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Tandem


Vanitas, ein helles Wort wie eine Silbersträhne, eine fliegende, verwehende, die sich beim Vorbeiwirbeln in allen Flächen spiegelte. Es war in Hildegards Haar eingewoben, eingesponnen in ihr H, Hauchbuchstabe, Aus-Hauch, Atemsterben. Ein Spinnwebgefühl um den Kopf, erst blond, dann grau, nun weiß. So dünn, fast war es Luft – so fein, fast war es Krone. Hildegard, gekrönt mit Endlichkeit. Falten wie Schmetterlingsflattern, das Leben stand ihr ins Gesicht geschrieben, schwungvoll kalligraphiert, Lebendigkeit lag in der breiten Stimme, frisch gebackene Vokale, warm und rund.


Der Tod sollte sie nicht überraschen, wenn seine Fahrradklingel schellte, sie wollte nicht nach Reue riechen dann und dünne Hände um das Leben schlingen. Drum packte sie es jetzt an allen Enden, las es, aß es, warf es sich um. Alles Mondäne regelte sie beizeiten, für die erschöpfenden Dinge nahm sie sich Zeit. Sie vergab ihren Freunden – und ihre Feinde ihr. Hildegard war bereit und konnte unbekümmert leben.


Im Sattel fremder Schöße schien die Welt aus andren Winkeln zu bestehen, und sie so zu betrachten, war ihr die liebste Zeitausfüllung. Die Tage wie Zimmer, die Nächte wie Häuser schwollen an mit den Farben, die Hildegard im Körperspiel entdeckte, Farben, die nach innen zogen in ein nächstes Land. Hingabe war eine Reise ohne Boden. Sie wechselte sich ab im Flug mit Hans, mit Sigurd, Edgar oder Milan. Kein Gefühl kam der Grenze gleich. Hob man sie auf füreinander, fiel man ein wie im Blutrausch, gierte nach Landschaft, es gab keinen Halt. Sie hinterließen Spuren zärtlicher Zerstörung. Ein Tod im Kleinen, ein schöner Schluss.


Hildegard hatte den Tod schon oft gesehen – eine nacktes Witterwesen auf einem Tandemrad, dessen hinterer Sitz frei war – und sie lächelte, wenn er an ihr vorbeifuhr und ihr zuzwinkerte. Sie sah es als Aufforderung, das Leben auszukosten, bis sie sich irgendwann aufs Rad schwingen und mit ihm fahren würde. Eines Tages, eines Endes.


In ihrem siebzigsten Jahr hielt der Tod lautlos neben ihr an und Hildegard erstarrte. Hätte sie das Rad nicht hören müssen, fühlen müssen, dass es kam? Zwar war ihr die Schnecke schon aus dem linken Ohr gekrochen und auf dem letzten Regen davongeglitten, aber der Tod stand rechts von ihr, dort hätte ein Geräusch sein müssen. Vorsichtig fasste sich Hildegard an ihr noch intaktes Ohr.

„Mich hört man nie, es sei denn, ich will es. Steig auf, ich bringe dich später zurück.“ Hildegard bestieg das Rad und trat in die Pedale.


Im Krankenhaus wachte sie auf, weiße Blumen zu ihrer Seite. „Hilde“, hörte sie ihre Nachbarin Rosi sagen, „du bist wieder bei dir.“ Zu sich kommen, dachte Hildegard, was für ein seltsamer und passender Ausdruck. „Ich bin mit dem Tod spazieren gefahren“, erinnerte sie sich. „Das glaube ich. Und beinahe hat er dich geholt“, bemerkte Rosi. „Nein, er hat mir versprochen, mich zurückzubringen“, erwiderte Hildegard. Rosi runzelte die Stirn, senkte dann die Stimme. „Ich hab dir mit dem Ersatzschlüssel Wäsche von zu Hause mitgebracht“, setzte sie flüsternd an. „…und dabei hast du was gefunden“, ergänzte Hildegard sie unbeeindruckt. Rosi nickte, ihre Wangen machten ihrem Spitznamen alle Ehre. „Wenn du willst, Hilde“, bot sie an, „kann ich für dich aufräumen, wenn wirklich etwas passiert, weißt du?“

„Bloß nicht“, entgegnete Hildegard.


In der Nacht träumte sie von Hans. Sein Mund an ihrem Ohr, lockte die Schnecke heraus, die Fühler stießen an die Zunge, folgten ihr in die hauchende Höhle, wo der Dschungel hockte, Tropenodem. Ihr Ohr mochte die Wildnis, kräuselte sich unter seiner streichelnden Stimme. Sie wurde gefährlich, Wildkatzenkörper, zartes Pantherfell überall. Alles übergroß, Farne, Blätter, Lust, alles giftig, alles wuchs. Da stach und biss es im Dickicht, dichte Regenwälder aus Atem, aus Griffen, aus Kuss und blutigem Wort.

Sie lächelte um sein Herz, das ihr durch die Zähne troff, er lag zerfetzt und glücklich, die Schnecke glitt ins Ohr zurück, der Dschungel senkte sich, verschwand unter der Zunge. Sie lagen wie satte Raubtiere, sie verwandelten sich in ein Paar.


So war Hans gewesen, der die Schnecke in ihrem linken Ohr gekannt hatte. Die war nun nicht mehr da, Hans auch nicht, aber seine Stimme hallte noch im leeren Gehäuse, sie hatte ihn nicht vergessen. Nachdem er gestorben war, hatte sie lange niemand anderen sehen wollen, nun traf sie sich ab und an wieder mit Sigurd, auf dessen Küsse sie sich jedes Mal freute wie auf die ersten reifen Kirschen. Sigurd, ihr ewiger Frühsommer.


Rosi wusste von diesen und anderen Liebschaften, sprach aber nie davon. Sie schob die Dinge aus dem Bild, die nicht der Pinselführung folgten, den Farben der Gemälde ihres trauten Heims. Ihre reinliche Rosi, die sich nichts erlaubte, gemauerte Grenzen und ein gepflegter, leerer Garten. Sie wollte Heiligkeit herstellen aus Verzicht, Engel aus Irdischen machen. Die arme Alchemistin. Bedrängt von einer phantomaren Meute, ihre Arbeit war nicht für sie selbst. Und was ihr gelang, würde zerrissen werden von den unwirschen Händen, gerupfte Schwingen, zerklaubte Aureolen. Rosi, die die Welt waschen wollte, bis sie ihrem Begriff von Reinheit entsprach, die auch in Hildes Leben tilgen würde, was sie als Flecken ermaß. Darüber hatte Hildegard mit dem Tod auf der Radtour gesprochen.


Der Weinberg eine offene Schatulle voll glitschiger Juwelen: nasse Trauben, schlammige Steine, Schnecken. Vielleicht kroch ihre auch durch den Regen, dachte Hildegard, zog eine Schleimspur aus Gehör und Gedächtnis.

Konnte man zwischen den Reben Erinnerungen lauschen, wenn man den Schnecken hinterher horchte? Wie lange lebten sie weiter? Hildegard starrte dem Tod in den Nacken, als müsste er ihre Frage dort spüren.


„Was würde bei deiner Schnecke ertönen?“ fragte der Tod ohne sich umzudrehen. „Was wäre dir das Wichtigste dabei?“ Hildegard hörte es, bevor sie überlegen konnte. Genusslaute. Seufzen, Hauchen, Stöhnen. All ihre Lebensfreude, Sinneslust, das Natürlichste auf Erden. Das Einzige, wovon sie kein Andenken beseitigt hatte, das Einzige, das Rosi ‚aufräumen‘ würde.

„Denk an dein Vermächtnis. Was möchtest du hinterlassen, wie erinnert werden?“ Das lange Haar des Todes hing hinab trotz des Fahrtwinds. Es hatte die Farbe von Knochen. „Wir fahren gut zusammen, abgestimmt. So wird es schmerzlos, wenn die Zeit kommt, dich Nirgendwohin zu bringen. Ich gebe dir ein Zeichen, bevor ich dich abhole, du hörst es im leeren Gehäuse. Dann weißt du, was zu tun ist.“ Und der Tod fuhr an den Straßenrand und ließ Hildegard absteigen.


Ein paar Jahre später hörte sie das Sausen des Windes im linken Ohr, als kehrte die Schnecke von draußen zurück. Sie packte alle Sachen aus, arrangierte sie im ganzen Haus, unübersehbar. Dann tätigte sie die Anrufe und wartete auf das Tandemrad. Der Tod kam, seine Knochenhaare pendelnd wie ein stummes Windspiel. Als sie losfuhren, parkten gerade die ersten Autos vor dem Haus, und auch Rosi stürzte aus ihrer Tür.


Auf ihrem Bett lag Hildegard, umgeben von dem, was sie nicht hatte leugnen wollen, die „schmutzigen Geheimnisse“, die andere lieber verschwunden wussten. Sie hatte nichts davon ausradiert. Nicht ihre Aktphotographien aus allen Lebensaltern, nicht die Zeichnungen ihrer Liebhaber in koketten Posen, nicht ihre Reizwäsche, nicht ihre Erotikhefte und pornographischen Videokassetten, nicht ihre Spielzeuge. Jene, die sie fanden, sollten all das sehen und es nicht verstecken, ihre Ehrung der Welt, ihre Hingabe ans Leben als endlos empfindende, versuchende Person: ihre Sinnlichkeit.

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