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Gefangen im Weiss


Bodenfliesen und Wandkacheln demonstrierten stoßfest und abwaschbar: Weiß.

Verschließbare Kunststoffschränke bargen Sägen, Zangen, Feilen und allerlei anderes nützliches Gerät.

Durchsichtige Folie schützte die Schrifttäfelchen, die den Platz eines jeden Werkzeuges anzeigten.

Schrauben und Nägel lagen sortiert nach Größe und Länge in Behältnissen aus Plexiglas, jeweils eines der Objekte klebte oben auf dem Deckel.

Ein Putzschrank beherbergte Besen, Schrubber und Lappen. Utensilien, die nur hier unten benutzt werden durften. Einen Kellerbesen im Wohnungsflur zu verwenden, sei Schweinerei, befand der Vater.

Obwohl dadurch der Stromverbrauch erhöht wurde, erhellten Tag und Nacht grell leuchtende Neonröhren diesen Ort.

Dass der Vater seiner Tochter täglich abverlangte, sämtliche Oberflächen gründlich zu wischen und anschließend mit Desinfektionslösung einzusprühen – nicht zu vergessen die Wäscheleinen im Trockenraum und das Waschmaschinen-Bullauge –, geschah um ihres Seelenheiles willen. Für Sauberkeit zu sorgen, diente ebenso wie Buße und Gebet der Reinigung des Geistes.


So sehr er auch sein Gedächtnis marterte, er vermochte sich nicht zu entsinnen, wann sie je ohne Aufsicht da draußen in der tugendlosen Welt herumgelaufen sein sollte. Erst recht schien es ihm undenkbar, dass sündige Abhandlungen in ihre Hände gelangt sein konnten.

Es war ihr Blick gewesen, der ihm die drohende Fehlentwicklung offenbarte. Einer solchen musste energisch entgegengetreten werden, bevor sich die Charaktererkrankung in der Realität materialisierte – was einer Katastrophe gleichkäme.

Schmerzlich fühlte er, nicht einmal der eigenen Ehefrau vertrauen zu können. Keineswegs, weil diese gegen Anstand und Ordnung aufzubegehren wagte. Rosemaries Schwäche bestand aus falsch verstandenem Mitleid. Belehrt durch seine Studien der heiligen Schrift, strafte er die Gattin dafür jedoch nur milde. Mutterliebe, dieses irrationale Gebräu, gehörte nun einmal zu den Bestimmungen des Weibes.

Umso dringlicher gebot es die väterliche Pflicht, das Böse von seiner Tochter fernzuhalten.

Deshalb hatte er Bett, Tisch und Stuhl in die hintere Ecke des Kellerraumes getragen und nicht dem Bitten Rosemaries nachgegeben.

Er musste seine Pflicht erfüllen und die Heranwachsende vor dem schützen, was sie beim Spähen aus dem Küchenfenster an Verderbtheit hätte beobachten können. Wer mit dem Blick den grauen Windungen einer Straße folgte, in dessen Herz konnte der Wunsch entbrennen, hinauszutreten, um die scheinbar frische Luft zu atmen, in der doch in Wirklichkeit die Schwefeldünste von Sodom und Gomorrha waberten.


Ob seine Tochter in Versuchung gekommen war, weil er ihr viel zu lange den Besuch der Schule erlaubt hatte?

Zwar hatte er in all den Jahren das Kind stets persönlich in die Obhut der Lehrerin übergeben, doch wachte diese auch in den Pausen aufmerksam genug?

Hoffentlich hetzte sie ihm nicht die Behörde auf den Hals, wenn er immer neue Gründe vorschob, derentwegen das Mädchen dem Unterricht fernbleiben müsse.

Es reichte nicht, Handlungen zu verhindern. Gott verabscheute bereits den sündigen Gedanken!

Dieser Blick einem Manne gegenüber wäre schon schamlos gewesen – doch wie hatte sie nur in dieser Weise eine Klassenkameradin anlächeln können?

Mit entblößten Zähnen und Augen voller Sehnsucht? Er musste sie vor der Versuchung des Teufels schützen, denn wessen Fratze lauerte sonst hinter dem Gesicht der anderen jungen Frau?


Die Tochter weinte und flehte.

Er schlug die „Gute Nachricht“ auf. Altes Testament Psalm 1,2:

„Wie glücklich ist ein Mensch, der Freude findet an den Weisungen des Herrn, der Tag und Nacht in seinem Gesetz liest und darüber nachdenkt.“


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