VON SEBASTIAN KLUGE //
Bereits als Kind fuhr ich mit meiner Oma, die als Schaffnerin des regionalen Nahverkehrs der damaligen DDR Reichs- und später Bundesbahn die Trillerpfeife über die Bahnhöfe pustete, auf allen Strecken quer durch den wilden Osten mit. Später folgten Klassenfahrten im Reisebus nach Italien und England, einen Flug nach Afrika, Autobahnfahren nach Bulgarien, Köln und der Nord- sowie Ostsee. Und auch zweimalige Fahrten nach Paris mit dem Thalys und dutzende kleinere Ausflüge kamen hinzu. Dann kam 2005. Das war der Tag, der alles veränderte. Es war der Tag, an dem ich morgens mit meiner ersten Panikattacke aus einem Linienbus aussteigen musste. »Was ist, wenn mir das wieder passiert?« Dieser Satz war es, dessen Wirkungskreis meinen Reisekreis immer weiter verengte und verringerte. Mit jeder weiteren Panikattacke fing ich an, gewisse Situationen zu meiden. Erst gingen Busse nicht mehr. Dann waren die tiefen und engen Tunnel von Straßenbahnen keine Option. An den schlimmsten Tagen stieg ich nicht einmal mehr in einen Aufzug. Selten gebe ich Auskunft darüber, weshalb ich z.B. noch nie auf einem Festival gewesen bin. Es ist aus Scham. Der Scham, nicht mehr zu funktionieren. Nicht, wie jede*r andere an normalen Happenings teilhaben zu können. Meine gesamte Jugend schrumpfe also auf meine Wahlheimatstadt Köln zusammen. Aus der Not heraus entschied ich mich, zumindest in regelmäßigen Abständen spazieren zu gehen und fotografierte dabei, was ich auf meinen Reisen sah. Während also meine Mitschüler*innen während der Ferien mit ihren Familien vereisten, setzte ich zumindest einen Fuß nach dem anderen nach vorne, um irgendwie in Bewegung zu bleiben. Nachdem ich mich, mithilfe einer Therapie und einem Klinikaufenthalt, soweit stabilisiert hatte, dass ein halbwegs angstfreies Reisen wieder möglich war, kam ich durch einige Umwege in Bielefeld an, um dort Fotografie zu studieren. Doch zog meine Angst, es könne wieder alles in mir zusammenbrechen, wie ein langer Schatten mit mir mit. Mein Vertrauen hatte über die vielen Jahre der Angst immens gelitten und ist bis heute nicht vollständig zurückgekehrt. Und Auch hier sah ich, wie meine Kommilitonen bei Exkursionen in ferne Länder reisten, um dort zu fotografieren. Da begann ich mich zu fragen, wie ich selbiges, nur ohne das Reisen, umsetzen könnte.
Einige Zeit später stieß ich zufällig auf Googles Service Street View und fuhr spontan meine erste Strecke durch Norwegen. Genauer durch die Insel Moskenesøy, nahe Tind. Zwei Stunden später war ich fast bei Vestvågøy und hatte unzählige Screenshots gemacht. Während meiner Reise sah ich unglaubliche Bergformationen, kristallklares Wasser und unzählige, kleine Fischerhäusschen. Ehrlich gestanden konnte ich die frische, kühle Luft und das salzige Meer förmlich riechen. Ich stellte mir vor, wie die Sonne meine Haut wärmte und die Möwen kreischend nach Futter suchten. Zugleich war in mir eine absolute Stille eingekehrt. Nach Jahren konnte ich endlich wieder reisen. Mittlerweile habe ich über 20 Länder bereist. Bin durch Venedig gelaufen und durch die Gebirgsketten Tibets gewandert. Ich fuhr einmal über 5000km durch Alaska und wärmte mir die Haut an der französischen Südküste. Ich habe mich in Tokyo verirrt und bin durch die schottischen Highlands geklettert. Alles, ohne jemals mein Zimmer dabei verlassen zu haben. Mit StreetView hatte ich das erste Mal das Gefühl, etwas nachholen zu können. Dinge und Welten zu betrachten, die für mich beinahe unmöglich zu erreichen waren.
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