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Hüter der Schätze


Jasper Willenborg war ein geborener Geschäftsmann, das erkannten die anderen Fünftklässler noch vor den Herbstferien. Tag für Tag scharten sie sich vor Unterrichtsbeginn hinter den Mädchentoiletten um ihn, der zur besseren Sichtbarkeit eine Tischtennisplatte erklommen hatte. Frühstückstüten aus Pergamentpapier raschelten, Brotdosen klapperten blechern, Plastikverschlüsse schnalzten an der Tupperware. Das Orchester der Hungrigen verklang, wenn Jasper Willenborg seine Stimme erhob: “Hat jemand Interesse an diesem Frufoo-Quark?”, rief er wie ein Marktschreier. “Hier bietet jemand eine Bifi! Wie viele saure Gürkchen ist euch diese Bifi wert?”, bewies er ökonomisches Geschick. “Lässt sich noch jemand für dieses hartgekochte Ei begeistern?”, feilschte er. “Ich lege drei Aufkleber von Caught in the Act drauf!” Nach zehn Minuten waren alle Geschäfte abgeschlossen und die Fünftklässler versenkten die Zahnspangen in ihrer Ausbeute. Mal schmatzten sie zufrieden, meist jedoch waren sie entschlossen, am nächsten Morgen verbissener zu verhandeln. Jasper Willenborg aber verlor als einziger nie. Wenn die Schulglocke zum Unterricht rief, hatte er die Tischtennisplatte zu seinen Füßen stets in ein reiches Buffet verwandelt. Freie Marktwirtschaft nannte er das und Gewinnoptimierung.


Donnerstagnachmittags lieferte ein Omnibus die Fünftklässler zum Schwimmen im städtischen Erlebnisbad ab. Auf der Fahrt sangen die Kinder “Meine Oma fährt im Hühnerstall Motorrad”, bloß Jasper Willenborg fütterte seinen Taschenrechner mit Kalkulationen. Im Umkleideraum roch es nach Chlor und die Heranwachsenden reckten die Hälse, wenn die Klassenkameraden nach dem Unterricht die klamme Badehose von der Hüfte rollten. Die Gelegenheit war günstig, das Voranschreiten der eigenen Pubertät im direkten Vergleich mit Gleichaltrigen einzuordnen. Murat Ünal zum Beispiel hatte schon einen “richtigen Busch da unten”, wie Henning Thießen auf der Heimfahrt vom Erlebnisbad berichtete. Auf den umliegenden Plätzen erblasste man vor Neid. Zwei Sitzreihen dahinter wollte Konrad Henrich erspäht haben, dass bei Ole Hoffmann die gefürchtete Akne nicht im Gesicht, sondern auf den Arschbacken wütete. Und Jens Weber-Schmied behauptete auf der letzten Bank, bereits feucht geträumt zu haben, dabei sabberte er bloß im Schlaf und hatte keinen Schimmer von Biologie.


An einem anderen Donnerstag machte Lars Jansen im Umkleideraum eine gewaltige Entdeckung, die nicht ohne Folgen bleiben sollte. “Lieber Jesus!”, hallte sein Staunen von den Deckenfliesen und die anderen Jungen eilten sensationslüstern herbei. Jasper Willenborg schüttelte noch seine tropfnasse Schwimmhose von der Fessel, da hatte sich schon eine neugierige Traube von Mitschülern um seine Mitte gebildet. “Sieht aus wie eine plattgefahrene Blindschleiche!”, pfiff Leif-Christoph Dobener durch die Zahnlücke und schob die beschlagene Brille in Richtung der Nasenwurzel. “Alß ob der Peniß ßeinen eigenen Peniß hätte”, lispelte Henning Opitz atemlos und schob sich das Mundstück seines Aspirators zwischen die Lippen. "Fresse, Nazi!", schubste Koray Arslan ihn bei Seite, dabei war Henning Opitz gar kein Nazi. Sein großer Bruder war ein Nazi und hieß Dirk, wusste doch jedes Kind. "Abgefahren!", musste nun aber auch Koray Arslan beim Blick auf das Fundstück eingestehen und Sanjay Kapoor legte den dürren Arm um die Schultern von Jasper Willenborg: “Das, mein Freund, muss die längste Vorhaut auf der ganzen Welt sein.”


Schon am nächsten Morgen hatte die Kunde von der Kuriosität in Jasper Willenborgs Schlüpfer im gesamten fünften Jahrgang die Runde gemacht. Der Betroffene bemerkte zunächst nichts von der Aufregung. Das morgendliche Tauschzeremoniell wurde zwar unruhiger als sonst, aber wie immer erfolgreich vollzogen. Wie immer blieb Jasper Willenborg danach alleine bei den Tischtennisplatten zurück. Er sortierte gerade wie immer Süßspeisen und Herzhaftes in unterschiedliche Behältnisse, als in seinem Rücken ein Anorak raschelte, eine blumige Mischung aus Nafnaf-Parfum und Vanilla Kisses-Deodorant ihn in die Nase biss und die Stimme eines Mädchens ihm warm in den Nacken atmete: "Hab von deinem Riesenzipfel gehört! Zeig mal her!"

Jasper Willenborg erstarrte. Langsam drehte er sich um. Dicht vor ihm stand Benke Jochems aus der 5c, die schwarzen Mitesser auf ihrer Stirn waren bloß eine Hand breit von seiner Nase entfernt. Eine tiefe Falte legte sich zwischen seine Brauen. Jasper Willenborgs Mimik versteinerte. Dunkel hielten seine Augen dem fordernden Blick der Mitschülerin stand, während die Lippen tonlos Ziffern in ihr Gesicht hauchten. Ein tiefer Atemzug kündigte endlich eine Entscheidung an. “Fünfzig Pfennig für drei Sekunden Gucken!", verkündete er und Benke Jochems besiegelte das Abkommen per Handschlag.


Benke Jochems sollte an diesem Freitag nicht seine letzte Kundin bleiben. Um viertel nach Zehn klingelte die Schulglocke zur großen Pause und der Mammon klingelte gleich mit. Als Jasper Willenborg beladen mit einem erlesenen Sortiment legal erwirtschafteter Speisen hinter seinen Mitschülern aus dem Klassenraum trödelte, wartete schon eine Gruppe Siebtklässlerinnen in Adidas-Knopfhosen neben der Flügeltur des Mittelstufentrakts. Huba Buba-Blasen platzten in bunt bemalten Gesichtern, als sie ihn ins Freie schlurfen sahen. “Mitkommen, Willenborg!”, verlangte eine hochgewachsene Unbekannte mit grün gefärbten Haaren und griff ihn an der Kapuze seines Anoraks. Schon schubste ihn ihre Gefolgschaft so grob vor sich her, dass ihm ein paar Brocken Gouda und eine Hand voll Gummibärchen aus den Taschen fielen. Jasper Willenborg verschmerzte den Verlust, denn noch ehe die Schulglocke ein zweites Mal schellte, kehrte er um vier Mark reicher von den Tischtennisplatten zurück und war auf dem besten Weg, ein gemachter Mann zu werden.


Der Ansturm auf die längste Vorhaut der Welt ebbte auch in den kommenden Wochen nicht ab. Bis zu den Weihnachtsferien hatte Jasper Willenborg einen beneidenswerten Stamm zufriedener Kunden aufgebaut. Einige Schüler (allen voran Henning Opitz) konnten sich an seiner Vorhaut überhaupt nicht satt sehen, sodass er als Belohnung für Kundentreue ein lukratives Rabattsystem einführte, mit dem man beim dritten Besuch zwanzig Pfennig sparen konnte. Bald hatte Jasper Willenborg vor lauter Besichtigungsterminen keine Kapazitäten für den morgendlichen Tauschbasar mehr frei, der zunächst mit sinkendem Zulauf von Lars Jansen fortgeführt und schließlich mangels Interesse gänzlich aufgegeben wurde. Jasper Willenborg vergoss darüber keine Träne. Mit seinem Rekordzipfel erzielte er inzwischen einen wöchentlichen Durchschnittsgewinn von sage und schreibe 25 Mark, was das Taschengeld seiner Mitschüler um ein Vielfaches überstieg und ihm bis zum Jahresende gleichermaßen Bewunderer wie Neider einbrachte.


Andere Kinder wünschten sich vom Christkind ein Nintendo 64, Jasper Willenborg wünschte sich einen Tresor und einen Ratgeber für Firmengründer. Als geborener Geschäftsmann ahnte er, dass man sich nicht auf seinen Lorbeeren ausruhen durfte. Wenn die Kaufkraft stark bleiben sollte, musste man dem Kunden das Geld mit Angeboten aus der Tasche locken, zu denen er unmöglich Nein sagen konnte.

Die Winterferien gingen vorüber und der Schnee knirschte unter den Buffalos, als Henning Opitz eines Morgens vor Schulbeginn mit feuerrotem Kopf und völlig außer Atem von den Tischtennisplatten hinter den Mädchenklos gerannt kam. "Jaßper Willenbo-", japste er, hielt taumelnd inne und friemelte zitternden Fingers seinen Aspirator aus dem Anorak, an dessen Mundstück er mit verzweifelter Gier zu saugen begann. Inzwischen waren selbst die Oberstufenschüler näher getreten und hoben die Fünftklässler an den Haltegriffen ihrer Scout-Rucksäcke bei Seite. "Was hat der kleine Nazi gesagt?", wollte Swantje Conrad aus der Zwölf wissen, der vor Anspannung beinahe die Tattookette vom Hals platzte. "Der ist kein Nazi", berichtigte Christina Lemmer. "Sein großer Bruder ist ein Nazi und heißt Björn!"

Die Sekunden zogen sich wie Gummitwist, noch immer lutschte Henning Opitz an seinem Aspirator. Endlich verschwand das Gerät zurück in der Anoraktasche und alle umstehenden Schüler hielten die Luft an. “Jaßper Willenborg ßteckt sich für nur eine Mark bei den Tißtennißplatten Dinge unter ßeine gigantiße Vorhaut!”, platzte es aus Henning Opitz heraus. Die Erde bebte, Schnee rieselte von den kahlen Bäumen, als alle Schüler gleichzeitig losrannten.


Es war fortan nur noch mit größtem logistischen Aufwand möglich, der Nachfrage Herr zu werden. Jasper Willenborg arbeitete ohne Pause. Kaum hatte er den Klassenraum verlassen, zerrte ihn schon eine aufgeregte Menschenmenge hinter die Mädchentoilette, vorfreudig mit allerlei Nippes winkend. Am Ende jeder Pause klimperte der Ertrag seiner Mühen in den prall gefüllten Hosentaschen. Jasper Willenborg steckte sich Radiergummis, Happy Hippo-Sammelfiguren, Chupa Chups-Lutscher, den kleinsten Schnuller von Loredana Carluccios Schnullerkette, ein Link-Kabel für den Gameboy, abnehmbare Körperteile diverser Actionfiguren (den Fuß des pinken Power Rangers, die Fäuste aller vier Teenage Mutant Hero Turtles), einen Brühewürfel, Gak-Spielschleim, Duplo-Aufkleber von Jürgen Klinsmann und Oliver Kahn, einen Chinaböller, zwei Monopoly-Hotels, einen Diddl-Kühlschrankmagneten, den abgetrennten Kopf einer Hollywood-Barbie, einen Flummy, einen Pfirsichkern, ein Hotwheels-Spielzeugauto, fünf Erdnüsse, ein selbstgeknüpftes Freundschaftsbändchen, Polly Pocket, zwei Spielwürfel, den größten Schnuller von Loredana Carluccios Schnullerkette, ein Karamellbonbon und - darauf war er besonders stolz - ein Tamagotchi unter die Vorhaut.


Einmal im Frühjahr, die meisten Schüler hatten ihr Taschengeld auf dem örtlichen Rummel gegen Rubbellose, Zuckerwatte und Fahrten mit dem Breakdancer eingetauscht, musste Jasper Willenborgs junges Unternehmen eine flüchtige Inflation verkraften. So leicht jedoch gab er sich nicht geschlagen. Im Unterricht sah man ihn unter dem Pult bunte Zettel in seinen Wirtschaftsratgeber kleben, dann ging er zum Angriff über. Wenige Tage später ließ Smilla Harms im Schulbus beiläufig verlauten, in allen Klassenarbeiten überdurchschnittlich gut abzuschneiden, seitdem sie ihre Tintenpatronen in Jasper Willenborgs riesiger Vorhaut segnen ließ. In allen Kinderzimmern der Stadt wurden noch am selben Nachmittag die Sparschweine geschlachtet. Fortan schob Jasper Willenborg sich in den Pausen Schreibutensilien von Lamy und Pelikan, Tippexmäuse, Textmarker und Spickzettel unter die Vorhaut und erfand dazu einige segnende Worte. Die Nachfrage stieg explosionsartig an und war bloß noch durch eine Preiserhöhung zu regulieren. Lediglich Smilla Harms musste überhaupt nichts mehr für seine Dienste bezahlen.


Unter allen ergebenen Abnehmern hatte Henning Opitz sich über die Monate als ergiebigster Goldesel erwiesen. Dienstagnachmittags erhielt er zwei Mark Taschengeld von seinem Großvater, die er zuverlässig jeden Mittwochmorgen in Jasper Willenborgs enorme Vorhaut investierte. Auch am Mittwoch vor den Osterferien kam Henning Opitz pünktlich wie ein Maurer zu den Tischtennisplatten gestapft. Diesmal hielt er einen Soldaten der Wehrmacht aus Plastik in die Höhe. "Ausgeschlossen", lehnte Jasper Willenborg nach kurzer Inspektion ab. "Viel zu spitz". Kritisch drückte er mit der Zeigefingerspitze auf dem waldgrünen Gewehrlauf der Miniatur herum. "Damit mache ich mir ja meine Unternehmensgrundlage kaputt!"

Die Augen seines treuesten Kunden füllten sich mit Tränen. "Komm ßon, nur ganß kurß", flehte Henning Opitz. "Daß ißt mein Oßtergeßenk für meinen großen Bruder!" Jasper Willenborg blies die Backen auf. Der große Bruder von Henning Opitz hieß Jochen und war ein Nazi, das wussten an der Schule sogar diejenigen Kinder, die keine Ahnung hatten, was ein Nazi war.

"Tuß für miß!"

Jasper Willenborg wägte ab. Noch immer piekste der Gewehrlauf des Soldaten in seine Fingerspitze.

“Wenn herauskommt, dass ich Nazis in meiner Vorhaut segne, könnte das schwerwiegende Folgen für mein Firmenimage haben”, erklärte er und Henning Opitz schluchzte. “Andererseits ist es gefährlich, die tiefe Treue eines Kunden zu gefährden”, überlegte er weiter und Henning Opitz schneuzte sich laut in ein Papiertaschentuch.

Nach Rekapitulation aller Grundregeln der Kundenbindung entschied Jasper Willenborg schließlich gegen seine historische Verantwortung:

"Na schön, Henning. Aber nur, weil du mein bester Abnehmer bist."

"Du bißt der Beßte!"

Henning Opitz strahlte vor Glück und hopste mit dem Hintern auf die Tischtennisplatte.


Jasper Willenborgs öffnete die Knöpfe seiner Jeans, die mitsamt der Unterhose in die Kniekehle fielen. Er griff seinen Penis mit beiden Händen und Henning Opitz' Augen begannen zu leuchten, als Jasper Willenborg beide Zeigefinger unter die Vorhaut schob. Es schmatzte, als er die Haut mit den Fingern auseinander drückte und so einen rot geäderten Tunnel freilegte. "Na los!", bot er an und Henning Opitz hielt den Soldaten über die längliche Öffnung im Fleisch. Mit einem zugekniffenen Auge nahm er Maß und schon plumpste der grasgrüne Krieger in die Tiefe und verschwand mitsamt seinem spitzen Gewehrlauf unter Jasper Willenborgs Vorhaut.


"Jasper Willenborg! Henning Opitz!", schrillte da alarmierend eine erwachsene Frauenstimme.

"Oh Mißt, daß ißt Frau Lohwaßer, die hat Paußenaufßicht!", zischte Henning Opitz und hopste von der Tischtennisplatte. Gerade rechtzeitig, als Oberstudienrätin Lohwasser um die Ecke bog, baute er sich als Sichtschutz vor Jasper Willenborg auf, der im Eiltempo seine wehrmächtig befüllte Vorhaut zurück in die Jeanshose stopfte.

"Würdet ihr mir bitte einmal verraten, was ihr hier hinten immerfort treibt?", wollte Oberstudienrätin Lohwasser nach acht Monaten der florierenden Geschäftstüchtigkeit erstmalig in Erfahrung bringen.

"Tißtenniß ßpielen", keuchte Henning Opitz und kramte im Anorak nach seinem Aspirator. Jasper Willenborg nickte schweigend, während ihm langsam jede Farbe aus dem Gesicht wich.

"Ohne Schläger? Ohne Ball?", erkundigte Oberstudienrätin Lohwasser sich mit Fug und Recht und wollte gerade zu einem Vortrag über die Grenzen des Pausenhofgeländes

ansetzen, als die Schulglocke zum Unterricht rief. Henning Opitz nahm einen tiefen Zug von seinem Aspirator und atmete hörbar aus.

"Den oldat kannßt du mir in der nächßten Pauße ßurückgeben!", tuschelte er feucht und Jasper Willenborg humpelte kalkweiß hinter ihm her an Oberstudienrätin Lohwasser vorbei.


Am Englischunterricht bei Herrn Trondheim beteiligte Jasper Willenborg sich nicht. Kalter Schweiß tropfte von seiner Nase und fiel wie Regen an der Ostfront in sein Vokabelheft, in dem er eben noch mit verkrampften Fingern I am ill notiert hatte. Nun lösten die blauen Worte sich zu blassen Tintenklecksen auf. Jasper Willenborgs Unterleib fühlte sich an, wie er sich eine Operation im Mittelalter vorstellte. Es piekste, kniff und riss an den empfindlichsten Stellen, und der stechende Schmerz kitzelte ihn tief in den Gedärmen. Irgendeine warme Flüssigkeit rann seine Oberschenkel herunter und er nahm mit beißender Sorge die Möglichkeit zur Kenntnis, sich mit elf Jahren doch noch einmal eingenässt zu haben.

"Jasper?", drängte Herr Trondheims Stimme durch das Dröhnen in seinen Ohren. "Jasper, are you alright?"

Jasper Willenborg was not alright. Jemand würde die Geschichtsbücher überarbeiten müssen. Die Wehrmacht hatte es am Ende doch geschafft, der Blitzkrieg tobte erfolgreich in seinen Eingeweiden. “Schickt die Amerikaner nach Hause, das Böse hat gesiegt”, murmelte Jasper Willenborg fiebrig. Seine Hände platschten auf die Tischkante, hinterließen nasse Abdrücke, mit dem feuchten Hintern schob er seinen Stuhl behäbig zurück wie einen Panzer auf frisch geteerten Autobahnen und erhob sich schwankend wie ein betrunkener Soldat, den das Kriegsgericht erwartet. Ein Raunen ging durch die Klasse, Leif-Christoph Dobener ließ seinen Unterkiefer und Sanjay Kapoor seinen Tintenpirat fallen.

"I am sick, sir", keuchte Jasper Willenborg durch zusammengebissene Zähne und die Welt verschwamm ihm für einen Moment vor den Augen. "Can I go to the bathroom? Der Soldat...der Nazibruder von...”

Auf der anderen Seite der Klasse stand Jens Weber-Schmied von seinem Stuhl auf, sein Gesicht eine Maske des Schreckens. Zitternd deutete sein ausgestreckter Zeigefinger genau auf Jasper Willenborgs Schritt.

“Willenborg hat seine Tage gekriegt!”, schrie er sich heiser und bewies einmal mehr, von Biologie keinen Schimmer zu haben. Jasper Willenborgs Blick folgte dem Fingerzeig an sich herunter, Schweiß und Tränen trübten seine Sicht. Weinrot breitete sich ein Fleck im Schritt seiner Jeans aus. “Die Wehrmacht ist….durchgebrochen”, murmelte Jasper Willenborg, dann wurde ihm schwarz vor Augen und er stürzte ohnmächtig auf den kratzigen Teppichboden.


Jasper Willenborg kehrte erst nach dem Ende der Osterferien zur Schule zurück, vieles hatte sich verändert. Seine mehrfach durchlöcherte Vorhaut war nicht zu retten gewesen, so sehr er im Krankenhaus auch beteuerte, wirtschaftlich auf körperliche Unversehrtheit angewiesen zu sein und seine Eltern anflehte, einen Anwalt einzuschalten. Immerhin hatte Jasper Willenborg den behandelnden Arzt überzeugen können, ihm die unentbehrliche Vorhaut nach der Operation zu überlassen. Er führte sie eingelegt in Alkohol und luftdicht in einem Marmeladenglas verschraubt in seinem Scout-Schulranzen mit sich. Auch in der Bildungseinrichtung hatte sich in seiner Abwesenheit einiges getan. Jasper Willenborg hatte sich ausgemalt, durch Herumzeigen seiner konservierten Vorhaut ein paar Monate über die Runden zu kommen, bis ihm eine neue Geschäftsidee gekommen wäre. Doch war die heilige Vorhaut in all den Wochen des Lobpreises augenscheinlich in Vergessenheit geraten

und auf dem Pausenhof interessierte sich niemand für sein Angebot. Überhaupt waren verdächtig wenige Schüler zu sehen. Niedergeschlagen vom unvermeidbaren Ruin zog Jasper Willenborg sich zu seiner alten Wirkungsstätte hinter den Mädchentoiletten zurück. Dort fand er einsam Henning Opitz auf einer Tischtennisplatte, abwesend mit den Beinen baumelnd. Mit einem tiefen Seufzen ließ Jasper Willenborg sich neben seinem ehemals treuesten Kunden nieder.

“Der Markt hat mich verraten!”, stöhnte er.

“Und jetßt kommt nächßtes Jahr auch noch der Euro!”, stimmte Henning Opitz verständnisvoll ein.

“Haßt du ßon geßehen? Hinter den Jungenkloß ßeigt Benke Jochemß für ßwei Mark ihre dritte Brußtwartße!”

Vernichtet ließ Jasper Willenborg seinen Oberkörper auf die Tischtennisplatte sinken. “Und Koray Arßlan hat ßeit ßeinem Fahrradunfall bloß noch ein Ei. Daß kann man für einß fünfßig hinterm Kioßk beßichtigen!”

“Eins fünfzig?” Jasper Willenborg schnalzte verächtlich mit der Zunge. Er hasste krumme Preise. Der Markt hatte ihn wirklich betrogen, wenn sich solche Unsitten durchsetzen konnten.

“Tut mir leid, dass dein Nazibruder kein Ostergeschenk bekommen hat”, fiel ihm ein und er drehte sich vorsichtig zu Henning Opitz um. Immer noch bissen die Nähte und erinnerten grausam an seinen Bankrott.

“Warum Natßi?”, wollte Henning Opitz erstaunt wissen und saugte am Mundstück seines Aspirators. “Der Thomaß ißt kein Naßi. Der ßtudiert Geßißte in Paderborn und ßammelt ßoldatenfiguren auß reinem Intereße.”

Schweigen kehrte zwischen den Jungen ein. Henning Opitz lutschte gelegentlich an seinem Aspirator und Jasper Willenborg beobachtete das Vorbeiziehen der Wolken. Einige von ihnen sahen wie Barbieköpfe und Tamagotchis, Erdnüsse und Tintenpatronen aus. “Willst du meine Vorhaut sehen?”, fragte er schließlich, nachdem lange keiner gesprochen hatte. “Hab sie in einem Marmeladenglas dabei.”

“Pfui, nein”, sagte Henning Opitz. Wieder baumelten die Beine, wieder fiel keinem etwas zu sagen ein. Irgendwann fing Henning Opitz an, in seiner Tasche zu kramen. “ßollen wir unßer Frühßtück taußen?", schlug er vor. "Ich haße Moßarella.” Neben Jasper Willenborg schnalzte der Verschluss einer Tupperdose. “Warum eigentlich nicht”, fand Jasper Willenborg und richtete sich auf. Warum eigentlich nicht.


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