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Eine willkürliche Grenze


Du hast zu mir gesagt, es mache dich verrückt, wenn ich dich nicht anfasse. Aber das liegt nicht nur an mir, sondern daran, dass Menschen ohne Körperkontakt sterben, sie sterben.

Du willst nicht, dass andere Menschen dich anfassen, ekelst dich vor ihrer Nähe. Also bist du auf meine Hände angewiesen, forderst von mir deine Geborgenheit. Aphephosmophobie bezeichnet diese Angst vor Berührungen, aber davon willst du nichts wissen. Lieber weißt du alles von mir und meiner Angst vor Zurückweisung, meiner Distanzlosigkeit. Ich habe mich anfassen lassen, als wäre ich schon gestorben, habe mich so oft von anderen Menschen anfassen lassen, dass ich die Fremde wurde.

Wenn wir dicht nebeneinander liegen, denke ich oft, dass unsere Haut nur eine willkürliche Grenze ist, eine, die die Angst in deine und meine teilt. Dann erinnere ich mich an das Gedicht, in dem ein Mädchen bittet gehalten zu werden, um zu wissen, wo der Schmerz aufhört. Aber unser Schmerz scheint unendlich und wenn wir uns halten, höre ich auf und deine Angst fängt an. Das Wort Haut kommt von Hülle und lange habe ich versucht meine Ängstlichkeit zu verhüllen, sie nie zu äußern. Unsere Häute haben ihre eigenen Rezeptoren, nehmen mit ihren Sinneszellen nicht nur Druck oder Schmerz, Wärme oder Kälte wahr, sondern vor allem auch unsere gegenseitige Angst. Du bist der Aktivere von uns beiden, der Haptische, du erschaffst dir die Welt, indem du zupackst, hast so auch uns erschaffen. Ich habe nur eine taktile Wahrnehmung, ich muss berührt werden, um zu wissen, dass ich bin, umarmt werden, damit alles einen Sinn ergibt. Bei der Geburt ist der Tastsinn weiter entwickelt als alle anderen Sinne, Berührungen sind unsere erste Sprache. Affenbabys, die von ihren Müttern getrennt werden, verbringen ihre Zeit lieber bei einem weichen Stoffersatz, mit dem sie kuscheln können als bei einem Drahtgestell, das sie mit Milch füttert. Auch ich wäre lieber verhungert, als auf deine Nähe zu verzichten, aber das sagt mehr über meinen Lebenswillen als über deine Beschaffenheit aus und vielleicht bin ich in diesem Experiment auch nur aus Draht, sicher sind wir beide in diesem Experiment nur irgendein Ersatz. Studien zeigen, dass der regelmäßige Körperkontakt einer der Gründe ist, warum Menschen in einer stabilen Partnerschaft seltener am Herzen erkranken und wenn wir dicht nebeneinander liegen, unsere Haut nur eine willkürliche Grenze, dann denke ich oft, dass vielleicht auch wir trotz allem nicht am Herzen erkranken.


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