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Ein Steckkasten, mein Hund und ich, morgens


Ich wache auf.

Ich wache auf und bin erstmal ein Mensch. Sehe weit hoch über mich und neben meinem Kopfkissen steht ein Laptop, der mich zu lang wachgehalten hat. Meine Finger wackeln auf der Matratze, schlagen dann die warme Decke zurück und merke jeden Tag aufs Neue, wie bequem meine Hausschuhe sind auf meinem Weg ins Bad und dann in die Küche, wo ich mir irgendein Frühstück mache, bevor ich mir nur obenrum was anziehe oder vielleicht ein Kleid. Meine Katze schnurrt und schubst mich ein bisschen, als sie sich gegen mein Bein drückt, aber eigentlich meint sie es nett. Bin einer dieser Menschen, die denken, dass alle Katzen irgendwie nett sind. Sie springt auf den Tisch, versucht mir eine Weintraube zu klauen. Ich lasse sie. Ich denke: Vielleicht kann ich sie jetzt dressieren. Ich denke: Irgendwann springe ich hinter ihr her.


Ich wache auf und bin kurz verwirrt, weil es so dunkel ist in dem Zimmer. Ich bin gerade erst umgezogen, ich kenne das schon, ich ziehe ziemlich oft um. Die ersten paar Tage ist man noch kurz verwirrt. Jetzt aber besonders, weil es in meinem vorherigen Zimmer eigentlich immer hell war, auch nachts, weil eine Straßenlaterne direkt davorstand.


Ich wache auf und stehe auf und gehe ins Bad. Ich muss aufs Klo. Es ist dringend. Ich hatte so einen Traum, in dem man die ganze Zeit denkt, dass man aufs Klo muss, weil man in echt auch aufs Klo muss, und dann träumt man, dass man aufs Klo geht und wundert sich, warum das Gefühl nicht besser wird. Zum Glück hab ich nicht ins Bett gepisst. Vor Erleichterung mache ich so ein Geräusch, das Boomer machen, wenn sie was Leckeres trinken, so ein „Aaaah“. Mir ist das ein bisschen unangenehm und ich bin froh, dass niemand das gehört hat. Ich stütze mein Kinn in meine Hand und weiß nicht, wann ich mich zuletzt rasiert habe.

Ich wache auf und mein Gesicht ist ganz nass.


Ich wache auf. Vielleicht ist heute der Tag, an dem ich dieses Buch fertiglese. Ich mag es nicht, so wie die meisten Bücher, die ich lese, von denen ich aber immer wieder höre, dass man sie unbedingt gelesen habe sollte. Keine Ahnung, warum man schlechte Bücher lesen muss, nur weil sie alt sind.


Ich wache auf und bin allein. Ich denke: Vielleicht ist das jetzt für immer so. Vielleicht bleibt das der Dauerzustand. Vielleicht liegt das an mir und stehe auf und gucke in den Spiegel und rasiere mich, weil ist schon ein paar Tage her und das kratzt dann so komisch. Rasiere mich lieber nochmal, nur um sicherzugehen, dass ich auch alles erwischt habe. Nassrasierer sind nicht mehr so zuverlässig.


Ich wache auf und meine Finger wackeln auf der Matratze für einen Moment, dann schließe ich die Augen wieder und ich glaube, ich schlafe für ein paar Sekunden wieder ein.


Ich wache auf. Sind meine Augen heute grün oder braun oder blau? Ich vergesse manchmal, wie ich eigentlich aussehe. Und dann vergesse ich auch, wie mein Lieblingslied heißt oder wofür ich eigentlich aufwache. Ich vergesse, was ich normalerweise zum Frühstück esse oder wie ich dieses Gefühl in meiner Blase loswerde, weil eine viel größere Frage alles andere überschattet.


Ich wache auf und finde deinen Geruch in meinem Bett. Das ist komisch, weil du noch nie in diesem Bett warst und überhaupt, ich habe dich seit drei Jahren nicht mehr gesehen. In meinem Kopf spreche ich aus Versehen so viele Menschen mit deinem Namen an, dass ich mich selbst nicht mehr ernst nehmen kann. Ich versuche, deinen Geruch aus meinem Kopf zu kratzen und ihn in einen von diesen Zip-Beuteln zu packen, die man auch mit ins Flugzeug nehmen kann. So wie wir früher. Klappt aber nicht, weil dein Geruch auch meiner ist.

Ich wache auf und neben mir schwimmt ein Fisch. Ich lasse ein paar kleine Luftblasen aufsteigen, Seegras kitzelt meine Fingerspitzen. Über mir ist eine große Weite, die mir viel verspricht, irgendetwas zieht über mich hinweg und ich spüre so eine Unruhe, als hätte ich was vergessen oder einfach nie verstanden.

Ich wache auf und fühle mich dann manchmal ganz lang. So wie heute. Die Welt besteht aus komischen geometrischen Figuren, in die ich einfach nicht reinpasse, egal wie sehr ich es versuche. Ich nehme ein Stück Papier und schreibe „Hallo, könnt ihr mir Geld geben, damit jemand ein Stück von mir abschneiden kann?“ und die schreiben zurück „Klar, logisch, aber nur unter bestimmten Voraussetzungen“ und dann tue ich so, als würde ich diese Voraussetzungen erfüllen und jemand schneidet was von mir ab und aus mir raus und ich passe plötzlich perfekt in diesen geometrischen Steckkasten, aber fühle mich dabei, als hätte ich irgendwas falsch gemacht.


Ich wache auf. Ich weine. Ich gucke Nachrichten. Ich weine weiter. Ich gehe schlafen.

Ich wache auf und zwischen meinen Beinen ist es rot. In mir drin tut alles so komisch weh und ich frage mich, ob ich mich nicht langsam daran gewöhnt haben sollte. Ich muss aufs Klo.

Ich wache nicht auf. Heute nicht.


Ich wache auf und bin ein Leuchtturmwächter. Ganz alleine wohne ich hier und um mich herum ist immer Sturm, aber wenigstens habe ich einen Grund, immer aufzustehen und immer der gleichen Routine nachzugehen. Die Schiffe da draußen zählen auf mich. Ich bin der einzige Grund, aus dem unzählige Seeleute überhaupt noch am Leben sind. Manchmal lässt diese Verantwortung mich innerlich erzittern und dann erstarre ich für einen Moment in meinen Bewegungen und kann die Leuchtsignale fast nicht hinaus in die dunkle Nacht schicken.


Ich wache auf. Vorm Spiegel frage ich mich, welche Lidschattenfarbe ich heute tragen möchte. Ich entscheide mich für rosa, wie eigentlich jeden Tag. Ob man da überhaupt noch von einer Entscheidung sprechen kann, weiß ich gar nicht so genau. Das Rosa passt zu meinen Haaren und den Kontaktlinsen, die ich ständig trage. Es dauert Stunden, bis ich endlich ich selbst bin.


Ich wache auf und sehe wie durch tausend Augen. Ich surre über mir. Ich denke an nichts. Plötzlich jagt mich jemand durch den ganzen Raum, panisch hänge ich von der Decke, krabbele zwischen Ritzen, verstecke mich hinter der Vertäfelung. Neben mir fühle ich etwas atmen.


Ich wache auf und kann mich fast nicht aushalten. Ich defragmentiere mich. Ich denke: Wer? Und dann denke ich: Warum? Ich frage mich, wie ich es jemals aushalten soll, ich selbst zu sein. Ich drehe mich auf die Seite und starre auf meine Kleiderstande, da hängt Kleid neben Hose neben Anzug neben Rock neben Leggins neben Pulli neben Bluse. Da liegt BH neben Boxershorts neben Tanga neben Binder neben Packer neben Silikonbrüsten. Da liegt mein Leben neben meinem Leben neben meinem Leben neben meinem Leben. Und ich tausendmal in mir.


Ich wache auf. Ich ziehe meine warmen Socken an, meine Hausschuhe, meinen Morgenmantel. Ich gehe nach draußen auf die Terrasse. Da sitzt schon meine Frau mit unserem Kind und unserem Hund, der im Garten spielt, während die beiden frühstücken. Wir haben ein Haus auf einem Hügel in einem kleinen Dorf, wo sich jeder kennt und mag und grüßt. Unser Gartenzaun ist weiß angestrichen. Der Zeitungsjunge bleibt auf eine Tasse Kakao. Meinem Hund fällt der Kopf ab. Er wedelt weiter fröhlich mit dem Schwanz.


Ich wache auf. Jemand versteht mich. Ich bin allein.


Ich wache auf.


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