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Rundreise


Meine Mutter arbeitete, damit sie Urlaub machen konnte, und sie machte Urlaub, damit ihr

nicht die Kraft zum Arbeiten ausging. Und für die Kohle, natürlich.

"Kohlrabenschwarz!"

Der Speichel des Vorgesetzten flog über den Tresen, ein gelenkloser Wurm, gläsern im

gelben Licht der Deckenfluter. Die Spucke verfehlte den kecken Kurzhaarschnitt meiner

Mutter nur um eine mit Wasserstoff gebleichte Haaresbreite, verfing sich leider nur beinahe

in einer taftstarren Strähne. Schade. Ein Speichelfadenende hätte sich hier, stellte ich mir

vor, an einem zusammengebackenen Bündel Haar festgehalten, wäre wie ein Turner drei

Mal um die eigene Achse rotiert und dann endlich mit dem Geräusch blanker Füße, die in

einem Fass Trauben stampfen, zurück in dem Loch gelandet, aus dem es gekommen war.

10 Punkte, die Zuschauer hätte es von den Sitzen gerissen, während der Sprecher, zwar

durchaus gerührt vom Applaus, aber dennoch unbeirrt, weiter vor sich hingelallt und bald

den nächsten Speichelfetzen aus dem Schlund katapultiert hätte. Mein Gehirn machte

Urlaub, wenn ihm die Kraft für die Realität ausgegangen war. Hier passierte das nahezu

täglich, am Tresen vor der rostroten Tür zu den Bräunungskabinen, wo ich nach der Schule

mit dem schweren Ranzen auf dem Rücken auf den Feierabend meiner mütterlichen

Mitfahrgelegenheit wartete.


"Kohlrabenschwarz!", wiederholte er, denn ihm war egal, dass sie mit einer Sprühflasche

Desinfektionsmittel zu den Kabinen entschwunden war. Desinfektionsmittel nannte man hier

einen Schuss Weizenkorn, in einem Liter Wasser verdünnt und mit einem Spritzer Essig für

den überzeugenden Geruch nach großmütterlicher Reinlichkeit vollendet. Nach Feierabend

habe man den sparsamen Vorgesetzten schon die Sprühaufsätze abschrauben und die

Reste in den Rachen kippen sehen, behauptete meine Mutter.


Sein trüber Blick sehnsüchtelte nun über die Postkarte, die er mit ungeschnitten gelben

Fingernägeln vor das lederne Gesicht hielt. In mir blubberte Unbehagen und ich fokussierte

das Rostrot, hinter dem nackte Leiber in künstlichem Licht gebraten wurden. Wenn meine

Mutter zum wässrigen Korn griff, war die Schicht fast zu Ende, bald würden wir am Imbiss

gegenüber eine Currywurst für meinen Vater einpacken und Fritten für mich und wären auf

dem Nachhauseweg. Am Boden meiner Fantaflasche kreiste der Strohhalm geräuschvoll um

die Wölbung, suchte nach letzten Resten von gelbem Zuckerwasser.


"20 Mark für zwei Wochen. Die gehört dann nur dir, zwei Wochen lang. Zwei Wochen gehört

die dir. Kannste nix sagen!", wandte er sich an mich, bevor meine Mutter die Unschuld

meiner Ohren zur Frittenbude retten konnte, und warf mir die Postkarte hin. Weißer Strand,

türkisfarbenes Wasser, darunter in gelben Lettern: Dominikanische Republik.

"Kohlrabenschwarz war die! Nur das Arschloch, das war rosa!"


Mein Magen würgte ein Empfinden irgendwo zwischen Ekel und konturloser Erregung an

den Lungen vorbei nach oben, ein nervöses Rülpsen erreichte die enge Kehle, die Augen

blieben auf dem gelben O in Dominikanische haften wie eine Fliege in der Klebefalle. Meine

Gedanken flohen, und mir fiel zusammenhanglos ein, was ich in einer Zeitschrift für Kinder

im Wartezimmer meines Zahnarztes gelesen hatte:

"Jeder Schluck Wasser, den ein Erwachsener trinkt, war schon mindestens sieben Mal in

seinem Körper."


"Hopp, heimwärts!", tauchte meine Mutter auf und rasselte mit dem Autoschlüssel. Sie hielt

den Schlüsselbund um den Finger wie einen Ehering.

"Behalt die nur!", grinste der ledrige Vorgesetzte mit fangofarbenen Zähnen, als mir im

Vorbeigehen die Postkarte in meiner Hand einfiel. Er griff sie mit den Nägeln wie ein Vogel

die Beute und schob sie in die Brusttasche meines Anoraks.

"Siehst blass aus", bemerkte meine Mutter im Auto und bediente sich an den Fritten in

meinem Schoß.

"Hast du dich nicht gut mit Heinz unterhalten?"

Mein Doch verlor sich im Schmatzen, als sie Curryketchup aus dem Nagelbett lutschte.

Nachdem der ledrige Heinz Jahre später an den Folgen einer Infektion mit dem HI-Virus

gestorben war, meine Mutter verdiente sich ihren Urlaub inzwischen als Verkäuferin in

einem Bekleidungsfachmarkt, fand ich mich im Trauerzug und mein Gehirn auf Reisen.

Kohlrabenschwarz gekleidet, rosa nur die wunden Augen meiner Mutter neben mir, einen

Umschlag in der Brusttasche meines Anoraks. Der Pastor erinnerte an die Reiselust des

Verstorbenen, sie tupfte Tränen in die harte Schale eines in der Waschmaschine

zusammengepressten Papiertaschentuchs. Dass Gottes Wege unergründlich seien, spie der

Geistliche hinterher, und ein fliegender Speichelfaden verfehlte im Licht der Buntglasfenster

eine taftgestärkte Strähne meiner Mutter. Die Wege des HI-Virus sind genauso

unergründlich, dachte ich. Mein Hirn machte Urlaub in der Karibik, zeigte einen mit

schlankem Budget produzierten Sexfilm um einen ledrigen Urlauber, der seinen verseuchten

Samen für zwanzig deutsche Mark in einem rosaroten Darmausgang verteilte und eine

Fortsetzung, in der ein anderer die Seuche zum selben Preis aus derselben Öffnung in

Empfang nahm. 20 Mark war meiner Mutter der Tote wert gewesen, so viel wie ihm eine

Prostituierte mit kohlrabenschwarzer Haut. 20 Mark hatte sie in einen Umschlag für die

Witwe gesteckt und den Umschlag in die Brusttasche meines Anoraks. Und ich hatte den

Schein herausgenommen und in das Einmachglas mit den Reiseersparnissen meiner Mutter

gelegt. Als ich der Ehefrau des Verstorbenen im Regen vor der Kapelle den Umschlag in die

Hand gab und einstudierten Trost spendete, fielen kalte Tropfen vom Grau des Himmels auf

das Reinweiß des Briefes, Tropfen, dachte ich, die schon sieben Mal in meinem Körper

gewesen und von eifrigen Rednern ausgespuckt worden waren, die Viren in fremde Körper

transportiert und sich am Boden einer Fantaflasche in der Rille rings um die gläserne

Wölbung versteckt hatten. Wo der Regen die Postkarte traf, wurde das dünne Papier

durchsichtig, und ein weißer Strand war zu sehen, türkisfarbenes Wasser und wenn noch

genug Regen fiele, würde man darunter in Gelb "Dominikanische Republik" lesen können.





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