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Eingebläut

VON AVY GDANSK //



North Carolina: In ihrer Erinnerung waldblau. Die Neunziger: Körnig und plastikglatt zugleich. Die Fotos: Absolventen-Ozeane, Meer aus Gesichtern, Schaumkronenzähne. Das College: Warmes Bibliothekslicht, Sonnenschein auf Jeansstoff. Ihre Freunde: Igashowe (lauthals), Mer (nachdenklich), Andie (widerspenstig). Und Silke selbst (Silky, Sil): Verträumt und beobachtend.


Die Einladung kam per Post, die Lüfte durchbohrend, die blauen Himmel (im Plural), kam in einem weißen Umschlag, nahm aber unterwegs die Bläue der höheren Sphären an, bevor sie grazil durch den Einwurfspalt auf den Boden des Briefkastens fiel. Silke drehte sie zwischen den Fingern wie ein fremdes, zu untersuchendes Objekt, öffnete sie, und mit der Karte klappte auch ihr Gedächtnis auf, fiel ihr Vergessenes ein, wie gepresste Blätter aus Buchseiten fallen. College Reunion – 20 years. Andie hatte ihr angeboten, die drei Wochen davor und danach bei ihr zu wohnen. Sie würde gehen, sie würde fliegen, auf blauen Bahnen würde sie bis an die Ostküste gleiten.


*


So kam Silke damals an, von oben: Unter ihren Füßen krümmte sich der Boden, und mit der Landebahn kamen auch ihre Träume näher; so nah, dass es keine mehr waren. Seltsam, auf Wegen zu laufen, die man nur in der Vorstellung begangen war, mit schwerelosen Beinen. Nun hatten ihre Schritte plötzlich Gewicht und stießen auf Widerstand (die Echtheit der Welt). Ein Stipendium für die UNCA im Herzen der Blue Ridge Mountains. Jetzt erst sanken die Worte ein, war Silke Fleisch geworden in der neuen Welt.

Auf dem Parkplatz des Asheville Regional Airport sah sie Andie zum ersten Mal. Andie: Hochgestecktes braunes Haar und grüne Tropfenohrringe, viel zu schick für das verwaschene Nantahala National Forest-Sweatshirt und die ausgebleichte, vormals schwarze Jeans dazu. Andie, ihre Kommilitonin und Gastfamilienschwester. Immer eine exquisite Mischung aus Gartenstiefeln und Make-Up, aus warmherzig und zynisch. Andie holte sie mit einer quetschenden Umarmung und einem ziemlich verdreckten Ford ab. „Wir fahr‘n auf dem Rückweg durch die Waschanlage. Hab’s vorher nicht geschafft. Meine Mom muss davon nix wissen. Also dann“, sie klopfte auf das Wagendach und öffnete Silke die Beifahrertür, „steig ein. Willkommen in Asheville!“ Welcome to Asheville. Das ‚herzlich‘ blieb aus, fehlte ihr aber nicht.


Das Englische ein Waldgebiet, dessen Karte Silke auswendig kannte, aber nun bewegte sie sich das erste Mal richtig in der Sprache, im dichten amerikanischen Unterholz. Ihre eigenen Worte kamen formvollendet, doch ungekannt aus dem Mund. Mit der Zunge befühlte sie die Konturen ihres Nachgeschmacks. Wie eigenartig es war, dachte Silke schon damals, wie unterschiedlich sie die Dinge behielt. Alles wurde in einer fremden Sprache gesprochen, doch manche Wörter waren einem durch den Klang vertraut, andere blieben ganz fern, blieben in Amerika stecken, als sie wieder ging, weil sie nicht mit ihr übersetzten.


Abortion war das erste Wort, das Silke sah, als sie in den Flur des kleinen Holzhauses trat. Ein Schild, in die Ecke gelehnt, auf dem in Pechschwarz die Worte Abortion is Murder gepinselt waren. „Auch eine Art, sein Haus zu gestalten, was?“, lachte Andie. „Innendesign à la Bible Belt.“ Sie nahm Silke die Jacke ab, zog ihre schlammigen Stiefel aus und bat ihren Gast ins Wohnzimmer. „Eigentlich lässt meine Mom den Kram nie so offen rumstehen, aber morgen geht sie wieder protestieren. Die beste Zeit für außerehelichen Sex. Kann ich dir was zu Trinken anbieten?“


Das Haus war aus Holz und stand am Stadtrand. Oder viel eher am Waldrand. Wenn man morgens die Fenster aufstieß, um zu lüften, kam einem der kühle Duft entgegen. Im Sommer mittags dann der Geruch von warmem Waldboden. Silke zog die Luft in ihre verästelten Lungen ein, in abzweigende Adern, als wüchse ein Baum in ihr, doch verkehrt herum, wüchse in sie hinein, in ihr Blut. In der Brust die Krone, und wo waren die Wurzeln? Sie mussten zum Mund herauswachsen, von Luft leben, vom Echo der gesprochenen Gedanken. Silke, verwurzelt in Atem und Worten. Blühte auf im Gespräch.


Andie blühte in der Körpersprache. Wangen, als leuchteten Blumen darunter. Die Augen glasiert und die Lippen so voll, dass sie sich nicht mehr schlossen. Parted. Geteilt. Und darum ein Ganzes. Vollkommen. So sah sie aus, wenn ihr Freund Ambrose das Haus verließ. Andie inspizierte danach immer Kissenbezüge und Treppenstufen, damit kein einziges seiner langen, schwarzen Haare mit den roten Strähnen zurückblieb, um sie zu verraten.

Das Fundament für Andies Freiheit war der Fundamentalismus ihrer Mutter. Arbeitete Miss Richmond nicht als Floristin, nahm sie an Gottesdiensten ihrer Gemeinde teil oder protestierte vor Abtreibungskliniken. Diese Stunden nutzte Andie, um sich zu vergnügen. Miss R, wie ihre Freunde Andies Mutter nannten, machte sie weis, sie hielt Bibelstunden mit ihrer Freundin Meredith. Nur deshalb ließ Miss R sie gewähren, wenn auch zögerlich. Obwohl Andie und Mer seit Kindheitstagen Freunde waren, schien sie nervös darüber, dass ihre Tochter sich mit einem schwarzen Mädchen traf, dessen Eltern sie für Kommunisten hielt.


„Aufstand lohnt nicht“, erklärte Andie, als sie an Mers Wohnzimmertisch ‚vorproduzierten‘. Dabei schrieb jede von ihnen einen Bibelvers auf Papier und verzierte ihn mit bunten Sprenkeln. Dann hatte Andie genug Alibimaterial für einen Monat. Andie, die wie eine Tochter in Mers Haus empfangen wurde und sich dennoch wie ein Gast benahm. Mers Familie war für Andies liberale Bildung verantwortlich gewesen, ein Fluchtort vor den religiösen Eskapaden ihrer Mutter. Andies Meinung nach versuchte Miss R sich nur vor der Gesellschaft zu beweisen, weil sie mit siebzehn ein Kind bekommen hatte und sitzengelassen worden war.

„Soll ich mir die Mühe machen, zu diskutieren, oder lüge ich lieber und genieße das süße Leben? Vernunft prallt an dieser Frau eh ab“, spottete Andie über ihre Mutter, der sie gram war wegen ihrer Leichtgläubigkeit. „Sie tötet Blumen und isst totes Tier, doch ein Haufen Zellen ist ihr wichtiger als die austragende Person. Als führte die kein Leben.“

Silke versah ihr gerade vollendetes Bibelblatt mit roten und blauen Wasserfarbklecksen. „Ich könnte das nur nicht“, sagte sie, „überzeugend etwas vorspielen, das mich anwidert.“ Dis-Gussst. Silke mochte die Zischlaute im Wort, wie viel Abscheu man hineinlegen konnte.

Andie lächelte. „Genau darin liegt die Genugtuung“, erwiderte sie, „in dem Wissen, dass mich nichts davon berührt, was ich hier runterschreibe. Dass ich hinter ihrem Rücken mein eigenes Leben führe. Aber ich spare dafür, auszuziehen. Nicht zuletzt, weil der Typ dauernd vorbeikommt.“ Damit meinte sie Dan, Partner und Glaubensgenosse ihrer Mutter, der sie unbedingt heiraten und bei ihr einziehen wollte. Dass Miss R noch nicht eingewilligt hatte, nahmen sie als Beweis ihres eigenen Willens an, als letzte Bastion gegen die Manipulationen von Dan. Sie schien oft hilflos darin, ihm etwas zu entgegnen. Also wehrte sie sich mit Unwillen allein, hielt sich den letzten Raum frei, der ihr eigen und nur halb kontaminiert war.

Auch Andie besaß eine große Freiheits- und Entfaltungsliebe, weswegen es für sie nicht infrage kam, ein Collegezimmer zu teilen. „Lieber gleich eine eigene Wohnung, auch wenn’s länger dauert.“

A Room of One’s Own”, warf Mer wieder mal mit Zitaten um sich. “Privatsphäre ist wichtig. Wir sind nur wirklich frei, wenn wir allein sein können. Ganz für uns. Dann sind wir am ehrlichsten, sind wir selbst. Denn wie Kipling schrieb: We’re all islands shouting lies to each other across seas of misunderstanding.“ Andie behauptete immer, Mers Pessimismus käme von den Büchern, die sie las. Insgeheim schämte sie sich ein wenig dafür, nicht so belesen zu sein.

„Oh, Mer, bist du denn nicht du selbst, wenn wir zusammensitzen?“ fragte sie ihre Freundin mit einem Grinsen, und doch hörte Silke eine gefährliche Neugier heraus – die Hoffnung, einen Menschen ganz zu kennen.

„Wir sind 19, Andie. Nicht mal ich selbst kenne alle Seiten an mir“, entgegnete diese ebenso weise wie ausweichend. Sie warf ihre langen Braids zurück und beugte sich über das Papier. Die Perlen an den Enden ihrer Zöpfe machten ein helles Geräusch, als sie aufeinandertrafen.


*


Silke hörte ein helles Geräusch und drehte sich um. Andie stand hinter ihr, Hände in den Taschen der übergroßen Fliegerjacke, und schnalzte mit der Zunge. „Hey Sil, hier kommt dein Shuttleservice.“ Silke lächelte und grüßte nur verhalten. Sie störte sich an der Sonnenbrille (Verfremdung, Augenfinsternis). Früher hatte sie Andies Augen folgen können, nun verwischte sie die Spuren ihres Blicks. Sie umarmten sich mit Nachdruck, aber die Wärme musste nach zwanzig Jahren erst wiederhergestellt werden, das fühlten beide.


Im Auto dann, als würde der Raumwechsel die Zunge lösen, als würde die Landschaft von der Verlegenheit ablenken, als könnte man Vertrautheit leichter zimmern, wenn man niemanden an-, sondern nur nach vorne schaute, hob sich die Undurchdringlichkeit von Andies Augen. „Entschuldige die Brille“, sagte sie sanft und schaute sie zum ersten Mal wieder richtig an, „die brauch ich mittlerweile. Es sind nicht viele Dioptrien, aber das soll ja so bleiben. Außerdem“, Andie lachte, „sieht‘s lässig aus. Und wer alt wird, sollte wenigstens cool sein. Wir fahren zu meinem Haus, okay? Da kannst du auspacken, bevor wir zu Meredith gehen.“ Silke horchte auf. „Seit wann nennst du sie bei ihrem vollen Namen?“ Andie war wieder hinter der Brille abgetaucht (unleserlich). „Sie hat einige neue Seiten an sich entdeckt. Du wirst schon sehen.“


*


Silke schlug Wörter nach, Silke schlug nach Wörtern. Mit der Faust, mit dem Dictionary. Lieferte sich Wortgefechte mit der Sprache allein. Wählte, welche Wörter sie behalten, sich merken wollte und welche sie zum Teufel schickte, dem oft beschworenen Gast in diesem Haus, dass er sie mit seinem schwarzen Speichel veredeln möge, damit sie ihr leichter über die Zunge kamen.


Zum Beispiel: chaste. Zum Beispiel: servile. Zum Beispiel: peccable.

Die hörte sie fast jeden Tag von Andies Mutter, deren Wortschatz um biblische Begriffe kreiste wie ein Pferdchen auf dem Karussell. Miss Richmond: Leugnete ihre Jugend mit gedeckten Farben. Schämte sich ihrer Schönheit – und trug sie doch mit einer gewissen Genugtuung. Auch Dan hätte es niemals zugegeben, aber wäre Miss R bloß tugendhaft und keine hübsche, noch junge Frau, würde er niemals so vehement versuchen, sie an sich zu binden.

Sie hatte ein erstes und ein zweites Gesicht, einen ersten und einen zweiten Körper, und die Person, die zu dem zweiten gehörte, lebte im Fahrerraum des Fords, wenn Miss R alleine fuhr, lebte im Hinterzimmer der Gärtnerei und auf dem zweiten Boden des Verbandskastens im Badezimmer. („Nur zwei Gesichter?“ hatte Mer einmal gefragt. „Ein bisschen wenig.“)

Andie ließ oft ihre Finger durch die Fläschchen, Tuben und Döschen gleiten, die in engster Vertrautheit beieinanderlagen, hob man nur das Oberteil mit den Pflastern, dem Jod und den Schmerzmitteln heraus. Sie befühlte die geheimen Schönheitsmittel voll Zärtlichkeit, wie jemand Blindes ein Gesicht ertastet. Die dünne Blisterverpackung, die ganz am Rand steckte und lauter angebrochene Tage enthielt, nahm Andie ehrfürchtig in die Hände wie eine Reliquie. Die fromme Miss Richmond nahm die Pille. Andie zeigte Silke die Geheimverstecke ihrer Mutter, als wollte sie beweisen, dass sie eigentlich anders war als die Frau, die sie kannten. Da verstand Silke, dass das Doppelleben zur Familie gehörte.

Andie legte den Beipackzettel wieder zusammen, steckte ihn an den Rand. Aus ihren eigenen hatte sie kleine Origamitierchen gebastelt, die auf ihrer Kommode standen, Zuwachs mit jedem neuen Rezept. Inhaltsstoffreste, Nebenwirkungsfetzen auf den Flügeln und Köpfen, als wollten sie etwas verraten, trauten sich aber nicht.

Vielfältig, dachte Silke, wenn sie sie betrachtete, bedeutet viel gefaltet. Auch wir: Papiergestalten, bestehen aus vielen Seiten, manche zu- und manche abgewandt. Ein paar immer nach innen gekehrt, lesbar nur für uns.


Vielleicht war Andie gekränkt von den Seiten, die sie nicht sehen durfte, davon, dass es sie gab. Beschloss deshalb, nicht offen zu rebellieren, sondern hinter dem Rücken ihrer Mutter. Eine abseitige Welt, von der sie nicht wissen, die sie weder betreten noch verstehen sollte. Im Vordergrund des Bildes: Andie mit einer Rosenkranzkette. Im Hintergrund das Zimmer mit der Leinwand voller Bibelzitate. Darunter, wenn Andie sie abhängte: Ein Bild von Rozz Williams. Im Regal eine massive, ausgehöhlte King James-Bibel mit CDs von Christian Death, Danzig und Marilyn Manson sowie ihrer eigenen Blisterverpackung. Andie: doppelbödig, ungehorsam, verbergend. Ganz und gar die Tochter ihrer Mutter.


Dan dagegen: eindimensional, einseitig, einfältig. Ein Blatt im Wind, das seinen Kurs nicht steuern konnte. So wirkte er zumindest. Hatte sich selbst dazu gemacht, indem er die verletzlichen Seiten zugeklebt hatte – und merkte nicht, wieviel angreifbarer er dadurch wurde.

Dan neidete anderen ihre Komplexität, sodass er sie auf etwas Greifbares reduzieren musste, auf etwas, das man zerknittern konnte wie ihn selbst – alles andere machte ihm Angst.

Wie alle Feiglinge neigte er zur Anmaßung: Sein wissendes Lachen, wenn er eigentlich keine Ahnung hatte; seine spitzen Bemerkungen, die den anderen abstempeln sollten; seine flachen Deutungen innerer Beweggründe. „Ich kenne dich“, sagte er oft und benutzte es wie eine Drohung.

Er war wohl wütend, weil er selbst so einfach zu begreifen war – er, der sich benahm wie die Axt im Wald und es dann auf seine traumatische White-Trash-Kindheit im Trailer schob. Seine Psyche so leicht zusammengesteckt wie ein Vier-Teile-Puzzle. Er, der vorgab, Frauen zu achten und sie doch nur kontrollieren wollte – eine ewige Rache an seiner eigenen, liebesunfähigen Mutter.

Andie sah darin das, was Dan und ihre Mutter verband: Der Wunsch, andere zu bestrafen, weil sie selbst hatten leiden müssen. „Wenn sie die Folgen ihrer Liebschaft tragen musste, sollen andere das gefälligst auch. Und weil Dan es schlecht hatte, soll es anderen genauso gehen. Im Grunde wissen beide, dass aus Zwang oft kaputte Familien entstehen. Aber sie wollen Vergeltung, weil sie keine Wahl hatten. Um die ‚Ungeborenen‘ geht es gar nicht. Ihr Mitleid ist eine Lüge.“ Mer, deren Mutter Frauenärztin war und auch Andie mit der Pille versorgte, ergänzte düster: „Mehr noch, all ihre Behauptungen zu dem Thema sind dreiste Lügen. Dass diese sich in den Köpfen festsetzen, ist ein ernstes Problem. So kaltherzig und egoistisch kann nur jemand sein, der emotional ein Kleinkind geblieben ist.“


*


Andie wohnte nun in einem anderen Haus, wieder aus Holz, wieder mit porch. (Dieses Wort, Inbegriff der Gemütlichkeit.) In so einem Haus sah Silke sich immer wieder, sah sich hier. Der Garten voll Gemüse und voller Holzskulpturen. Andie lebte von ihrer Kunst, der sinnlichsten der Künste. Skulpturen aus jeder Art von Material, sie formte Körper mit Händen, sie gab ihnen Geist. Bastelte Gesichter für jeden Anlass. Auch ihr Heim ein Geisterhaus, Masken und Wesen an jeder Ecke, auf jedem Balken, in jeder Nische. „Sie schützen das Haus“, sagte sie.


Etwas später saßen sie mit Mer im Café. Mer: Neuerdings Universitätsprofessorin. Kurz getrimmter Afro statt Braids. Ein langes Kleid in knallig bunten Farben. Früher hatte sie sich nie so betont afrikanisch gekleidet. Andie und Mer warfen sich einen Blick zu, als hätten sie sich lange nicht mehr gesehen, oder nur noch in einem bestimmten Licht.

„Klar“, hatte Mer damals gesagt, als Silke ihr in der Bibliothek von ihrer Theorie der Vielfältigkeit erzählt hatte, „klar sieht man immer nur einen Teil, aus jeder Perspektive einen anderen. Würde man alle Seiten gleichzeitig sehen, käme eine bizarre Gestalt heraus, verstörender als ein kubistisches Gemälde. Manche Seiten sind nicht gleichzeitig denkbar und dennoch da, weil wir aus Gegensätzen bestehen. Das Schlimmste aber ist: Papier brennt gut.“


Gerne hätte Silke gefragt, welche Seiten Mer gerade herauskehrte und welche verborgen blieben, aber sie traute sich nicht, noch nicht. Sie fühlte sich noch zu neu und zu frisch in Mers Leben, das sich sichtlich verändert hatte. So sehr, dass nicht mal Andie sie lange genug zu kennen schien. Andie, die von Mers Intellekt noch eingeschüchterter wirkte als früher.

„Wann kommt er denn?“, fragte Mer plötzlich. „Wer?“, fragte Silke zurück. Andie schaute auf ihr Handy. „Später“, sagte sie, „wie immer. Aber er ist unterwegs.“ Sie konnte nur von einem reden, der noch in der Runde fehlte. Silke wusste natürlich, dass er dabei sein würde, dass er dazugehörte, aber sie hatte Angst davor, seine wirkliche Nähe mit der in ihren Gedanken zu vergleichen, wo Igashowe ihr täglich einen Besuch abstattete.


*


Botanischer Garten: Herbstlaub so rot wie die Rückseite der Lider. Silke rechte es zusammen, sie liebte diesen Nebenjob als Assistentin der Gärtner. Das Semester hatte gerade begonnen, Environmental Studies, ihr Kopf war voller Blätter, voll Bestimmung. Sie sah ein Stück Rinde und ordnete es einem Baum zu, hob eine Plastikverpackung auf und entsorgte sie, griff nach einem abgebrochenen Zweig im Geäst einer jungen Rosskastanie. Sie musste viel rütteln, bis er sich herausziehen ließ. Dabei regnete eine Kaskade aufplatzender Kastanienhülsen zu Boden. „Au!“, kam es von der anderen Seite des Baumes, „Du hast mein Herz getroffen!“ Silke schaute um die Ecke. Sah ihn, das aufgeklappte Buch in seinem Schoß (Anatomie). Sah die Spitzen der Hülse, die auf der angehobenen Seite in der Abbildung eines Menschenherzes steckten – und musste lachen.

Igashowe war Biologie-Student, der sich auf Humanmedizin spezialisieren wollte, „denn hierzulande sollen die Ureinwohner immer nur Ranger werden, aber der Aderwald interessiert mich viel mehr. Wie war noch mal dein Name? Silky?“ Sie schloss ihn sofort ins Herz (ins echte).


Mit ihm stand sie zum ersten Mal in den Blue Ridge Mountains, auf dem Gipfel des Mount Mitchell, besah die Lagen bewaldeter Bergrücken, geschichtet, gefaltet, aufgestaut. Sie wusste, woher die Verblauung kam: Isopren, das aus den Bäumen strömte. Wie eingebläut war der Wald, bläute sich auch in ihr Gedächtnis ein in seiner schieren Endlosigkeit. Wie klein der Mensch, das Papierwesen. Papier aus Holz, Holz vom Baum: Sie waren Waldpartikel. Neben ihr Igashowe, Haare und Schal im Wind, ließ etwas von seinen Lippen, das ihr bis heute mit blauem Schatten nachging: „Der Wald ist zeitlos schön und unparteiisch.“

*


Als Igashowe eintrudelte, Jeansjacke und Kreole im linken Ohr, flatterten Silkes Papierecken; sie wusste nicht, von welcher Seite sich zeigen. Aber Igashowes Mund – „Silky!“ – wuchs an den Winkeln, als könne er es nicht unterdrücken, wurde breit, das Lächeln brach auf, das Licht platzte heraus. Igashowes Mund: So viel Platz für Sonne, dass der Schatten es warm hatte. Er drückte Silke an sich, machte ihr den Wortstamm von Umarmung begreiflich. Kurz klebten ihre Hälse aneinander wie Papier beim Verschließen eines Briefumschlags. Igashowe roch nach Harz. Als ihre Haut sich von der andern löste, öffnete sich das Kuvert. Wartete aufs Hineinlangen. Die Hände würden noch kommen. Begreifen und Begrifflichkeiten.


Die beiden nahmen Platz, Mer kommentierte Igashowes Southern Death Cult-Shirt (ungewohnte Angriffslust): „Ach, Ian Astbury, der weiße Mann mit dem Mohawk. Macht dir die kulturelle Aneignung nichts aus?“ Igashowe schnaubte amüsiert. „Bringt mir meine Mokassins! Und eine CD von Buffy Sainte-Marie, damit ich diesen weißen Teufel austreibe!“ Er zwinkerte und streckte Mer die Zunge raus. „Darf ich auch ein Individuum sein o