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GANZ GROSSES KINO


Die Stimmen der Menschen überkreuzen sich, stoßen mal aneinander und wechseln ihre Richtung, mal gehen sie ineinander über, ergeben eine Einheit und verstärken sich. Der Synergieeffekt ist nicht zu überhören.

Oder sie bewegen sich im Gleichschritt nebeneinander her und räumen sich gegenseitig genug Spielraum ein, ohne ein Miteinander auszuschließen. Worte springen aus ihren Sätzen heraus und verbünden sich zu neuen Zusammenhängen.

Die Vielfalt der Töne lässt Rückschlüsse auf zahlreiche verschiedene Stimmungslagen ziehen.

Aufregung, Hektik, Eile, Vorfreude, Unentschlossenheit, Überforderung sowie Scheu, Schüchternheit oder im Gegenteil das Selbstvertrauen. All dieser Dialog und Verkehr steigt empor, sammelt sich in einer kleinen Farbwolke über mir und fällt als Verbalregen auf mich herab, ich nehme bei voller Wahrnehmung der Romantik einen Schluck von meinem Kaffee. 

Es ist noch eine Stunde bis zum Film, die Eintrittskarte habe ich seit über anderthalb Stunden in meiner Hosentasche, kontrolliere alle paar Minuten, ob sie auch noch da ist. Das Café, in dem ich sitze, ist fast bis auf den letzten Stuhl gefüllt. Nur an meinem Zweiertisch bleibt ein Platz frei und bei dem Kerl am anderen Ende des Ladens.

Jeder andere Tisch für zwei scheint von einem Pärchen besetzt, die Gruppentische von kunterbunten Gruppen. Dann sind da auch noch die, die nebeneinander auf hohen Hockern an dieser komischen und ununterbrochen langen Plattform sitzen, die am Fenster entlang verläuft. An den Momenten, in denen sie sich kurz ansehen, lachen und sich dabei in Verlegenheit wieder dem Fenster zudrehen, erfreue ich mich besonders. 

Und dann ist da dieser Tisch mit sechs Personen, je drei Jungs und Mädchen, mir direkt gegenüber.

Auf den ersten Blick schien klar, dass es sich um drei Paare handelt. Aber im nächsten Moment verwarf ich diesen Gedanken auch schon. Denn da ist dieses Mädchen dabei. In den meisten Romanen würde jetzt vermutlich eine mehrere Seiten lange Beschreibung folgen, wenn überhaupt, würde ihr auch nur eine solche gerecht werden. Aber ihr sollt nicht sehen, was ich sehe. Ich möchte, dass ihr empfindet, was ich empfinde. Dafür müsst ihr euch den schönsten Menschen in Erinnerung rufen, den ihr jemals auf diese Weise irgendwo flüchtig getroffen und für eine lange Zeit nicht mehr aus dem Kopf bekommen habt. Und ein Roman wird das hier ohnehin nicht, der Film beginnt bald.


Sie ist vertieft in das Menü, als wäre es ein Familienalbum. Ich vermute es sind die albernen Namen der Cocktails, die bei mir vorhin auch schon für ein Schmunzeln gesorgt haben. Nein, nein nein, es sind nicht ausschließlich Paare an diesem Tisch, denn ihr Schmunzeln ist ebenso einsam wie meins zuvor, ihre gesamte Anwesenheit bei diesen Leuten ist ein erstklassig inszeniertes Theaterstück. Sie verbringt vermutlich mehr Zeit damit, sich diese Szene von draußen vorzustellen und über Verbesserungen nachzudenken, als damit, einen ehrlichen Beitrag zur Unterhaltung um sich herum beizutragen. Außerdem sieht so nicht ein Mädchen an der Seite ihres Partners aus. Sollte es nicht. Es wäre ein Trauerspiel, wenn das der Fall wäre. Plötzlich bricht ein Gelächter unter den Statisten aus, die sich bei ihr befinden, und dieser aufgeblasene Kerl neben ihr holt sie mit einem Klaps auf den Oberarm aus dem Menü auf den Tisch, als würde er sagen „Hey, ich habe gerade etwas Lustiges gesagt, lach doch mit.“ Ihn würde ich nur zu gerne beschreiben, die Wortwahl würde allerdings zu sehr aus diesem Text herausstechen. Stellt euch hier also einfach ein Arschloch vor, ihr kennt genügend davon.

Das Eigenleben dieses Cafés fasziniert mich jedes Mal wieder. Würde ich meinen Kopf nicht ab und zu nach links drehen, fiele mir gar nicht ein, dass ich mich in einem riesigen Kino befinde und was ich wahrnehmen würde, wäre eine absurde Lautstärke und Masse an Geräuschen, die meinen Kopf enorm überfordert,

weil sie überhaupt nicht mit meiner visuellen Wahrnehmung in dem Moment übereinstimmt.

„No Turning Back“, so heißt der Film mit Tom Hardy in der Hauptrolle. Eigentlich sogar in der einzigen Rolle, denn der Film spielt fast ausschließlich im Auto und bis auf ein- oder zwei Statisten in den ersten Momenten ist sonst niemand zu sehen. Weitere Charaktere hört man lediglich in Telefongesprächen, welche den Zuschauern die Intensität der Misere, in der sich der Protagonist befindet, hautnah spüren lassen.

Spüren lassen sollen.


Ivan Locke ist ein eigentlich treuer, liebender Familienvater aber er hat Mist gebaut.

Eine sehr einsame Frau, die er durch die Arbeit kennt, ruft ihn an, weil sie nun ihr gemeinsames Baby zwei Monate früher bekommt als erwartet. Ohne zu zögern verlässt er eine Baustelle, deren Bauleiter er übrigens ist, steigt in sein Auto und geht die über einstündige Fahrt an. Dieser Mann ist nun also mitten in der Nacht auf dem Weg ins Krankenhaus einer anderen Stadt, wo eine genau genommen fremde Frau sein Kind bekommt, während seine Ehefrau und zwei Söhne ihn zu Hause für ein wichtiges Fußballspiel erwarten.

Zu allem Überfluss, steht am nächsten Morgen das wichtigste Bauprojekt seiner Karriere an, was er also zwangsläufig verpassen und nicht beaufsichtigen können wird.


Locke wirkt von Anfang an unbeeindruckt, in keinster Weise ernsthaft überfordert, auch wenn er hin und wieder seinem enormen Stress Ausdruck verleiht Einen Anruf nach dem anderen tätigt oder nimmt er an.

Er beichtet seiner Frau die ganze Wahrheit über seinen Seitensprung, erklärt seinem Sohn, dass er ihn und seinen Bruder wegen des Spiels enttäuschen muss, spricht mit seinem Vorgesetzten und Stellvertreter, welchem er haargenaue Anweisungen gibt, damit der das Projekt am nächsten Tag an seiner Stelle leiten kann. Außerdem telefoniert er des öfteren mit der schwangeren Frau in den Wehen und versucht sie zu beruhigen. -„Okay, ich mach's, weil ich dich liebe. […] Kannst du es nicht wenigstens auch einmal sagen?“ -

„Nein, kann ich nicht, nein. Kann ich nicht. Aber ich kann so schnell kommen, wie es der Verkehr zulässt.“

Ivan Locke ist ein faszinierender Charakter, er zieht mich mit seiner Art und Weise in den Bann.

Seinen Antrieb, das Richtige zu tun, bewundere ich.

Es ist eine echt harte Situation für ihn, er hat einen großen Fehler begangen und muss nun dafür geradestehen. Während dieser objektiv kurzen aber gefühlt unendlichen Autofahrt verliert er seinen Job, kümmert sich am Telefon aus persönlichem Verantwortungsbewusstsein und Ehrgeiz jedoch weiterhin um das Gelingen des Projekts. Seine Frau verlässt ihn und befindet sich zu Hause in Tränen, die Söhne noch nichts ahnend. Und trotz alldem gerät er nicht einen Moment in ein Dilemma zwischen seinem eigentlichen Leben und seinem Fehler. Es entsteht nicht der geringste Konflikt zwischen seinem Wohlbefinden und seiner Verantwortung. Er wird für das Baby da sein, die fatale Affäre nicht alleine lassen und er wird hinnehmen, dass ihm sein bisheriges Leben entgleitet. Aber an dem Begriff 'aufgeben' scheint er nicht zu denken, Locke verzweifelt nicht, sondern will unter den gegebenen Umständen schnell wieder Herr über die Situation werden. Und ich bin sicher, dass er es wird, auch wenn die Geschichte für uns Zuschauer vor dem Krankenhaus endet.

Der Film ist nun vorbei und auf dem Weg zum Ausgang lasse ich mir diesen Menschen durch den Kopf gehen, der mir da gerade auf der Leinwand präsentiert wurde. So viele Filme habe ich bis heute schon gesehen, darunter welche wie 'Harry Potter', 'Superman' oder 'Pretty Woman'. Aber von allen fiktiven Persönlichkeiten ist es ausgerechnet Ivan Locke, dessen Realitätsbezug ich versuche herzustellen. Und ich kann nicht anders als mir die Frage zu stellen: In einer narzisstisch geprägten Gesellschaft, in der jeder der Größte ist oder sich mindestens nicht dazu bewegen kann, wahre Größe anzuerkennen, könnte diesem Mann die Anerkennung und Wertschätzung zuteil werden, die jetzt in meiner Wahrnehmung vorherrscht? Oder würde er als Ehebrecher verteufelt und ausgestoßen werden von Menschen, die ihre eigenen Sünden unter den Teppich kehren und sie vergessen wollen?

Dieser Kerl aus dem Café, der mich auf eine Art spiegelte, sitzt noch immer dort, wo er auch vorher war.

Dass er einen anderen Film besucht hat, der vor meinem zu Ende ging, schließe ich aus, denn ich habe mir

die Vorführzeiten genau angesehen. Ich kaufe auf die Schnelle zwei Bier und gehe zu ihm. Ich sehe, dass er ein dickes Notizbuch mit sich führt, ein schönes schwarzes. Muss teuer sein. Der Stift dagegen, mit der Aufschrift einer mittelmäßigen Versicherung, ist sicher über Umwege bei ihm gelandet. Ich lege ihm die eine Flasche auf den Tisch, ziehe den ihm gegenüberliegenden Stuhl zurück, um mich hinzusetzen. Mit dem Rücken zum Ausgang. Die zweite Bierflasche hebe ich kurz auf Stirnhöhe und strecke sie dabei leicht in seine Richtung, so als würde ich beide miteinander bekanntmachen.  

„Es gibt hier in der Nähe einen Pub, da...“, während ich spreche, bemerke ich wieder die Gruppe mit dem Mädchen, der Gewalttäter läuft lautstark etwas erzählend vorne weg, sie läuft einen halben Meter hinter den anderen her und schaut um sich, betrachtet die Plakate zu den kommenden Filmen. Ich begleite die Gruppe mit meinen Augen und drehe den Kopf dabei bis ich den klassischen Schulterblick erreiche.

Währenddessen führe ich meinen Satz weiter aus: „... spielen sie echt gute Musik. Gibt es nicht oft.“

Bevor die Sechs durch den Ausgang laufen, höre ich das Arschloch noch sagen: „Wer soll denn jetzt noch Auto fahren, von Autofahrten haben ich fürs Erste genug!“ Vier Leute lachen über diese Bemerkung.

Ich wende mich mit einer plötzlichen Kopfdrehung wieder meinem Gegenüber zu, der mich zwar irritiert, aber freundlich und erwartungsvoll ansieht. „Muss nur kurz noch was machen, was Richtiges, bin sofort wieder da. Bestell doch bitte solange noch ein Bier“, sage ich.

Die Stimmen sind nun trüber, müder und suchen ihre Ruhe. Abschied geistert durch die Luft. Die Lautstärke ist noch zu bemessen, aber die Worte um keine wahrnehmbare kleinste Einheit mehr von der Stummheit zu unterscheiden.

Und für euch endet diese Geschichte hier vor dem Ausgang des Kinos. 

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