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Nachtlied


In dem vierspurigen Korridor hängt ein Rußnebel, der mir auch heute wieder den Atem nimmt. Zu oft schon ist diese Kratzen in die Mundhöhle gekrochen, hat sich allmählich in den Rachen gefressen und sich am Ende als ständiges Ticken im Hinterkopf festgesetzt. Es ist Zeit. Es ist vorbei. Immer wieder fokussiere ich mich darauf, um nicht vom Wesentlichen abzuweichen. Die Lichter hinter den Fenstern sind größtenteils bereits erloschen und geben mir das Gefühl von Friedlichkeit, das so lange gefehlt hat. Noch vor wenigen Stunden pulste die Stadt gegen meine Schläfen und erhöhte den Druck, dazuzugehören. Mitzumachen. Mitzuleben und nie stillzustehen. Selbst die Blätter, die langsam ihre Farbe wechseln, werden vom stürmischen Novemberwind getrieben. Weit entfernt ist ein Horn zu hören, das so selbstverständlich zu dieser Stadt gehört, wie die Menschen, denen tagtäglich ihr Schicksal ins Gesicht peitscht. 35-Jährige von Freund erstochen. Tödlicher Autounfall. Mutter nach Mord verhaftet. Nachmittags Wolken mit teils heftigen Böen aus Nord-West. Die Anzeige schaltet auf Werbung.


Vor mir eilt ein älterer Herr vorbei, um die grüne Ampel noch zu erreichen. Sie beginnt drohend zu blinken. Einmal, zweimal. Er hetzt, humpelt, atmet und kommt zu spät, der Rhythmus der Stadt hat ihm den Weg abgeschnitten, der so schnell wie möglich bezwungen werden muss. Der Alte hustet bröckelnd in sein Taschentuch, sieht sich um und dann auf seine Armbanduhr. Irgendetwas kommt immer zu spät. Vorher war es die Straßenbahn, jetzt bist es du. Irgendjemand wartet immer.


Ich überlege kurz, dir zu schreiben, im Auto würdest du die Nachricht aber ohnehin nicht le-sen. Ich warte und die Ampel springt auf Grün. Der Mann beginnt sichtlich erholt seinen nächsten Sprint. Ich beobachte ihn noch, bis er um die Ecke biegt und mit ihm seine ausgebeulte Kordhose. Auch ein Zeichen der Stadt und ihrer Opfer. Wer ausgebeulte Kordhosen trägt, hat verloren. Sie sind Außenseiter, flicken ihre Löcher mit den Fäden aus dem Oberteil, das sie letzte Nacht im Suff ebenfalls zerfetzt haben. Die Gründe dafür sind vielfältig und ich will und kann sie mir nicht ausmalen. Sie werden dazu verleitet, den anderen Weg einzuschlagen, in die andere Richtung zu gehen und sich zu verlaufen. Jede Ecke sieht gleich aus. Die gleichen Türen mit ihren Schildern, die ein Zuhause inszenieren sollen. Die gleichen Nachbarn, die nur Fremde sind und beim Grüßen beschäftigt den Blick senken. Die gleichen Träume von einem erfüllten Leben, deren Ziel irgendwo im Grünen endet. Doch keiner bewegt sich vom Fleck, während Entscheidungen bedauert und neue Pläne geschmiedet werden. Alles wie immer. Und die Ampel steht auf Rot.


Ich achte auf den Fluss der Straße und halte konzentriert nach etwas Bekanntem Ausschau. Ein Gesicht, eine Farbe oder auch einfach nur die Zeichenabfolge würden mir schon reichen. Doch die Insassen starren vor sich hin und schlagen ihre Richtung ein. Aus dem Café an der Ecke torkelt laut lachend eine Frau. Sie zündet sich eine Zigarette an, bläst den Rauch in den Wind und verliert dabei ihr Strahlen. Zitternd steht sie vor der Tür und reibt sich mit der Zigarettenhand den Arm und blickt dabei verloren in die Finsternis, in der sie noch versinken wird. Einer dieser Nachtmenschen, die im Schatten der Lichter ihr Gesicht zum Vorschein bringen. Die, die tagsüber nicht auffallen, glitzern dann am hellsten. Sie sind es, die die Hoffnung in die Stadt noch nicht aufgegeben haben, die sich noch etwas erwarten und reich mit all ihren Spots und Bühnen beschenkt werden. Doch der Preis dafür ist hoch.


Meine Geldbörse ist beinahe leer, das bemerke ich erst jetzt. Normalerweise hast du genug dabei, um für uns beide zu sorgen, doch heute nehme ich Abschied. Ich krame nach meinem Handy, sehe drei Anrufe in Abwesenheit und google nach „Geldautomaten in der Nähe“. Mein GPS ist immer an. Falls ich verloren gehe, kann man nach mir suchen. Die nächste Möglichkeit ist drei Kreuzungen weiter und ich lehne mich wieder zurück. Manchmal ist eben ein scharfer Schnitt nötig, um den Rest seines Lebens zu beginnen. Alle Stücke, die ich noch besitze, trage ich an meinem Körper. In den Abgründen der Hochhäuser fällt einem nicht auf, wie oft man seine Jeans wechselt. Wichtig ist, dass man nach etwas aussieht und dem gewohnten Bild entspricht. Alles andere will man hier nicht. Die Stadt wählt die Menschen penibel aus, drückt ihnen einen Stempel auf und führt sie anderen vor. Es ist ein ewiges Schauspiel, ein Reigen, der nie endet. Man kann sich weiterdrehen. Oder aussteigen.


Grünes Licht, ein Auto blinkt in meine Richtung. Beim bloßen Anblick des silbrigen Lacks wärmt sich meine Magengrube. Ich nehme die Hände aus den Taschen und drücke mich hoch, die Kälte des Asphalts hat die Muskeln einschlafen lassen und erschweren mir die nächsten Schritte. Du entsperrst mit einem Klacken die Kindersicherung und ich steige direkt hinter dir ein, um nicht in die Versuchung zu kommen, durch den Rückspiegel deinem Blick zu begegnen. Ich lasse meinen gesenkt und vertraue auf dich.


Die Lichter rauschen in stattlicher Geschwindigkeit vorbei und zeichnen ein unscharfes Bild der Umgebung, die wir allmählich hinter uns lassen. Zwischen den Sitzen breitet sich Stille aus, die mich gleichzeitig in träge Erschöpfung hüllt. Ich möchte mich dagegen wehren, doch sie umklammert meinen Körper und wiegt mich – begleitet von gedämpften Sirenen – in den Schlaf. Heute höre ich das Nachtlied der Stadt ein letztes Mal. Morgen wird es anders sein. Morgen werde ich wieder atmen. Morgen -

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