VON EMILIA //
Im geöffneten Fenster spiegelt sich lautlos der Sonnenuntergang. Mit seiner kunstvoll gestalteten Decke und den hohen Wänden wirkt der Raum fast einschüchternd. Es ist kurz vor sieben Uhr am Abend. Beinahe ganz verlassen von jeglichen Lebenszeichen liegt das Gebäude da, umgeben von weitem, grünem Hügelland, durch das sich langsam der allnächtliche Herbstnebel zieht. England in den 1960ern. Die Zeit des gesellschaftlichen Wandels, der sexuellen Revolution. Der Vietnamkrieg ist über die Welt hereingebrochen. Es herrscht Chaos.
Auch am Himmel, wo sich blaue und violette und rote Streifen schichten und nicht aufhören, sich im Glas zu spiegeln. Das Anwesen ist das Größte seiner Umgebung, und das Einzige. Einsamkeit prägt es. Und diese Einsamkeit findet sich auch in den wenigen Bewohnern des Anwesens wieder. Oliver. Er sitzt am Klavier in der rechten Ecke, gegenüber von den großen Fenstern, und hat den Kopf auf die Tasten gelegt, die Finger im wirren Haar. Die lauten Töne des Klaviers durchbrechen die klirrende Stille, als sein Kopf auf die Tasten fällt. Wie in Zeitlupe drücken sich die einzelnen Tasten herunter. Olivers Gesicht ist nass von Tränen. Er schließt die Augen und ohrenbetäubende Dunkelheit bricht über ihn herein. Wirbelnde Stürme füllen seinen Kopf. Die Farben des Sonnenuntergangs dringen kaum zu ihm durch. Vor seinen Augen sieht er nur ein paar Worte, sie sind groß und zerknittert und durchgestrichen, in der Schrift seiner alten Schreibmaschine. Alles in Schwarzweiß. Wir lügen. We are lying. Immer und immer wieder. Und immer und immer wieder.
Ich will mir selbst nichts mehr vormachen, denkt er, und tut es doch. Ich werde geliebt, sagt er leise, und weiß, dass es nicht stimmt. Scherben bleiben gebrochen. Oliver ist schon alt, er ist seit sechsundsiebzig Jahren auf der Welt und doch fehlt ihm wichtiges Wissen. Ganz von alleine beginnen seine Finger, sich zu bewegen, im Takt zu den Tränen, die seine Wangen hinunterlaufen. Der Schmerz ist schon viel zu lange da. Die Musik wird lauter, mit seiner ganzen Kraft hämmert Oliver auf die Tasten ein, als wären sie sein eigener Körper. Als wollte er sie zerstören. „Du hast mich angelogen.“ Sein heiseres Flüstern gilt nicht ihm selbst. Seine Stimme klingt wie erstickt. Der Funke ist zertreten. Seine Hände umfassen zerknittertes Papier, zerknüllen es unter dem Klavier weiter. „Du hast mich angelogen“, wiederholt er und sein Herz wird von Angst erfasst. Ist es wirklich wahr? Die Tasten unter seiner Haut sind kalt und unbeweglich. Oliver befindet sich in der Vergangenheit. Bilder schießen ihm durch den Kopf und er lächelt, bevor er das Bedürfnis verspürt zu schreien. So wie jeden Tag. So wie jede verdammte Minute. Wie kann man nur so einen Schmerz fühlen? Aber es ist egal. Er ist allein.
Langsam beruhigt er sich wieder und holt tief Luft, um seinem Gedankenuniversum zu entfliehen. Der Schmerz macht ihm Angst. Er nistet sich ein wie schwarze Fledermäuse in ihren Bau. Es geht schon viel zu lange so. Oliver verflucht die Menschen. Er verflucht die Menschen, die einander bekämpfen, um ihre Gier zu stillen. Die Menschen, die Andere aussortieren wollen. Es ist ihm unverständlich, wie man Gewalt Macht nennen kann. Langsam holt er den Zettel hervor, den er Tag für Tag bei sich trägt; es ist ein Brief. Das Siegel wurde hektisch aufgebrochen und auf dem Umschlag finden sich Spuren von Tränen. Wie oft hat er den Brief abends mit ins Bett genommen, um ihn eine Ewigkeit verzweifelt anzustarren. Oliver verbringt Tage vor dem Klavier, weil dieses sein liebster Platz war. Oliver kann dieses Instrument nicht spielen. Aber er konnte es. Er, der ihn so hinterhältig verlassen hat, ohne ihn vorzuwarnen. Er hat ihn angelogen. Seitdem hat Oliver Fernweh und Heimweh zugleich, nach sich selbst. Mit ihm hat Oliver ein Stück seines Ichs verloren, im Zweiten Weltkrieg. Er hatte Henry seit einer Ewigkeit gekannt. Sie waren so glücklich miteinander gewesen. Und mit „Ich komme wieder, versprochen“ sollte alles gesagt sein? Er war nicht wiedergekehrt. Es war alles eine Lüge gewesen.