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RISSE


Wenn man über Tote nicht schlecht sprechen dürfe, hätte sie heute nichts zu sagen. Das hatte Marla laut ausgesprochen beim Leichenschmaus im einzigen Gasthaus ihres Heimatdorfes und alles war still geworden. Irgendwo zwischen Bienenstich und Leberwurstschnittchen hatte es ihnen allen die Sprache verschlagen und nun saß sie da, die Trauergesellschaft, und starrte peinlich berührt in lauwarmen Kaffee aus blass gelben Tassen. Ihr Vater kramte nervös nach seinen Halspastillen, irgendetwas kratzte ihm auf einmal unerträglich im Rachen. Ihre Mutter beschäftigte sich mit dem Saum ihres Hosenanzuges, an dem sie erfolglos versuchte, einen Fleck mit einer Serviette aus dem Stoff zu reiben. Ihr Großvater starrte sie aus wässrigen Augen an. Auf der Straße rannten zwei Kinder um die Wette, ihre Freude drang unerträglich durch die geschlossenen Fenster. Die Bedienung, die gerade Eierlikör und Schnapsgläser in den Saal balancierte, blieb irritiert stehen und stellte dann hastig scheppernd das Tablett an der nächstgelegenen Tischkante ab. Irgendjemand kratzte sich unter dem sorgsam zur Seite gekämmten Haar am Kopf und hörte schnell damit auf, als er merkte, dass es unangenehm laut durch den Raum drang. Jemand räusperte sich und es klang wie ein Drängen, man möge bitte fortfahren und die Trauer endlich durch alkoholschwangere Gefühlsduseligkeit ersetzen. Marla blickte in ihre halbvolle Tasse, sah den Kaffee darin beben und die Fingerknöchel weiß auf ihrer rissigen Hand hervortreten. Sie stellte sie sicherheitshalber ab, bevor ihr noch alles um die Ohren flog. Sie hätte besser den Mund halten sollen, aber natürlich war es ihr nicht gelungen. Sie hatte es sich vorgenommen, seit ihre Mutter angerufen hatte, als sie gerade aus der Drogerie kam oder vom Bäcker, ganz genau wusste sie das nicht mehr. Jedenfalls hatte ihre Mutter sie angerufen und als das Display leuchtend ihren Namen anzeigte, an diesem Mittwochnachmittag vor anderthalb Wochen, hatte sie direkt gewusst, dass irgendetwas faul war. Sie hatte es einfach gewusst und abgehoben mit den Worten „Lass mich raten, Oma ist tot“. Auf der anderen Seite der Leitung hatte es kurz gestutzt, dann geschluchzt, dann quollen auch schon die tränengetränkten Worte ihrer Mutter daraus hervor, wie tragisch das alles sei. Marla war darauf nichts besseres eingefallen als „Okay“ zu sagen und aufzulegen. Die ganze Geschichte würde sie ohnehin noch erfahren.


Oma Gerda war von der kleinen Kellerleiter gefallen, als sie gerade nach dem Pflaumenkompott ganz hinten auf dem obersten Regalbrett greifen wollte, von dem sie im Überfluss seit den frühen Achtzigerjahren einlagerte. Mit ihren fleischigen Fingern hatte sie auf dem Regalboden also nach einem der hinteren Gläser getastet und versucht, sich ein wenig auf die Zehenspitzen zu stellen. Ihre in blaue Pantoffeln gepressten diabetischen Füße hatten ihr den Dienst verweigert und sie war ins Straucheln geraten, war unglücklich gestürzt, mit dem Hinterkopf gegen das Gurkenfass geprallt und hatte sich das Genick gebrochen. So war Oma Gerda also verendet, neben der kleinen Leiter und dem Gurkenfässchen, den glasigen Blick durch die Decke gerichtet, wo Opa Hermann gerade die Maulwurffallen herrichtete. Seine tote Frau fand er erst, als er nach zweistündigem Gartenaufenthalt und drei verendeten Maulwürfen in den Keller ging, um sich mit deftigen Schinkenbroten und Gürkchen zu belohnen. Der Appetit verging ihm in dem Moment, als er zwischen Vorräten verrenkt seine Frau liegen sah. Der erste Mensch, dem er davon berichtete, war sein Sohn, mit dem er die Hälfte seines Genmaterials und den südlichen Gartenzaun teilte, aber sonst herzlich wenig. Streng genommen war es der erste und einzige aufrichtige Kontakt zwischen den beiden, als Hermann zu besagtem Gartenzaun schritt, seinen Sohn rief und wenig später vor dessen Augen in Tränen ausbrach. Sein Sohn Rolf konnte damit wenig anfangen, in seinem Herzen jedoch machte sich eine stille Erleichterung breit, als hätte man ihn endlich von einer großen Last befreit. Die Tränen seines Vaters überforderten ihn, also tätschelte er ihm beschwichtigend auf das blass beige Karohemd und murmelte, es täte ihm leid. Der Alte sah das als Zeichen, ihm alle Verantwortung aufzuladen, Rolf öffnete darauf den Mund, um vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben Nein zu sagen, aber nickte dann stumm. Also kehrte Rolf ins Haus zurück, rückgratlos und seltsam beseelt, wo er seiner Frau vom Tod der Mutter berichtete. Renate weinte bitterlich, was sie beide verwirrte, hasste sie ihre Schwiegermutter doch aus tiefstem Herzen, was sie auch stets lautstark artikulierte, während er angestrengt weg hörte.


Seit fünfzehn Jahren wechselte sie mit Gerda kein Wort mehr, seit ihrem Aufbegehren an Weihnachten, damals. Es hatte Wildschweinkeule mit Rotkohl und Serviettenknödeln gegeben, zur Vorspeise Pilzsuppe. Die gesamte Familie hatte das Essen über sich ergehen lassen, die Kinder ungewöhnlich still, Rolf ungewöhnlich gesprächig. Gerda, die Renate die voreilige Hochzeit mit ihrem einzigen Sohn nie verziehen hatte, rümpfte die Nase. Die Suppe sei beinahe schon kalt, hatte Gerda gesagt und missmutig den Löffel durch die Flüssigkeit gezogen, in der traurig die Pilze schlingerten. Das Wild hätte man nicht so heiß garen dürfen, ob Renate denn nicht wisse, dass es sonst unerträglich zäh werde und ob sie einen Zahnstocher hätte. In den Rotkohl gehöre übrigens nicht das billige Zeug aus dem Supermarkt, sondern anständiger Rotwein. Letzteren hatte Renate sich einverleibt, über den Abend hinweg hatte sie sich zwischen Beschwichtigungsversuchen und hastigen Küchenläufen in erschreckender Geschwindigkeit nachgeschenkt und niemandem sonst. Während das Gefühl, nie zu genügen, mit jedem Glas stärker und die Frustration immer drängender wurde, rückte Rolf im Laufe des Abends immer weiter unauffällig von ihr ab, bis er sich schließlich aufs Sofa setzte. Renates sorgfältig aufgebauter Schutzwall aus oberflächlicher Höflichkeit und Anbiederung geriet immer weiter ins Wanken und stürzte vollends ein, als Gerda sich weigerte, den Nachtisch zu essen. Was fiele ihr eigentlich ein, das eigene Rezept so zu verschandeln, erboste Gerda sich und spuckte den Pflaumenkompott zurück. Marla, damals elf Jahre alt, erinnerte sich noch genau an diesen Moment und daran, dass sie ihre Großmutter kurzzeitig aufrichtig dafür bewunderte, so durchdringend hasserfüllt zu sein. Sie hatte laut gejauchzt, als der Kompott zwischen Gerdas falschen Zähnen zurück in das Schälchen traf, für einen endlosen Moment verbunden durch einen dünnen Speichelfaden. Als der riss, tat es auch Renates Geduldsfaden. Sie stürzte sich rotweinschwer beinahe auf Gerda, wären da nicht Hermann gewesen und ein Bodensatz an Anstand, der ihr noch geblieben war. Stattdessen hatte sie all ihre Wut in zwei Sätze gepresst, hatte mit Schwung die Esszimmertür aufgerissen und mit etwas zu schriller Stimme gesagt „Es reicht. Lass dich hier nie wieder blicken“. Zur Überraschung aller war Gerda ihrer Aufforderung gefolgt, jedoch nicht ohne die Haustür hinter sich zuzuknallen und die wenigen Meter zum eigenen Haus lautstark zu überqueren. In der Nachbarschaft hingen neugierige Silhouetten hinter dunklen Fenstern, über ein besinnliches Weihnachten ließ sich beim Kaffee so wenig erzählen. Im Haus brach Renate wankend zusammen, teils vom Rotwein, teils wegen der verwirrenden Gefühle. Anstatt seine Frau zu trösten, war Rolf über sie hinweggestiegen, zur Haustür, wo er eingehend die Risse an der Fassade inspizierte. Die Kinder hatten das Spektakel schweigend mitangesehen, Marla hatte sich die Hände vor den Mund geschlagen, um ein weiteres Jauchzen zu unterdrücken, weil hier endlich etwas passierte. Ihr Bruder, körperlich anwesend, aber gedanklich meilenweit entfernt, hatte unter langen Haaren mit den Augen gerollt und war in sein Zimmer gegangen. Weihnachten war vorbei.


Marla hatte an dem Abend nicht einschlafen können, also hatte sie sich nachts zu ihrem Bruder geschlichen. Ihr zaghaftes Klopfen hatte Timon nicht geweckt, zur Antwort erklang eine sekundenlange Abfolge vom Öffnen und Schließen von Fenster, Browsertabs und Schubladen, bis sich leise die Tür öffnete wie der Durchgang zu einer anderen Welt. In dem dunklen Zimmer roch es süßlich abgestanden nach Geheimnissen und der Sehnsucht fünfzehnjähriger Jugendlicher, endlich auszubrechen. An seinen Wänden hingen knittrige Poster weiblicher Prominenter zwischen wütenden Sprüchen, die er mit Edding auf Raufasertapete gebannt hatte. Seine Ruhelosigkeit entspannte Marla und sie schlief endlich ein, zusammengerollt auf seinem Bett, während er die Nacht über wach blieb, rauchte und davon träumte, endlich auszuziehen. Das tat er auch, zehn Tage nach seinem achtzehnten Geburtstag, an dem er sein Fortgehen lautstark und ausschweifend verkündete, beim Familienfest im Garten, die Eltern beschämt zur Seite blickend, weil nun wieder die Nachbarn hörten, wie sehr sie versagt hatten. Die Poster schmiss er weg, nahm nur seine Kiefermöbel mit und vermachte Marla das Zimmer mit den wütenden Sprüchen. Danach hörten sie nie wieder etwas von ihm und irgendwann übermalte Marla die Sprüche mit Gedichten über das Vermissen. Gerda erfüllte Timons Auszug und Fortbleiben mit großer Freude, hatte sie doch seine Ausschweifungen über den Gartenzaun hinweg mitangehört. Mit steifen Fingern hatte sie sogleich ihren Kaffeekranz im Seniorenkreis angerufen, um die Kunde zu verbreiten und den Keil tiefer in die Wunde ihrer Schwiegertochter zu treiben. Die weihnachtliche Demütigung hatte sie ihr nicht vergessen. Ihre Zeit verbrachte sie fortan damit, Gerüchte zu säen, die Renate an Supermarktkassen oder in der Apotheke überraschten und wiederkehrend quälten. Irgendwann ging sie dazu über, Antworten zu erfinden, Timon ginge es gut, aber er hätte viel zu tun, die Arbeit fordere ihn sehr und er sei viel unterwegs, er habe kürzlich geheiratet, die Glückwünsche richte sie gerne aus, außerdem baue er jetzt ein Haus mit seiner Frau, leider nicht in der Region, nein. Gerda protokollierte jede ihrer Aussagen kleinlich und führte angestrengt Buch, um Renate irgendwann wieder bloßzustellen. Es wäre ihr fast gelungen, wäre da nicht der Vorfall mit der Kellerleiter und dem Gurkenfass gewesen.


Renate hätte erleichtert sein sollen, als sie davon erfuhr, war sie doch nun endlich erlöst, stattdessen fühlte sie sich, als würde ihr nun alles vollends entgleiten. Rolf hatte zugesehen, wie ihre Tränen über Wangen rollten und in den Salat fielen, den sie gerade zubereitete. Dann hatte er seine Frau in den Arm genommen, so zärtlich wie seit Jahren nicht mehr und hatte ihr über die dunklen Locken gestrichen und ihr beschwichtigend zugeflüstert, dass es ihm leid täte, ob er den Tod seiner Mutter oder das Fehlen von Zuwendung meinte, sagte er nicht. Zu seiner Verwirrung weinte Renate noch stärker, bis sie sich schließlich beruhigte und mit den Vorbereitungen für die Beerdigung begann.


Marla war gekommen, um Abschied zu nehmen, nicht von Gerda, aber von dem, was sie bedeutete und eine elfjährige Stimme in ihr sagte, dass jetzt vielleicht alles gut werden würde. Die Vorstellung vor Oma Gerdas Sarg zu stehen, bereitete ihr wohlige Zuversicht, die sie wie auf Wolken durch den Heimatort bis zur Kapelle trug. Hannelore, die nach Gerdas Ableben unversehens zur Hauptverantwortlichen des Dorftratsches aufgestiegen war, erkundigte sich nach überschwänglichen Beileidsbekundungen unvermittelt danach, ob Marlas Bruder denn auch käme. Marla gefror augenblicklich die Zuversicht zu einem schweren Klumpen im Magen und sie war froh, dass die Trauerandacht gleich losgehen sollte. In der Kapelle blieb der Platz neben ihr leer und sie wagte nicht, aufzurücken, um die Lücke zu schließen. Der Pfarrer erzählte von Schicksal und der Güte des Herrn und Marla dachte „Karma” und konnte sich ein gehässiges Lachen gerade noch verkneifen. Sechs ernst schauende Männer hatten Gerda im Sarg hinausgetragen und ins Grab hinab gelassen und als Marla an der Reihe war, schaufelte sie mit Schwung eine doppelte Portion Erde hinein und atmete erleichtert aus, die Umstehenden interpretierten es als Schluchzen fehl und schauten sie mitfühlend an. Doch dann kam der Leichenschmaus und Hermann mit wässrigen Augen auf sie zu zwischen Kaffee und Klarem. Mit schwacher Hand griff er nach ihrem Arm und fragte, ob sie nicht etwas sagen könnte, als jüngste Generation dieser wunderbaren Familie, das hätte Gerda stolz gemacht, ihre geliebte Enkelin für sie sprechen zu hören. Sie hatte ihn lange fassungslos angesehen, war dann langsam aufgestanden und hatte mit einem Löffel gegen ein Glas geschlagen, um sich klingelnd Gehör zu verschaffen. Sie hatte ihren Blick über die ganze verlogene Trauergesellschaft schweifen lassen, ihren Großvater, ihren Vater, ihre Mutter, die Kaffeeklatschrunde ihrer Großmutter, eine Reihe erwartungsvoller Gesichter. Sie hatte tief ein- und ausgeatmet und gesagt, was endlich ausgesprochen werden musste.



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