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Sperrmüll 2

VON LISA PEIL //


Das erste Mal draußen seit Tagen. Es hat geregnet, die vielen kleinen Schlaglöcher auf der Fahrbahn haben sich mit Wasser gefüllt. Der Asphalt glänzt. Durchnässte, abgewetzte Seiten von Gratiszeitungen kleben großflächig verstreut auf dem Boden. Ich wechsele die Straßenseite und betrete das Haus, in der sich die Praxisräume des Arztes befinden.


Nach einer Weile ruft mich der alte Arzt herein. Der Behandlungsraum ist hell. Durch den Vorhang fällt warmes Nachmittagslicht. Ich setze mich, der Stuhl knarzt. Ich schaue mich um. Die Wände sind eierschalengelb. Der dunkle Holztisch, an dem der Arzt sitzt, ist abgenutzt, aber robust. Die Anordnung der Gegenstände im Raum hat sich möglicherweise seit Jahren nicht verändert: ein klassischer Lamellenvorhang, eine verstellbare Liege, ein analoges Blutdruckmessgerät, ein vergilbtes Menschenskelett, ein verbeulter Aktenschrank, eine Glasvitrine mit gut sichtbaren, fettigen Fingerabdrücken am Griff. Die Schreibtischunterlage wellt sich, einige Tasten der Tastatur glänzen speckig. Es riecht schwach nach altem Rauch, Desinfektionsmittel und Heizungsluft.


Er mustert mich und fragt: Sind Sie schwanger, rauchen Sie? Es klingt, als wolle er mir eine Zigarette anbieten. Er betrachtet die neu angelegte Patientenakte mit meiner Adresse. Kurz hält er inne und atmet tief ein. Ja ach. Sie wohnen in meiner alten Straße. Wie es da früher zuging. Damals, also, in den Achtzigern, als ich da lebte, neu in der Stadt. In diesem einen Hochhaus, da, wo Sie gerade leben. Also, die ganzen Menschen in dieser Straße, in diesen ganzen Hochhäusern. Jene von dort, diese von hier, solche von da und da. Alle zusammen, alle in diesem ganz neuen Hochhäuserkomplex, jeder wie er wollte. Aber das haben Sie alles noch nicht mitbekommen, was.


In dieser Straße – meiner Straße – gibt es den heftigsten Sperrmüll. Regelmäßig türmen sich vor den Hauseingängen Berge aus meist unfassbar schäbigem und unbrauchbaren Wohnmüll auf. Woche für Woche staune ich über Berge von uringelben Schaumstoffmatratzen, aufgequollene Pappkartons, demolierte Möbelstücke, zerschlagene Pressspanplatten, verdorrte Zimmerpflanzen, zersprungene Kunststofftöpfe, dreckige Plastikverkleidungen, grob aufgerissene Säcke mit herausquellender, muffiger, altmodischer Kleidung oder nikotinverfärbter Vorhänge, staubiger Polster, dazwischen liegen dutzende Paar abgewetzter Schuhe. Schraubgläser mit verwesenden Speiseresten, zersprungenes Geschirr, abgegriffenes Spielzeug, zugeschissene Fensterrahmen, verrostete Wäscheständer, zerrissene, verschlissene Bücher und leere Videokassettenhüllen. Und so weiter. Wo kommt das alles her?


Mit glänzenden Augen erzählt der Arzt von seinen langjährigen Freundschaften zu seinen Nachbarn im Hochhaus. Ich schweife ab. Ich sehe es vor mir: Diese regelmäßig wiederkehrenden Mengen von Abfall müssen aus bodenlosen, gut versteckten Sperrmülllagern stammen. Mit großer Sicherheit gibt es genau so viele Keller- wie Wohngeschosse: Die Hochhäuser sind nur zur Hälfte sichtbar, die untere Hälfte ragt fensterlos und unerwartet tief in die Erde. Während die oberirdischen Etagen hunderte Menschen in ihren Wohnungen beherbergen, so ist der unterirdische Teil, Stockwerk für Stockwerk, prall gefüllt mit mehr oder weniger kostbaren, aber oft vergessenen Gegenständen. Hinter kleinen Verschlägen und in geräumigen Parzellen befinden sich sorgfältig archivierte Kisten, meterhohe Schwerlastregale, insgesamt tonnenschwerer, verstauter und verdrängter Ballast der vergangenen Jahrzehnte; hier und da sind kostbare Reserven für den Hausstand versteckt und verschüttet. Morsche Pappkartons voll mit wertlosem, miefigen Gerümpel. Grob gestopfte Boxen, übereinander gestapelter Unrat, Fahrradgestelle und Lampenschirme. Die sind noch gut, die heben wir auf. Warte, das tun wir in den Keller, wenn es mal knapp wird. Beim Versuch, einzelne Gegenstände zu bergen, muss zwangsläufig etwas kaputt gehen, zu sehr ist alles ineinander verhakt, verkeilt und eingeklemmt. Das ganze Zeug zahlloser Menschen, Mieter, Tote, nach unbekannt Verzogene.

Der Arzt beendet seinen Monolog. Er fragt mich endlich nach meinem Anliegen. Ich beschreibe ihm meine Beschwerden, mein Blick schweift dabei über seinen Schreibtisch. Darauf liegen verschiedene Notizblöcke und ein gravierter Briefbeschwerer und Textmarker mit Aufdrucken von Pharmaunternehmen. Stressbälle und ein Stethoskop liegen in greifbarer Nähe daneben. Ob er noch mehr Werbegeschenke und Kram in der Schublade des Tisches liegen hat? Ob er einen Keller hat? Hat er seinen Keller damals ordentlich ausgeräumt? Er unterbricht mich. Wie lange? Rauchen Sie eigentlich? Noch während er fragt, wirkt er wieder abwesend, der Glanz in seinen Augen ist verschwunden. Wie viele brauchen Sie? Ich schreibe es Ihnen auf. Kommen Sie bald nochmal wieder. Die Behandlung ist fertig.


Wieder draußen. Die Straße glänzt noch regennass, doch die Sonne scheint. Zurück in meiner Straße sehe ich neben einem Altkleidercontainer einen jungen Mann stehen. Er stochert anteilnahmslos mit einem langen Zweig in einer der Pfützen. Ich sehe ihn so häufig, dass es komisch ist, wenn ich ihn mal nicht auf meinem Weg sehe. Egal zu welcher Uhrzeit, morgens, mittags, abends, nachts; er steht oder sitzt fast immer an einem dieser Orte. Manchmal schaut er auf, wenn jemand an ihm vorbeigeht; einen Augenblick später vertieft er sich wieder in eine der herumliegenden Gratiszeitungen, zündet sich eine Zigarette an oder nippt an einem Energy-Drink. Etwas weiter neben ihm, auf dem Boden, in großen Pfützen, spiegeln sich die Hochhäuser wieder.


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