richtung zu wählen. Über Asphalt- und Bordstein, hier und da einzelne Kiesel von man weiß nicht, woher genau, über alte Kirsch- und Minzkaugummis, frische und modrige Spucke, kleine Fetzen aus Papier und Alu, Zigarettenstummel, Brotkrümel und über solche, die von allem hätten sein können, außer von Brot, bewegte sich der Quell zum U-Bahnhofeingang mit den 24 Treppen, die zweigeteilt in 12 einmal gerade und dann wieder links um die Ecke gehen. Der Fluss war. Er war mehr, als dass er floss. Wie glühend brausend war er an den Treppen, auf jeder Stufe und jedem ihrer kleinstgepressten Steine. Er war und wurde die gelben Fliesen des Bodens des zweiten Abschnitts entlang, er war bis in das Foyer zwischen den Rolltreppen hinein, wo die anderen vier Eingänge, die von draußen herunterführten, sich mit ihm trafen. Sie waren ohne einen Fluss auf ihnen vollkommen unberührt, ganz kahl, nur Stein und jetzt fast noch steiniger, als zuvor. 


An jenem Treffpunkt war es, dass der Fluss innehielt. Sein Vorne wurde ein Vorne, das Hinten sich in sich selbst bewegend drang dazu, der Quell war kurz noch Eins und wurde dann viele, langsam, ganz langsam, drang er durch kleine Fugen, er tropfte über die Seiten hinunter auf die Gleise 15m unter ihm, er entrann sich selbst Stück für Stück, wie vorher schon alles andere sich selbst entronnen war, um der Fluss zu werden. So, wie davor schon dampfendes Wasser in die morsche Badewanne der Wohnung über dem Naturkosmetikladen lief und lief und lief, weil jemand friedlich schlummerte, nebenan, den Kopf sicher und vergessen im teuer glänzenden Silikonnackenkissen platziert. Der Fluss entrann sich selbst so lang, bis er nur noch ein Rest war, ein funkelndes Rinnsal, hier dick und fettig, da fein und durchsichtig. Er wurde zur Ebbe seiner vergangenen Flut, ein sich selbst geschriebenes Ende, machtlos, er wurde das, was übrig war von dem, was die Schönheit selbst war, unsichtbar geblieben, alle Augen blind in der Nacht hinter schweren Lidern, vielleicht gerade deshalb schön, weil ungesehen, vielleicht aber auch vollkommen allein, vollkommen verloren, umsonst und sinnlos.  


Am Morgen liefen erste Sohlen durch die Reste, bemerkten sie nicht oder bemerkten sie nur als noch einen weiteren Rest der Stadt, eine klebrige Plage, ein Egal. Etwas, das erscheint und niemand weiß, wieso und niemand schert sich, warum. Immer mehr und mehr Sohlen trugen etliche Partikel mit sich in ihre Wohins und auf die Suche nach neuen Ichs, sich wundernd und enttäuscht über den verhangenen, geschlossenen Naturkosmetikladen ihrer Wahl. Glitzer, Patchouli, Lavendel, Zuckerwatte und Galaxien wurden eins mit allem und allen um sie herum, ewig und immer noch in der Schande des Unsichtbaren, im Triumph des Heimlichen.

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