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Quallenphysik


Sie erinnert sich an die Welt. Wie sie war, bevor sie umständlich wurde. Damals. Mit dreizehn würgten die Mädchen aus eitrigen Lippen das erste Kind auf Laken und Scheiße, damals. Wenn man Glück hatte, damals, kamen die Beine zuerst. Dann starb man damals vielleicht. Jungen trennte man zuerst den Zipfel von der Eichel und schnitt dann erst die Nabelschnur durch, Mädchen warf man in den Straßengraben. Die Mütter hinterher. Getauft wurde immer. Oder nicht? Wann war das, war das gestern? Sie erinnert sich an das Richtig und Falsch dieser Zeit, sie erinnert irgendeine Zeit richtig aber den Zeitpunkt immer wieder anders falsch. Sie erinnert sich nicht richtig, sie erinnert sich nicht falsch. Am silbernen Boden des Waschbeckens begegnen einander fette Quallen aus Rotz und Blut. In der rechten Hand hält sie ein zum Röhrchen gerolltes Busticket, links einen Klumpen Klopapier. Sie erinnert sich nicht an die Reihenfolge, aber in einem der beiden Prozesse teilte sie sich in zwei Hälften und der eine Teil von ihr begann etwas anderes. Etwas Sinnvolles. Beides war für die Nase bestimmt gewesen, bevor ihr Richtig davon huschte, hinter Falsch herhuschte, vor zehn Minuten war das, vor dreißig Sekunden, vor 52 Monaten begann das Huschen. Die Zeit paart sich mit den Quallen im Abfluss, ihre Brut ist missgebildet und sehr wach. Im Blut schläft man nicht, im Land des Blutes steht auf Schlaf die Todesstrafe. Sie ist sich sicher, die Polizei gerufen zu haben. Sie ist sich nicht sicher, die Polizei heute gerufen zu haben. Das Fleisch der zertrümmerten Nase ist endlich genug angeschwollen. Die Löcher sind gestopft, die Quallen ruhen.


"Kommen Sie da raus!", ruft ihr Mann. Er ist heute eine Frau. Sie weiß nicht mehr, welcher ihrer Männer sie ist. Sie weiß seinen Namen nicht, Dennis, Onur, Kai, Roman. Welcher liegt da draußen zertrümmert, welcher zertrümmert da draußen die Tür? Wann war das eine? Wann wird das andere? Sie weiß es nicht. Sein Gesicht rissen die Tentakel der Qualle in den Abfluss und verklebten es mit den anderen, seine Namen kreisen im Strudel des Blutes, seine Faust ist immer dieselbe. "Kommen Sie da raus oder wir müssen die Tür eintreten!", trommelt er mit seiner Faust, die immer dieselbe ist. Sie fiel die Treppe herunter. Sie lief in seine Faust, gestern. Sie lief vor der Faust fort die Treppe herunter. Wann war das? Wann wurde die Faust die Treppe? Sie hält sich den Bauch, das Baby ist fort. Wurde es schon herausgeholt? Vielleicht zertraten sie es, als sie selbst Treppe geworden war, einmal. Sie erinnert sich: Auf dem Weg nach oben knarzten ihr die Wirbel. Auf dem Weg nach unten knarzten sie. Bis sie in der Mitte brach und alle mit dem Fruchtwasser in die Tiefe stürzten. Oder wird sie erst schwanger werden? Das Papierröhrchen steckt in ihrem zugeschwollenen Nasenloch, färbt sich an der Kontaktstelle rot. Sie ächzt. "Ich zähle bis drei", klopft draußen die Faust.


Sie nimmt den Handspiegel vom Waschbeckenrand und kippt das Pulver darauf auf den Klumpen Klopapier, verschnürt ihn fest und schluckt ihn mit trägem Blut herunter. Wach bleiben für die Kinder. Wach bleiben für Richtig und Falsch. Wach bleiben gegen die Todesstrafe. Die Wachfrau bricht durch die Tür und findet sie vorbereitet.


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