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Klartext

VON CHIARA HAASE //


Heute Morgen bin ich aufgestanden, habe mir einen Tee gemacht und dir geschrieben, dass ich heute zu dir komme. Ich habe dich gar nicht erst gefragt, weil ich wusste, dass du Zeit hast, wenn ich sage, dass ich komme. Nicht kommen will, sondern dass ich wirklich komme.


Heute Morgen bist du aufgestanden, hast einen Kaffee getrunken und dümmlich auf dein Display gegrinst, weil du gewusst hast, dass ich komme. "Wann soll ich am Bahnhof sein?", hast du mich gefragt, bevor du duschen gegangen bist. "Jungs, ich helf heut' spontan auf der Arbeit aus, muss euch leider absagen", hast du auf einen feuchten Bildschirm getippt, als du im vernebelten Raum mit der Zahnbürste im Mund vor dem beschlagenen Spiegel getanzt hast.


"Hoff' dass ich den nächsten Zug noch erwisch", habe ich dann abends hastig in mein Handy gesprochen, als ich mir die verdreckten Schnürsenkel gebunden und mich zehn Minuten lang im Spiegel betrachtet habe. Und während ich hektisch alle drei Sekunden meine Nachrichten aktualisiert habe, bin ich allmählich losgelaufen. Dabei bin ich fast mit einem älteren Herrn zusammengestoßen, der an der roten Ampel auf Grün gewartet hat, was unangenehm hätte werden können, wenn ich nicht so vor mir her geschlurft wäre, um von einer ganz bestimmten Nachricht noch erwischt zu werden, bevor ich diesen Zug erwischen würde. "Vorsicht junge Dame", hat der ältere Herr höflich gesagt, aber gemeint hat er "Augen auf im Straßenverkehr. Die Jugend von heute". Das weiß ich, weil er unbewusst den Kopf über mich geschüttelt hat, was ich nachfühlen konnte, denn das hätte ich auch zu gerne gemacht. Also habe ich auch einfach mit dem Kopf geschüttelt, was gar nicht in die Situation gepasst hat und den älteren Herrn relativ verwirrt an der grünen Ampel hat stehen lassen.


"Sitz jetzt im Zug", habe ich dir geschrieben, als ich noch zögerlich davor gestanden habe. Ein "ich freu mich auf dich" habe ich hinterher geschickt, als sich der Zug mit mir in Bewegung gesetzt hat und ich das letzte Mal wehmütig nach jemandem Ausschau halten konnte, der nicht mehr gekommen ist.


"Bist du schon los?", habe ich reumütig am Telefon gefragt, als ich zwei Bahnhöfe früher ausgestiegen bin als ich sollte. "Folgendes ich muss wieder zurück. Eine Freundin hat sich gerade von ihrem Freund getrennt, die hat hier doch sonst niemanden", habe ich erklärt, während ich die Treppe zum gegenüberliegenden Gleis hinuntergeeilt bin. "Alles gut, chill eh noch auf der Couch", hast du gesagt, als du enttäuscht auf die Bahnhofsuhr geschaut hast. "Tut mir echt so leid", habe ich gemeint, als ich freudig "gib mir 40 Minuten, dann bin ich da" in mein Handy getippt habe. "Mach dir keinen Kopf, kann ich voll verstehen", hast du geantwortet, während du die Blumen in den vollen Mülleimer neben dir gestopft hast. Ich habe dann aufgelegt.


"Ich hoff', ich hab dir deine Abendplanung nicht völlig durcheinander gebracht, weil ich mich erst so spät gemeldet hab, aber ich war heut' echt im Stress", hat er mich angegrinst, als er mir fünfzig Minuten später die Tür geöffnet hat. "Quatsch", hab ich gelacht "war eh grad auf dem Heimweg".


"Denkst du noch an sie?", habe ich ihn nach sieben Bier gefragt. "Schon lange nicht mehr", hat er gesagt, während er über mich hinweggesehen hat. "Ich glaube dir", habe ich später in seine nackten Arme geflüstert. Ein "du fehlst mir" habe ich dir geschrieben, als er sich von mir ab- und seinem Handy zugewendet hat. "Du mir auch", hat sie ihm geantwortet, bevor sie zu ihren Mädels sagte: "Wo war ich noch gleich? Ach ja! Da war letztens SO ein heißer Typ auf Tinder."


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