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Keine Frage der Gewohnheit

VON ANNE BÜTTNER //



Hätte er sich von der Produktion doch bloß nicht den Anzug ausreden lassen. So ein Kittel  mag ja authentischer wirken. Aber Authentizität war nun nicht gerade das, womit Georg  Wagenbach punkten wollte. Jedenfalls nicht in erster Linie. Wenigstens hatte er sich bei der  Hemdfarbe durchgesetzt. „Zarte Pistazie“ steht ihm einfach ausgezeichnet.  


Fast fünfhundert Mal wurde der Beitrag schon angeklickt. Selbst ohne seine eigenen Aufrufe  blieben es immer noch um die vierhundert. VIERHUNDERT!  


Ob Nele Grotenburg ihn wohl auch gesehen hatte? Und wenn ja, ob es ihr aufgefallen war?  Ganz sicher war es das. Es war quasi unmöglich, den Beitrag zu sehen, ohne es zu bemerken.  Da, gleich zu Beginn, auf dem Weg zum Staudensellerie, da ist es. Kein kurzes Stolpern oder  leichtes Verhaspeln. Nein! Er verlängert. So stark, wie seit Jahren nicht. Georg Wagenbach,  eine Tonstörung in zarter Pistazie.


Und die Flecken unter seinen Armen? Warum waren die  beim Dreh nicht aufgefallen? Groß genug waren sie ja! Gleich zwei Mal sind sie zu sehen:  Erst, als er zur Erklärung des Beleuchtungskonzepts zur Decke zeigt, und dann nochmal, als  er zum Veranschaulichen, wie breit die Gänge seit der Umgestaltung sind, ebenso  schwungvoll wie unnütz die Arme ausbreitet. Warum beließ er es nicht beim Erwähnen? Sieht  man doch, dass da Licht und Platz ist. Und was ist das da kurz vor Ende des Beitrags? Was ist  da mit seinem Gesicht los? Was macht es da?  


Genug jetzt, ermahnt Georg Wagenbach sich selbst. Das ist ein guter Beitrag, ein wirklich  guter Beitrag ist das! Wenn nur diese paar Sekunden nicht wären. Er zieht den Balken  nochmal zurück. Eindeutig: Redeflussstörung. Fast wie damals, als … Jetzt reichts aber! Zeit  für seinen Powersatz aus dem Führungskräfte-Coaching. Der einzige, der ihm davon noch in  Erinnerung war. Hunderte von Euro für diesen einen Satz. Gleich nochmal: „Das Universum  liebt mich: ICH! BIN! WER!“  


Niemand, nicht die Belegschaft, nicht die Kundschaft, die Bezirksleitung nicht, niemand hatte  ihn je unsicher erlebt. Niemand kannte ihn hier mehr als Ge-ge-ge-ge-ge-geeee-ge-ge-g-g georgWwwwwwwwagenbach. Hier! Ist! Er! Wer! Nämlich Georg Wagenbach, jüngster  Filialleiter (Vollsortiment!) der Region. Und das in einem der meistausgezeichneten Märkte  des Umlands. Besonders stolz ist er auf die Innovationssieger-Urkunde, die ihm vor Jahren für seinen unternehmerischen Mut verliehen wurde, als Erster in der Gegend vegane Produkte ins  Sortiment aufzunehmen.  


Die Verkostung hatte wie immer Frau Renke übernommen. „Und Frau Lürnich, was  denkense? Seinse ehrlich: Is` gar nich` schlecht, oder? Kann man auch mal Menschen  anbieten, die man mag, sag ich immer.“ „Aber natürlich, Herr Walter, seinse ganz unbe…  ICH SAGTE, NATÜRLICH HERR WALTER, SEINSE GANZ UNBESORGT, HIER GUCKT  SIE NIEMAND KOMISCH AN, WENN SIE WEITERHIN IHRE KNACKER UND IHRE  ROULADEN KAUFEN. SOLANGSES HIER MACHEN, NE, HERR WALTHER.“


„Na klar,  junger Mann, greifense zu! Bevor mein Stand hier nicht leerprobiert ist, hab ich sowieso  keinen Feierabend. Sie tun also nicht nur sich sondern auch mir einen Gefallen.“ Stimmt  schon, was er da im Beitrag über Frau Renke gesagt hat mit Kühlschrankverkauf in Grönland.  


Georg Wagenbachs liebstes Segment sind die Delikatessen aus aller Welt. „Essen nährt den  Körper, Genuss streichelt die Seele“, hört er sich bei Minute 02:35 sagen. Sollte Nele  Grotenburg den Beitrag gesehen haben, so hofft er, dass sie sein Lächeln an dieser Stelle  anziehend findet, geheimnisvoll. Immerhin hatte er da an sie gedacht und sich vorgestellt, was  er sich immer vorstellt, wenn er vor den Delikatessen aus aller Welt steht und an sie denkt, die  dort regelmäßig mit großer Zärtlichkeit einige der Spezialitäten in ihrem Einkaufskorb bettet. 


Bislang konnte er noch keine Vorliebe ausmachen. Türkische Baklava, belgische Schokolade,  Lakritz aus Schweden, kaltgepresstes Öl aus Griechenland, französische Rillettes,  Trüffelcreme aus dem Piemont, Kapernäpfel aus Spanien: Nichts, wofür sie sich auffallend  häufig entscheidet. Anders bei Gemüse. Neulich hatte er eine Studie gelesen, die besagte, dass  Menschen, die Fenchel kaufen, selbst und frisch kochen. Dass sie selbst und frisch kocht,  hätte er auch so vermutet. Zum einen war Konsumpsychologie sein bestes Fach in der  Abschlussprüfung. Zum anderen finden sich in ihrem Korb fast ausschließlich frische  Lebensmittel und nur selten Convenience Produkte, wie hier kaum jemand sagt, aber die  meisten kaufen.  


Besonders freut ihn, dass sie immer nach den Mangos greift und nie nach den Avocados  daneben. Menschen, die Mangos mögen, sind ihm näher, als Menschen, die Avocados mögen.  Das ist wie mit Sternzeichen, auch wenn er da weniger gut Bescheid weiß. Ihres kennt er  trotzdem. Vorausgesetzt, dass die Angaben auf ihrem Antrag für die Topmarkt-Karte  stimmten. Auf jeden Fall hatte er einige der Eigenschaften, die in diesem Sternzeichen  Geborenen zugeschrieben werden, an ihr beobachten können. 


Notiert hatte er sich dann aber nur den einen Satz, den er so oder ähnlich am häufigsten gelesen hatte: „Personen, die ihnen  die eine oder andere Entscheidung abnehmen, werden schnell einen festen Platz im Leben  dieses Sternzeichens einnehmen.“ Konnte ja nicht schaden, solche Informationen parat zu  haben. Nur, wer etwas über die Kundschaft weiß, kann Angebote an deren Bedarfen  ausrichten und weiterentwickeln, kann Begehrlichkeiten wecken.  

Beobachten, analysieren, ableiten, handeln: Das ist, was er macht. Das ist, was es braucht.  Nur deswegen verfolgt Georg Wagenbach an den Monitoren in seinem Büro das Geschehen,  das die Kameras aufzeichnen.  


Dass Markt und Parkplatz videoüberwacht seien, sei ja kein Geheimnis. Natürlich hofft man  immer, dass nichts passiert. Aber hoffen, so sagt er es bei Minute 03:09, sei nun mal nicht  wissen und sicher da einfach besser. Beispiel Außenbereich, fügt er an, da ist es schon  vorgekommen, dass da jemand abgeklappt ist. Von jetzt auf gleich, einfach so aus dem  Nichts. Und dann lag der da, ganz junger Typ noch, sportliche Erscheinung, denkt man ja gar  nicht, dass so einer abklappt, aber dann lag der da neben seinem Auto. Total versteckt, hat  man gar nicht gleich sehen können. Wäre da nicht die Kamera gewesen und er selbst gerade  vor den Monitoren, wer weiß, ob das alles so glimpflich ausgegangen wäre.  


Gut, dass ihm die Geschichte eingefallen war. Denn natürlich ist ihm bewusst, dass viele einer  Videoüberwachung kritisch gegenüberstehen. Das Wort ist aber auch schon so …  Überwachung ... Was soll man denn da denken? Ist ja klar! Dass er die Bänder selbst  auswertet und dabei manche, nicht alle, aber halt so ein paar, auf denen Nele Grotenburg zu  sehen ist, privat archiviert, davon sagt er im Beitrag nichts. Das hat ja doch immer so ein  Geschmäckle. Selbst bei einem wie Georg Wagenbach. Ihm, dem die Zufriedenheit von  Kundschaft und Belegschaft oberstes Gebot ist. Er, der alles gibt, damit der Aufenthalt bei  Topmarkt Wagenbach zum freudvollen Erlebnis wird. Nicht zuletzt mittels musikalischer  Untermalung, die er zur Chefsache erklärt hat.


Eine Untersuchung hatte, wie er im Beitrag  nebenbei erwähnt, gezeigt, dass französische Musik den Verkauf von französischem Wein  ankurbele. Eine andere Untersuchung, seine nämlich, die er im Beitrag aber nicht erwähnt,  nicht mal nebenbei, hatte gezeigt, dass Nele Grotenburg bei den Sugababes sehr textsicher ist  und bei Italopop immer ein bisschen ins Träumen zu geraten scheint. So richtig aufgefallen ist  ihm das eigentlich erst, nachdem er den Barolo, den sie immer kauft, so positioniert hatte,  dass ihr Gesicht noch besser zu sehen ist, wenn sie danach greift. 

  

Während er sich im Beitrag von der bevorstehenden Dolce Vita-Themenwoche schwärmen  hört, wird ihm bewusst, dass es nur noch wenige Tage bis zum großen Jahrgangstreffen sind.  Bislang war Nele Grotenburg noch bei keinem. Dass es dieses Mal anders wäre, darauf  spekuliert er, seit er die Adresse auf ihrem Antrag für die Topmarkt-Karte gelesen hatte. Da  würde sie sich das Jahrgangstreffen doch nicht entgehen lassen! Immerhin zwanzigjähriges.  Auf jeden Fall würde er den Anzug tragen, den ihm die Produktion ausgeredet hatte.


Dann, im  perfekten Moment, würde er selbstsicher auf sie zusteuern und ihr mit Delikatessen-aus-aller Welt-Lächeln eines der zwei Gläser Barolo reichen, die er in der Hand hielte. Seit Wochen  ging er die Situation durch. Wiederholte Mal um Mal die wenigen aber vielsagenden Worte,  die er sich überlegt hatte, in der Hoffnung, dass er sie ohne Redeflussstörung rausbekäme.  Eigentlich muss er sich ganz selten noch aufs Sprechen konzentrieren, nur in komplett  ungewohnten Situationen. Nele Grotenburg ist eine komplett ungewohnte Situation. Immer  schon. Egal, wie oft er sich die Bänder ansieht, wie sehr das Universum ihn liebt und wie sehr  er wer ist.  


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