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Umgangssprachlich für zuhause


Jemand fragt, wo ich Heimat fände, und alles, was ich antworten kann ist: Woanders. Weit weg. Aber ich wüsste genau wo.

Ich kann nur deswegen heute noch fließend auf Finnisch fluchen, weil du auf unseren Fahrten kaum etwas anderes getan hast und ich dir so viele Stunden dabei zugesehen habe. Du hattest ein viel zu hitziges Gemüt für einen klischeeblonden Finnen mit unsagbar blauen Augen.

Würde man mich in ein Auto setzen, ich könnte auch heute noch den Weg von Vantaa bis zur Hütte navigieren. Vielleicht würde es auf den letzten Metern schwierig werden, dort, wo die Straße längst schon nur noch plattgefahrener Lehm ist und man die letzte Nachbarshütte vor zehn Minuten passiert hat. Doch früher oder später würden sich die Bäume lichten. Irgendwo dort am Ufer des Simojärvi, gleich neben dem Steg, liegt diese kleine, rote Holzhütte, in der es immer nach Kardamom und Rauchsalz gerochen hat.

Einmal sind wir ganz raufgefahren, statt rechtzeitig abzubiegen. Immer weiter nach Norden, hoch bis nach Inari. Manchmal ist es hier so kalt, hast du gesagt, dass der Inarijärvi noch im Sommer zugefroren ist. Und dann: Im Schnitt lebt hier ein halber Mensch auf einem Quadratkilometer.

Nördlich des Polarkreises ist Stille quantifizierbar.

Dies ist keine stringente Erzählung, dies ist nur ein Versuch.

In der Küche, über dem alten Gasherd, hing ein verwittertes Holzschild. Du hast es in der Werkstatt deines Vaters auf die richtige Größe gesägt, die Kanten abgefeilt und nach und nach einzelne Buchstaben in das Holz gebrannt. Irgendwann damals, in einem Alter, in dem man noch keine eigene Handschrift entwickelt hatte. Ein Weihnachtsgeschenk für deine Mutter. Seitdem hing es dort.

„Hima?“, hatte ich gefragt.

„Umgangssprachlich für Zuhause.“

Am Abend hatte ich den Staub vom Holz gewischt, während du draußen ein Feuer gemacht hast.

Jeden Morgen zuallererst in den See. Noch vor dem ersten Kaffee. Und jeden Abend Lagerfeuer. Du mit deiner Gitarre, ich mit meinem Notizbuch. Eine Flasche Lakritzschnaps und zwanzigtausend Moskitos zwischen uns und dem Himmel. Du konntest selbst diesen einen Song von Apulanta so spielen, dass er mich nicht traurig machte. Rakastun uudelleen sangst du. Ich verliebe mich erneut.

Es war endlich. Es würde wehtun. Es würde aber auch für immer bleiben. Wir wussten es bloß noch nicht. Irgendwas in mir ist still zu Asche zerfallen seitdem, doch der andere Teil brennt noch. Was bleibt ist das Bedürfnis, zu tief ins Feuer zu starren, ein weiteres Mal Rakastun uudelleen zu murmeln und das Zuhause in Entfernung

Wahrscheinlich geht es hier nicht um dich und mich, um uns, um einen Mann und eine Frau. Vielleicht geht es um Lakritzeis auf den Treppen zum Dom. Bei jedem Besuch das längste Wort suchen und dann versuchen, es auszusprechen. Vielleicht geht es um eine Sonne, die mal nicht auf und mal nicht untergeht und vielleicht habe ich mich in dich, aber so sehr auch in jeden finnischen Winter verliebt. Irgendwann bist du gegangen, aber das alles blieb. Der See. Der Geruch. Der Flughafen. Die kleine Figur von der Uspenski-Kathedrale auf meinem Regal. Mein Staunen im ersten Blick auf den Inarijärvi. Er und das und alles andere. Hima. Umgangssprachlich für zuhause. Nur ganz weit weg.

„Wo willst du überall leben?“ fragtest du zwischen zwei Akkorden.

„London. In einem überteuerten, schäbigen Apartment. Helsinki. Hamburg. Wien, aber auch Tirol“, ich legte den Kopf schief, denn eigentlich war die Liste immer endlos. „Irgendwo am Meer. Und irgendwo, wo es mir ganz fremd vorkommt. Marrakesch. Weil allein der Name schon wundervoll klingt. Mar-ra-kesch.“

Ich ließ die letzte Silbe zischen und über dem Wasser verklingen.

„Ich würde gern hier leben. Auch wenn es hier schon wie zuhause ist. Ein bisschen wenigstens.“

„Was hindert dich daran?“

„Dass ich mich nicht beamen kann. Könnte ich immer hierbleiben und nur in den zu stillen Momenten wegbeamen, in eine Kneipe, in einen Club, was weiß ich denn. Rein in irgendwas, was lauter ist.“

„Vielleicht bist du noch nicht soweit“, hattest du geantwortet.

Ein Ast im Feuer knackte. Funken stoben gen Himmel. Manchmal hatte man das Gefühl, dass der Wald um einen herum seufzte und das auch so meinte.

„Vermutlich“ sagte ich. Ohne Seufzer.

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