VON DANA SHIRLEY SCHÄLLERT //
Vom Schreibtisch aus wirkt das eigentlich nicht viel anders alsn Poster, denkt Lisa, wie oft, aber dieses Mal nur kurz, pro forma, denkt es unecht, blickt nach oben, da ist ihre Zimmerdecke, zur Schräge geworden, die sich über ihren Arbeitsplatz wölbt, als sei der eine Höhle, ein behagliches kleines Nest, in dem sie abends nach langem Tag allein zur Ruhe käme. Es ist dunkel im sorgfältig aufgeräumten Raum, bis auf eine funzelige kleine Deckenleuchte mit leicht flackernder Birne, ein Energiespardings, die Wände liegen in gemäßigtem Grau, das kleine Rechteck des Schrägenfensters nimmt sich tatsächlich aus wie ein Bild, ein Poster oder ein Stück nur leicht andersfarbiger Tapete, auf die Lisa schaut, wenn sie ihren Blick vom Bildschirm hebt, in dem sie niemals ihr Spiegelbild erblicken kann, so dunkel ist sie selbst, höchstens den Lichtpunkt der Lampe. Lisa tut das normalerweise nicht. Den Blick heben. Nach oben schauen. Zeit verschwenden auf etwas, das nicht notwendigerweise gesehen werden muss. Das hat sie sich abgewöhnt, denn Zeit hat sie dauerhaft zu wenig. Wenn sie da aber hinschaut, was sie nie tut, nur jetzt gerade, auf dieses Poster, das kein Poster ist, sondern ein echter Ausschnitt des Nachthimmels, des, tatsächlich, des Weltalls, dann muss sie zweimal hinschauen, dreimal, mehrfach hinschauen, um notgedrungen zu begreifen, dass dieser Bildschirm, dass dieser Raum, all das, was sie ganz unmittelbar umgibt wie eine Erde, die eine Scheibe ist oder vielmehr ein Schuhkarton, an deren Deckel jener merkwürdige Flackerfixstern thront, dass das alles von einer nicht fassbaren Relativität ist. Wahrscheinlich ist es gemeinhin einfacher für Lisa, den rechteckigen Ausschnitt für ein Poster zu halten. Die Alternative wäre unerträglich. Denn sie, denn das Verrutschen jenes Schuhkartondeckels bedeutete, dass das, was unausweichlich, was unhinterfragbar, was ernst und schwer ist, letztlich nur ein miniaturesker Ausschnitt einer Gesamtwirklichkeit ist, die sich über Zeiten, über Räume erstreckt, in der sie selbst, aufs Ganze gesehen, kaum noch vorkäme. Die mehr wäre als ihre eigene kleine Wirklichkeit, sondern die Gesamtheit möglicher Wirklichkeiten, vielleicht. Und ebenso vielleicht ist die Tatsache, dass Lisa ihre Abende normalerweise mit Blick auf das querformatige Rechteck des leuchtenden Bildschirms statt auf das hochformatige Rechteck des Fensters richtet, eine Flucht aus Gewohnheit, Gewohnheiten, die sie selbst in eine Enge treibt, die sie wählt, ohne das Gefühl, sie gewählt zu haben. Was? Was wäre, wenn sie hinsähe, wie jetzt? Was würde sie denken? Was denkt sie? Zunächst fühlt sie Schwindel. Lug und Trug? Oder das Verlieren des Bodens unter den besockten Füßen in dem Moment, in dem sie gewahr wird, dass sie zu schweben beginnt? Wie alles andere? In Zeit und Raum? Vermutlich ist eins wie das andere, Lisa erschrickt über diesem Gedanken, in der Stille der Nacht glaubt sie ihre Kinder in den anderen Räumen atmen zu hören, sie liebt deren bläuliche Augenlider im Schlaf, und das hässliche Grunzen ihres Mannes im Traume aus dem Arbeitszimmer, in dem er seit Jahren schon übernachtet, hört diese disparaten, nicht eigentlich existenten Geräusche, hört, wie die Räume, Realitäten sich ineinander verschieben, sich überlagern, sie selbst sitzt im Zentrum jener Schichten, fühlt, wie diese ihr Herz, jenen Pulsar, im Wechsel glühen und erschwarzen lassen, gleitet davon, alles wird leiser, alles wird schwerelos, sie denkt, dass sie eigentlich in einem anderen Haus sitzen könnte, im Hellen oder Dunkeln, ohne Kinder oder mit anderen, mit einem Mann, der nicht ihrer ist, es aber sein könnte, sie ist ja eh nur zufällig hier, sie ist ja nur zufällig sie. Vielleicht hätte sie dann Liebe, mehr Liebe, die Liebe eines Mannes, aber nicht die ihrer Kinder, der geliebten Kinder. Und ganz in echt könnte sie ja gehen. Aufstehen. Wirklich gehen. Lagen nicht einst Schuhe in dem Karton? Stehen sie im Flur? Malen nicht diese Sterne dort die Hacken rennender Absätze in den Himmel? Die Kinder mitnehmen. In andern Leben, die nicht ihre sind, geht das. Sie hat Freundinnen, die sind gegangen, sogar gerannt. Vom einen Leben ins andre. Als wär‘s ein kleiner Schritt, als wär’s ohne Schwerkraft, als würde niemand weinen um etwas, das im Gehen verloren ginge, als würden die Tränen und das Schreien sich im Schalllosen und Schwerelosen verlieren, alles wäre aufgehoben, folgenlos letztlich wie ein jedes Ding, wenn man‘s aus der Ferne betrachtet, weniger als ein Wimpernschlag in der Weite eines unendlichen, sich stetig ausdehnenden Weltalls, unendliche Drehung, nichts geriete jemals aus der Bahn. Lisa weiß nicht, wie lange sie hingesehen hat, ob eine Sekunde, eine Minute, eine Stunde, weil die Welt sich nämlich gerade irgendwie nicht gedreht hat in dem Moment, auch ihr Atem stillstand, paradoxerweise, sodass die Zeit einerlei wurde. Als hätte sie alles angehalten, pausiert, wär wirklich hinausgeflogen in die Weite, zwischen Milliarden ähnlich glühender Sterne, hätte sich selbst dort gesehen, also hier, von außen ins Fenster geschaut, eine Frau mittleren Alters, ja, irgendwie, mit fremden Augen, hat sie sich sitzen sehen und hätte weinen mögen, weil sie in dem Moment erkannt hat, mit welcher Sehnsucht diese Frau da nach draußen gestarrt hat, ins All, ins Alles. Und da weiß sie, weiß Lisa, warum sie lieber glauben möchte, dass da ein Poster hängt, an ihrer Wand, viereckig und hochkant, über einem Bildschirm, der ihren Blick einrahmt, den ein Raum, ein Haus, ein Leben einrahmt, in dem drei andere Leben um sie kreisen wie um einen Fixstern, dessen Augen manchmal leicht flackern, wenn sein Blick gegen den Deckel schlägt, kurz die Orientierung verliert und die Ruhe, die er braucht, um im Zentrum zu bleiben, und den Blick derart zu begrenzen, dass er, dass Lisa nur jene schaut, die um sie kreisen, diese erhellt, und mit ihren Augen hält sie diese gesamte fragile mechanische Konstruktion. Der gezähmte Blick, der gehorsame Blick – warum aber hat sie ihn nun überhaupt gehoben? Etwas rotiert schräg, etwas läuft schief. Lisa rennt bereits und weiß es nicht. Sie hat die Beine in die Hand genommen und rast, blindlings, so atemlos, dass ihr der Spalt, die Luke, das Fenster zum Fluchtraum wurde, vor sich selbst oder vor ihm, vor jenem, vor dem Fremden, wer weiß das schon? Wer denkt denn schon vernünftig, wenn die eigenen Gedanken rasend werden wie man es selbst gern wär? In dem harmlosen Kasten ist er gewesen, hat er gelauert, selbst arglos, hinter der scheinbar harmlosen Benutzeroberfläche hat sich allein durch mehrfache Klicks ein jenseitiger Raum aufgetan, in den sie zu stürzen im Begriff war, ein schwarzes Loch oder so, man kann nicht nur in eine Richtung aus der Welt herausfallen, das Fenster war die Flucht nach vorn, sehenden Auges, mit der Stirn zu den Sternen. Der Mann. Der andere Mann, nicht ihr Mann, das andere Leben, die Unmöglichkeit, unerwartet Worte an sie gerichtet hat er, an eine andere Frau, eine fremde Frau, mit fremden Worten, fremder Sehnsucht, er, sie, all das hat Lisa ihrem Dasein entrissen mit einer Gewalt, die sie sich selbst entfremdete oder nahbrachte, alles zugleich, Explosion, Implosion, ein Sonnensystem auf dem Spiel, folglich konnte der Blick nichts sein als Fluchtversuch vom Alles ins Nichts oder andersherum, Himmel, hat sie gedacht, hätte gern gebetet, sich jemandem zugewandt, der schützend die Hand über sie hielte und ihr Endlichkeit, ihren Platz zuwiese, ihr Trost zuspräche oder klare Worte, was richtig sei und was falsch, Deckel drauf, doch der fremde Mann hatte sie angesehen und er war kein Gott, von einem digitalen Foto aus hat er sie angesehen wie eben ein Mann, und sie hatte begonnen, ihn zu lieben, für all das, was ihr eigener Mann nicht war, was ihr Leben nicht ist, mit einer Liebe, die ihr so fremd vorkam, wie dieser andere Mann selbst, und als käme sie nicht aus ihrem eigenen Leib, sondern aus der Allweite dieses aufsaugenden Mediums oder als sei sie selbst ein ihr fremder Himmelskörper, mit dem sie auf schmerzhafte Weise zu kollidieren drohte, denn die Weite war ja nichts andres als ein Spiegel, der sie auf sie selbst verwies. Himmel, hat sie gedacht, ihren Blick durch die Luke der Schräge gedrängt, wo er nun verglüht, während sie noch denkt, dass sie wünschte, die fremde Frau sähe nun eine Sternschnuppe.
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