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Unverzweigte Katakomben. Die Hobbykeller-Fragmente

Der Übergang zwischen Tür und der ausgetretenen Holztreppe nach unten knarrte bereits seit dreißig Jahren, vermutlich weil sich das Holz durch Alterung verzogen hatte. Seit dreißig Jahren dachte Georg beim Übertreten daran, dass er das Holz der obersten Stufe austauschen wollte. Durch die geöffnete Tür folge ihm der Geruch des Mittagessens und die Geräusche von Geschirr, das in die Spülmaschine geräumt wurde. Er machte das Kellerlicht an und schloss die Tür. Georg wusste nicht, was seine Frau den Tag über machte, während er seine Rentenjahre am Funkgerät verbrachte. Im Lauf der Zeit, auch schon vor seiner Pensionierung, war der Keller immer wohnlicher geworden. Wenn man über das durch die Lichtschächte immer schwach werdende Tageslicht hinwegsah, konnte man vergessen, dass man im Keller saß. Sogar eine Art Gäste-WC hatte Georg sich inzwischen eingerichtet. An seiner Amateurfunkstelle war er sowieso überall sonst auf der Welt anstatt in seinem Keller. Er schaltete die Geräte an und machte es sich auf seinem Bürosessel vor dem ausladenden Schreibtisch bequem. In seinem Sessel beschäftigte sich Georg oft gar nicht so sehr mit den Geräten vor ihm, deren Leuchtdioden in für Fachfremde erratischen Mustern leuchteten. Meistens las er Fachzeitschriften, die er im Abo bezog. Er hatte lange gelernt für die Amateurfunklizenz, unter anderem hatte er gelernt, dass der Amateurfunkdienst in Katastrophenfällen hilfreich zur Verfügung steht und dass ein Amateurfunker, der zufällig einen Notruf empfängt, im Zweifelsfall ein Leben retten kann. Seitdem wartete Georg in seinem Keller auf den Katastrophenfall, für den er jederzeit bereitstand. Auch jetzt, wo ihm bei den Leserbriefen zu einem Technikartikel der vorherigen Ausgabe des Funkamateurs die Augen zufielen. Einige von Georgs Freunden waren auch Funker. Fast jeden Nachmittag redete er mit einem von ihnen. Sie sprachen über Funkkontakte, die sie gehabt hatten. Manfred, den er heute anfunkte, erzählte ihm beinahe in jedem Gespräch davon, wie ihm der Kontakt zur ISS gelungen war. Heute auch. Manfred jagte Amateurfunkdiplome, die verschiedene Meilensteine der eigenen Funkverbindungen honorierten. Die ISS war dabei ein ganz persönlicher Triumph, dass man sogar dort als Amateurfunker gehört werden konnte, war die Titelzeile jedes Sonntagszeitungsartikel über Hobbyfunker. Georg fand das albern. Er versuchte sich nicht zu profilieren. Während Manfred immer weiter von der ISS und was er gesagt hätte und was er sagen würde, wenn er es nochmal schaffen würde und so weiter sprach, machte Georg nur noch „Mmmhm“ und spürte das Bedürfnis, einen Kontaktabriss vorzutäuschen. Er kippte den Ein- und Ausschalter eines momentan vom Strom getrennten Altgeräts immer wieder hin und her. „Georg?“, fragte es schließlich aus dem anderen Ende der Leitung. Georg fiel diese etwas unprofessionelle Verwendung seines Namens anstatt seines Rufzeichens direkt auf. Manfred hatte ihn gefragt, ob er mal wieder zum Stammtisch kommen würde. „Mensch, Manfred, die Renate ruft mich, glaube, die hat vielleicht paar Stück Kuchen für mich“, sagte Georg und unterbrach die Funkverbindung. Oben auf der Anrichte hatten tatsächlich ein paar feinsäuberlich in zwei Hälften geschnittene Teilchen vom Bäcker in der Supermarktfiliale gestanden. Er hatte bemerkt, dass Renate ihre Hälften noch nicht heruntergenommen hatte und mit dem Teller in der Hand aus der Terrassentür geschaut, hinter der schon das letzte Abendlicht den kleinen Garten beleuchtete, wo Renate gerade Unkraut aus einem Beet am Zaun zum Nachbarn zog. Sie sah ihn nicht mit der Hand an der Hosentasche hinter der Glastür stehen. Der Anblick seiner Frau in der Abendsonne macht ihn ganz ruhig und er fragte sich, ob das die Zufriedenheit des Alters war, von der man immer lesen konnte. Unzufrieden war er jedenfalls nicht, dachte er und sortierte seine Hälften der Gebäckstücke auf einen anderen Teller, den er mit nach unten nahm. Im Keller kam vom Abendlicht schon nichts mehr an, die Zeiten der Dämmerung gab es hier unten nicht. Während er einen halben Kirschplunder aß, schaltete er ein Baustellenradio ein, aus dem leise der Klassiksender drang, leise genug, um den Funkverkehr nie zu übertönen, oder Renate, falls sie ihn doch mal rufen sollte. Er summte eine Sonate mit, als ihm Manfreds Frage nach dem Stammtisch wieder einfiel. Der Gedanke daran verstimmte ihn. Direkt nach der Pensionierung war er oft zum örtlichen Amateurfunkstammtisch gegangen, um Neues von den Kollegen zu lernen oder kuriose Geschichten auszutauschen, aber die alternden Männer verfielen wie Manfred zunehmend aufs Prahlen und sich Wiederholen. Georg hatte aufgehört, hinzugehen, als die rassistischen Witzeleien, welche die anderen als harmlos begriffen, zur Regel wurden. Er war kein besonders politischer Mensch und er hatte keine Lust, zu diskutieren, aber der Ehrenkodex der Amateurfunker bedeutete ihm etwas, auch wenn es keine verbindliche Regel war. Er hatte sich die wenigen Zeilen des sogenannten Ham Spirit ausgedruckt an die Wand im Keller gepinnt, als er die ersten Geräte dort aufgebaut hatte. Die internationale Freundschaft, die darin aufgeführt war, war aus Georgs Sicht nicht mit der Intoleranz dörflicher Witze zu verbinden. Er würde nicht wieder zum Stammtisch gehen. Immerhin konnte er so auch den Wiederholungen von Manfreds ISS-Geschichte entgehen. Nachdem er mit dem Plunder fertig war, sah er nach seiner vor wenigen Jahren montierten Weltuhr an der Wand, um zu sehen, wohin außerhalb von Deutschland Verbindungen gerade günstig sein könnten.

Als sein Rücken von der im Sitz vorgebeugten Haltung zu schmerzen anfing, drehte Georg die Geräte ab. Wenn es Zeit war, wieder hochzugehen, weil er Renate schon Geschirr fürs Abendbrot hinstellen hörte, ermahnte er sich jedes Mal, dass es ein großes Glück und kein Grund zur Enttäuschung war, dass auch heute kein Notruf bei ihm eingetroffen war und auch der Katastrophenfall weiterhin ausblieb. In den vielen Jahren seit seiner Prüfung und der Zuteilung seines Rufzeichens hatte Georg noch nie einen Notruf empfangen. Insgeheim sehnte er sich danach, dass so etwas passieren würde in seinem gut eingerichteten Leben. Aber auch dieser Gedanke schien ihm gegen den Ehrenkodex zu verstoßen. Er stapelte die Zeitschriften, in denen er heute gelesen hat, ordentlich zusammen und nahm den Teller vom Nachmittag mit nach oben. Beim Übertreten knarrte die Schwelle und Renate sah in der Küche auf. Sie angelte gerade Gewürzgürkchen aus einem Glas und auf der Anrichte standen bereits Teller mit geschnittenem Schwarzbrot, die sie belegt mit rüber vor den Fernseher nehmen würden. „Und, wen hast du so gesprochen heute?“, fragte sie. „Ach, nur Manfred“, sagte Georg, während er im Kühlschrank nach Leberwurst suchte. „Naja, um den zu sprechen, könntest du auch einfach zwei Straßen weitergehen.“ Das sagte Renate ihm immer, die den Reiz der Technik nur in Verbindung mit Langstrecken einigermaßen nachvollziehen konnte. „Um ehrlich zu sein versuche ich es einfach überhaupt bleiben zu lassen“, sagte Georg und stahl ein Essiggürkchen mit den Fingern aus dem Glas.

„Bastian, verdammt noch mal, wirf die Tür nicht immer so zu!“, hörte er seine Mutter noch dumpf durch die in den Rahmen geschmetterte Holztür rufen. Unbeeindruckt davon rannte er die Holztreppe, die beim Drauftreten immer irgendwie staubig wirkte, runter, warf seinen Rucksack auf die heruntergekommene Couch und drückte, noch bevor er auf dem wackligen Esszimmerstuhl saß, den Power-Knopf seines PCs. Der Rechner stand unter einem dieser kleinen, Ende der Neunziger für praktisch gehaltenen Flur-Schreibtische, die links und rechts keinen Platz hatten, dafür aber ein ausziehbares Tastaturfach und überhaupt sehr viel vertikalen Stauraum, den man im Grunde für nichts gebrauchen konnte. Wie scheinbar alle Möbel aus dieser Zeit war der Tisch mit hellem Holz furniert. Bastian hatte den Tisch bekommen, weil er als aussortiertes Möbelstück sowieso schon hier unten war, als er den Kellerraum für sich beziehen durfte, und weil er den PC nicht mehr oben im Zimmer stehen haben durfte und dort auch kein richtiger Platz für seine Warhammer-Sammlung war. Während der Computer hochfuhr, ging Bastian nochmal zu seinem Rucksack und holte eine lose zusammenknüllte, halbvolle Tüte Chips raus. „Mittagessen! Bastian!“, rief seine Mutter durch die Tür. „Kein Hunger!“, brüllte Bastian zurück, und steckte sich eine Handvoll Chips in den Mund, während er seinen Spieleordner öffnete. Wenn Sören vorbeikam, rief Bastians Mutter nicht mal nach ihm. Sören war seit Jahren so oft in der Woche da, dass Bastians Mutter schon mehrfach völlig entnervt gesagt hätte, dass sie ihm einfach mal einen Schlüssel machen lassen würde, damit er sie nicht immer rausklingelte. Jetzt hatte Bastian ihn schon vor einer Weile klingeln hören, aber er war noch nicht runtergekommen. Bastians Gesicht wurde im schummrig werdenden Restlicht des Tages in schneller Folge in unterschiedlichen Farben angeleuchtet. Er saß mit dem Gesicht so dicht wie möglich am Bildschirm. Als Sören die Tür öffnete, machte er als erstes das Deckenlicht an. „Bring mal noch eine Fanta mit runter“, sagte Bastian, ohne sich umzudrehen. „Hab ich schon“, sagte Sören, der die Fanta unter den Arm geklemmt hatte und in der anderen Hand einen Teller mit zwei trocken aussehenden Kuchenstücken hielt. Er schob ihn in eins der schmalen Fächer vor Bastian. „Hey Basti.“ „Hey“, sagte Bastian, ohne dabei weniger hektisch zu klicken. „Ich mach noch kurz die Quest fertig.“ Sören nahm sich ein Stück Kuchen und legte sich mit den Beinen über der Armlehne auf das Sofa. „Deine Mama hat super Spaghetti gemacht.“ „Ach hast du deswegen so lange gebraucht, um endlich runterzukommen.“ „Ich kann doch nicht nein sagen, wenn man mir einen Teller Nudeln mit Tomatensoße anbietet.“ „Meine Mutter würde dir sogar extra noch was kochen, die hält dich für n ganz tollen.“ „Du isst ja nicht mal ihr Essen, du Banause.“ „Kein Bock, mit denen noch stundenlang zusammenzusitzen“, sagte Bastian, schloss das Spiel und drehte sich zu Sören um. „Du bist voll spät heute.“ „Ja sorry, keine Ahnung, meine Mutter wollte irgendwie plötzlich, dass ich Lea mit ihren Englischhausaufgaben helfe oder so.“ Lea war Sörens kleine Schwester, die gerade in die fünfte Klasse der Schule gekommen war, auf die sie auch gingen. „Willst du jetzt überhaupt noch mit Anmalen anfangen? Die anderen kommen doch auch schon so um sechs oder sieben oder sowas.“ „Ach so, ja...“, sagte Sören und zog sein Handy aus der Hosentasche, um einen Gruppenchat zu öffnen. „Felix hab ich heute in Reli gesehen und der sagt, er kommt heute nicht.“ Bastian verdrehte die Augen und stöhnte „Ey der kommt auch einfach gar nicht mehr vorbei. Der soll dann aber auch in Zukunft seine Figuren auch selber bemalen. Ich hab kein Bock, das für ihn mitzumachen, damit der dann einmal im Monat vielleicht mitspielt.“ Sören sagte dazu nichts und scrollte auf seinem Handy. Bastian hatte sich wieder dem Computer zugedreht und 4chan geöffnet, scrollte durch immer neue Threads, die er nur punktuell zu lesen schien, bei manchen Memes blieb er bisschen länger. „Ey guck mal“, sagte er, aber Sören drehte sich nur liegend halb zu ihm. „Achso, ja und, hast du vielleicht noch nicht gesehen, aber Patrick hat in der Gruppe gefragt ob er Michelle mitbringen kann heute Abend.“ Michelle war Patricks relativ neue Freundin. Sie waren jetzt schon seit ungefähr drei Monaten zusammen und Patrick hatte vorher noch keine Freundin gehabt. Bastian glaubte, dass Sören mit seinem Braver-Junge-Haarschnitt überhaupt noch nie ein Mädchen auch nur lange angeschaut hatte. Trotzdem fand Sören es immer total okay, dass Patrick plötzlich immer Michelle dabeihatte. In den Pausen standen sie auch nur noch zu zweit zusammen rum, manchmal stellten sie sich nicht mal mehr zu den anderen, sondern redeten nur miteinander, Bastian fragte sich, worüber überhaupt. Michelle spielte kein Warhammer und hatte keine Ahnung von irgendwas, womit Patrick sich in den letzten Jahren beschäftigt hatte. Aber sie war objektiv ziemlich schön. Und klebte an Patrick wie ein achtarmiger Krake im Todeskampf. Bastian drehte sich nicht um und zuckte nur mit den Schultern. „Keine Ahnung. Meinetwegen.“ „Okay, ich schreib’s ihm.“ Es klingelte, als Bastian gerade dachte, dass er nochmal was essen könnte. Vielleicht waren oben ja noch Spaghetti. „Bastian! Für dich!“ Er sprang auf, um zu verhindern, dass seine Mutter noch mehr rumschrie und rannte die Treppe hoch. Patrick, Michelle und Alex waren gleichzeitig gekommen und tauschten ein paar Höflichkeitsfloskeln aus. „Hi, kommt einfach mit runter“, sagte Bastian und drängelte die drei an seiner Mutter vorbei. Unten ließen sich Michelle und Patrick direkt aufs Sofa fallen, Patrick machte sich breit, wie er es immer machte, und legte den Arm um Michelle, die sich neugierig umsah. Sören saß auf einem der herumstehenden Sessel, Alex auf Bastians Stuhl und Bastian stand mit verschränkten Armen neben der Treppe. „Voll cool, dass ich jetzt auch mal hier sein darf“, sagte Michelle. Bastian zuckte mit den Schultern. „Kein Ding.“ Alex suchte Musik auf YouTube raus. „Vielleicht willst du ja jetzt auch spielen lernen“, sagte Sören, und Michelle lachte. Bastian hatte den Tisch, den sie immer als Schlachtfeld benutzten, von der Wand in den Raum gerückt und einige seiner Figuren, die in den Regalen darüberstanden, heruntergenommen. Die anderen saßen noch immer um den niedrigen Couchtisch herum, hörten Musik und lästerten über die Lehrer ihrer Schule. „Jetzt haben wir heute gar nichts mehr angemalt“, sagte Bastian zu Sören. „Ja egal. Machen wir halt morgen.“ Bastian fand das nicht ganz egal, sagte aber nichts. „Warum muss man die eigentlich selber bemalen?“, fragte Michelle. „Weils cool ist“, sagte Patrick, der seine Figuren alle schon fertig bemalt von Sören und Bastian aus zweiter Hand übernommen hatte. Alex, der Bastians Tüte Chips inzwischen quasi leergegessen hatte und sich die letzten Krümel in den Mund schüttelte, sagte „das ist auch voll wichtig, wie man das macht, gehört halt dazu.“ „Aber die sind doch eh schon voll teuer, hat Patrick gesagt. Ich check nicht, wieso man sich was kaufen würde, was man dann auch selber fertigmachen muss.“ „Und ich check nicht, warum du nicht aus dem Haus gehen kannst, ohne dich selbst stundenlang anzumalen“, sagte Patrick und drückte seine Hand auf ihrem Oberschenkel fester zusammen. „Ey“, sagte Sören. „Sie sieht doch immer super aus. Du siehst immer super aus, Michelle.“ Bastian machte Würgegeräusche. „Zieht euch das mal rein“, sagte Alex, der ihnen gar nicht mehr richtig zugehört hatte, und drehte einen völlig übersteuerten Hardstyle-Remix eines bekannten Werbejingles so laut auf, dass die uralten Computerboxen zu schnarren anfingen. Bastian zog die leere Fanta-Flasche unter dem Couchtisch hervor, um eine neue zu holen. Die anderen redeten jetzt alle über ihre Konfirmationsfahrt vor ein paar Jahren, weil sie alle in derselben Gemeinde konfirmiert worden waren, aber Bastian war nicht getauft und war nicht dabei gewesen. Michelle nervte ihn, weil sie über alles lachte, was Patrick sagte, und das, obwohl Patrick der unoriginellste Mensch war, den Bastian kannte. Alle Witze, die er erzählte, hatte er im Internet gelesen. Bastian wusste von seinen Besuchen bei ihm zu Hause, dass sein Vater es genauso machte. „Kannst du mal schauen, ob ihr vielleicht noch was zu Essen habt, wenn du hoch gehst?“, fragte Alex, der sich inzwischen zu den anderen an den Couchtisch, auf den Fliesenboden gesetzt hatte. „Du kannst doch auch einmal selber was mitbringen, du Geier“, sagte Bastian, aber suchte oben in der halbdunklen Küche trotzdem durch die Schränke. „Mama, haben wir noch Chips?“ „Nein, aber du kannst die restlichen Nudeln mit runternehmen“, sagte seine Mutter aus dem Wohnzimmer, wo der Fernseher lief. „Aber macht nicht so lange, ja? Morgen ist Schule und dann ruft mich Alex Mutter wieder wütend an, weil der nicht selbst früh genug heimgehen kann“. „Ja-ha“, sagte Bastian und trug fünf Teller und den Topf mit Spaghetti, in den er die restliche Soße schon gegossen hatte, zur Kellertreppe. Als er die Kellertür öffnete, roch es eindeutig nach Rauch. „Was macht ihr denn da?“ Michelle hatte sich eine Zigarette angezündet. Sie sah überrascht aus. „Oh sorry – sorry, Patrick hat gesagt, es ist okay!“ Bastian sah Patrick an, während Michelle sich umsah nach etwas, worin sie die Zigarette ausmachen könnte. „Macht halt wenigstens das Fenster auf“, sagte Bastian, und machte das Kellerfenster selbst auf. „Kann ich auch eine haben?“, fragte Alex, und Michelle schob ihm das Päckchen hin. „Ja klar.“ „Seit wann rauchst du denn?“, frage ihn Sören. Alex zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Seit kurzem erst. Vielleicht fange ich jetzt an.“ Sören blickte zwischen Alex und Michelle, die beide an ihren Zigaretten zogen, hin und her. „Lasst das aber nur nicht meine Mutter mitbekommen, dass ihr hier raucht. Deine Mutter reißt meiner den Kopf ab, Alex.“ „Die soll sich mal nicht so haben“, sagte Alex, aber seine Stimme klang gar nicht so entschlossen. „Wollen wir denn jetzt eigentlich endlich mal anfangen?“, fragte Bastian, der wieder neben dem Schlachtfeld stand, auf dass er bereits einen Teil seiner Figuren gestellt hatte, während die anderen sich unterhalten hatten. „Ja gleich“, sagte Sören und wandte sich wieder den anderen zu. Keiner von den anderen machte Anstalten, noch was anderes zu machen, als zu Rauchen, sich abwechselnd dämliche Lieder zu zeigen und über Quatsch zu reden. Michelle lachte ganz viel und Sören lachte immer mit und Alex musste dauernd husten, anscheinend hatte er wirklich erst heute mit dem Rauchen angefangen. Als Patrick zum dritten Mal erzählte, wie er seinem Mathelehrer heute richtig die Meinung gesagt hätte, als der ihn ermahnt hatte, nahm Bastian sich auch eine Zigarette. Er war im selben Mathekurs wie Patrick und nichts von dem, was der erzählte, stimmte. Bastian hatte vor längerem schon eine Packung Luckies von seiner Mutter geklaut und im Tastaturfach versteckt, manchmal ging er nachts raus um eine zu rauchen, aber vor den anderen war ihm das bisher zu blöd gewesen und drinnen hatte er sich nicht getraut. „Boah ey Patrick, hör doch auf. Sag mal lieber, wo wir letztes Mal mit Spielen aufgehört haben.“ „Ah neeee...“, sagte Patrick und legte den Kopf zurück auf die Lehne der Couch. „Hä, was ach ne?“ „Komm, lass heute nicht mehr spielen, ist schon mega spät. Ich hab auch nicht so Bock.“ „Wir unterhalten uns doch auch voll gut“, sagte Michelle sehr heiter. Bastian drückte seine Zigarette direkt auf dem alten Ikea-Couchtisch aus und hinterließ einen Brandfleck. „Wie kein Bock. Wir haben aber noch eine Kampagne offen.“ „Dann machen wir die eben wann anders fertig“, sagte Alex, „Ich finds auch grad schön so.“ Sören sagte, wie Bastian auffiel, nichts dazu. Der Tisch stand immer etwas unpraktisch im Weg, wenn man ihn nicht benutzte und Bastian schob ihn wieder zurück, räumte die Figuren ins Regal. Die Kampagne war schon so lange offen, dass er fast nicht mehr wusste, wo genau sie eigentlich gewesen waren. Während die anderen sich weiter unterhielten, Michelle mit dem Kopf auf Patricks Brust, setzte Bastian sich wieder an den PC und startete sein Spiel neu, um wieder da einzusteigen, wo er nachmittags aufgehört hatte. Kurz darauf schaute Michelle auf ihr Handy und sagte „Aah, ich muss nach Hause gehen. Meine Mama hat geschrieben, sie kann das nicht leiden, wenn ich unter der Woche viel länger als zehn draußen bin.“ Sie stand auf und schüttelte ihre Klamotten zurecht. Patrick stand auch auf, „Ich bringe dich noch heim“. Bastian fand das unglaublich albern, ihre Gegend war um die Uhrzeit komplett verschlafen und Michelle schien nicht so leicht zu verschüchtern zu sein. „Ohh, danke, Schatz“, sagte sie und küsste Patrick. Das fand Bastian noch alberner. Sie zogen ihre Jacken an und Alex entfaltete ebenfalls seine Beine aus dem Schneidersitz. „Ja, glaub für meinen Hausfrieden wär‘s auch besser, wenn ich mit heimgehe. Ich würd ja noch bleiben, Basti, aber du weißt ja, wie’s ist. Am Wochenende kann ich wieder länger.“ Bastian sah ihnen beim Anziehen zu. „Nehmt ihr die mit? Die muss meine Mutter echt nicht finden“, er deutete auf die leere Chipstüte, auf der die beiden ihre Zigaretten ausgedrückt und gesammelt hatten. „Du kannst auch noch bleiben, wenn du magst“, sagte er zu Sören. „Meine Mutter hat bestimmt nix dagegen, wenn du übernachtest.“ Sören schaute auf seine Schuhe, während er den Reißverschluss seiner Jacke nicht richtig zubekam. „Ah nee...“, sagte er, „ich wollte beim Heimkommen nochmal in Leas Englischsachen gucken, dann kann ich ihr morgen früh vielleicht noch schnell was helfen vor der Arbeit.“ Bastian zog die Brauen zusammen. „Mann, wirst du bezahlt oder warum nimmst du das plötzlich so ernst?“ „Ich will halt nicht, dass sie immer so schlechte Noten hat, okay? Das macht meine Eltern fertig.“ Bastian stöhnte und drehte sich weg. „Am Wochenende wieder“. „Ja, mal schauen“, sagte Bastian und die vier machten sich auf den Weg nach oben. Alex boxte ihn zum Abschied von hinten ins Kreuz. „Mach’s gut“. „Bye bye“, „Ja, ciao Basti“, sagte auch Michelle, die versuchte, ihn nochmal anzuschauen. „Tschüss. Seid leise beim rausgehen. Und macht das Licht hier aus“, sagte Bastian, der ihre Jacken rascheln und die Treppe knarzten und dann die Tür sich wieder schließen hörte. Er drehte den Sound seines Spiels auf und angelte nach den Zigaretten seiner Mutter hinter der Tastatur.

Die zwei Neonröhren an der Decke, die noch im Rohbau montiert worden waren, summten beim Einschalten immer unnötig aggressiv, wie Eva fand, sie hatte noch nie andere Lampen so laut angehen hören. Paul ging ihr voraus auf den etwas notdürftig zusammengelegten Teppichabschnitten. „Wir sollten uns dringend mal andere Lampen besorgen“, sagte Eva, während sie neben einem dunkelgebeizten Holzregal ihre Hose auszog. „Wieso? Die Lampen funktionieren doch gut“, sagte Paul, der einen kurzen Blick auf die Röhren warf, um zu prüfen, ob sie auch wirklich gut funktionierten. Aus einer ins Regal geschobenen Kiste hatte er ein gebündeltes Seil genommen und versuchte nun, ein zweites von den anderen Seilen zu entwirren. „Brauchst du zwei?“ Eva schaute ihm zu. „Nimm doch den oben. Ich mach die Hände zusammen.“ Sie wies auf die Decke. Paul folgte ihrem Blick. „Ja, okay. Aber bitte mach die nicht immer lose in die Kiste, okay? Die verknoten alle total.“ „Ich mach die nie lose in die Kiste. Du hast das letztes Mal gemacht.“ Eva faltete ihr Shirt schnell zusammen und legte es auf die restliche Kleidung im Regal. Sie bedeckte ihre Brüste fröstelnd mit den Armen und sagte „Ich dreh die Heizung nochmal bisschen auf.“ Ihre Hände wurden dieses Mal noch schneller taub als sonst, hatte sie den Eindruck. Vielleicht hätte sie doch nicht vorschlagen sollen, den Deckenhaken zu nehmen. Paul war noch immer ganz angezogen, aber seine Augen hatten sie schon leicht glasig angesehen, als er anfing, ihre gefesselten Hände hochzuziehen. Auf den Zehenspitzen konnte sie gerade so noch stehen. „Warte mal“, sagte Paul, der mit einer Hand das Seil hielt, an dem sie hing und mit der anderen nicht mehr ans Regal kam. Zum bestimmt zehnten Mal nahm er sich vor, endlich Seilwinden zu montieren. Er ließ sie ab, bis sie stehen konnte, um im Regal nach der Gerte zu suchen. Eva zog sofort ihre Arme runter, bis das Seil aus dem Haken rutschte. „Paul, meine Hände werden taub, ich kann sie nicht so hochnehmen, lass uns doch die Wand nehmen.“ Die roten Striemen auf ihrem Hintern brannten, gegen die kühle Kellerwand gedrückt, noch immer. Die Gerte, die Paul benutzte, stammte noch aus den Reitstundenzeiten ihrer frühen Jugend. Sie hatte ihm angeboten, sie zu schlagen, bevor er sie wieder festmachte und nicht mehr an ihren Hintern kommen würde. Zu sehen, wie sehr Paul das zu gefallen schien, entspannte sie etwas. Es war ihre Idee gewesen, im Keller des schlüsselfertigen Reihenhauses mal was Anderes auszuprobieren. In der Wohnreihe mit anderen Frauen, die ihrer Beobachtung nach von ihren Männern nur noch abstrakt wahrgenommen wurden, versuchte sie, diesem Schicksal zu entgehen. Paul hatte zunächst gesagt, er wolle ihr aber nicht wehtun. Jetzt zog er seine Hose aus und seine halbe Erektion sagte doch etwas anderes. Eva war erleichtert und spannte die Beine an, damit sie, an Bewegungsfreiheit gehindert, weniger schmerzten. „Sorry, Paul, die Lampen sind echt unerträglich.“ Im blaukalten Röhrenlicht beobachtete Eva schon seit Minuten die wachsenden Schweißperlen auf Pauls Stirn, die harte kleine Schatten warfen, bevor sie glänzende Streifen auf seinem roten Gesicht wurden. Paul, der ihr mit einer Hand einen Vibrator zwischen die Beine drückte, wie immer viel zu fest, und mit der anderen seinen harten Penis inzwischen immer schneller anfasste, hörte etwas unwillig keuchend auf. „Hm?“ „Die Lampe. Haben wir nicht irgendwas anderes? Ich fühl mich wie auf dem Schulweg entführt.“ Paul ließ von ihr ab. „Ich hol die Stehlampe von oben.“ Er zog nur sein Shirt an und als er die Tür hinter sich offenließ und hochging, schlug sein Penis schon weich an seine Leistengegend. Im Wohnzimmer stand eigentlich nur eine Stehlampe, die nicht kompliziert angeschlossen war. Dafür brauchte Paul ganz schön lange, fand Eva, und wippte in ihrem geringen Bewegungsradius mit Hand- und Fußgelenken an der Wand ein bisschen vor und zurück, halb gelangweilt und halb nervös. An die kalte Wand gefesselt fror sie ein wenig. Sie dachte daran, dass auf der anderen Seite dieser Wand, an die ihr nackter Arsch gefesselt war, vielleicht gerade die Nachbarin die Wäsche ihrer Kinder zusammenlegte, keinen halben Meter von ihr getrennt. Sie dachte daran, dass sie neulich im Keller eine riesige Laufspinne gesehen hatte. Wenn jetzt wieder eine Spinne auftauchen würde, wäre sie vollkommen ausgeliefert. Bei der Vorstellung verspürte sie eine leichte Panik. Sie versuchte nicht dran zu denken. Direkt ihr gegenüber standen die restlichen Umzugskisten an der Wand. Dazwischen könnten sich einige Spinnen verstecken. Zur eigenen Beruhigung schloss sie die Augen und atmete tief durch. Auf der Treppe hörte sie Paul zurückkommen. Inzwischen taten ihre Arme höllisch weh. Sie keuchte, wimmerte ein bisschen und hoffte, dass Paul ihre Geräusche fehlinterpretieren würde. Paul drängte sich an sie, drückte seinen Penis an ihren Unterbauch. „Benutz mich“, flüsterte sie und hatte den Eindruck, er würde kurz innehalten. Der Lichtkegel der Stehlampe ließ die Ecke mit den Umzugskartons fast im Dunkeln. Eva versuchte sehr krampfhaft, nicht immer wieder an die Spinnen zu denken, die herauskommen und handtellergroß auf sie krabbeln könnten. Pauls Körper vor ihrem erschien ihr wie ein guter Schutz und sie drückte sich ihm entgegen. Mit der Hand seinen Penis dirigierend, versuchte er in sie einzudringen. Sie war ohnehin etwas kleiner als er, mit den auseinandergezogen an die Wand gefesselten Beinen war sie einfach zu klein. Er versuchte minutenlang, in einem machbaren Winkel in sie einzudringen und bemerkte ihren immer abwesender werdenden Blick durchaus. „Lass uns einfach hochgehen“, sagte er schließlich und band sie los. Kurz befürchtete Eva, er würde sich jetzt anziehen und auf die Couch setzen. Aber Paul warf die Seile lose in die Kiste und ging nackt voraus Richtung Schlafzimmer. Die Stehlampe und ihre Kleidung holten sie ungefähr zwanzig Minuten später.

Eine der Glühbirnen, die an der Stirnseite des länglichen, gefliesten Raums in einer Wandlampe mit mehreren Birnen steckte, war vor kurzem kaputt gegangen. Helene fluchte jedes Mal leise, wenn sie den Lichtschalter einschaltete und der Keller nur in ein eigenartiges Halbdunkel getaucht wurde. Zu allem Überfluss waren die noch übrigen Lampen billige Energiesparleuchten aus der Drogerie, die mindestens zehn Minuten brauchten, um ihre volle Leuchtkraft zu erreichen. Wenig praktisch für einen Raum, in dem man sich selten länger als fünf Minuten aufhielt. Helene sagte Jan mehrfach die Woche, jedes Mal, wenn sie die Wäsche machte, dass er bitte nach der Lampe schauen sollte. Er sagte ja, würde er morgen machen, oder am Wochenende, und vergaß es wieder. Helene sagte ihm, dass die Energiesparlampen scheiße seien und er richtige Glühbirnen kaufen sollte. Ihre neunjährige Tochter, die sie nicht im Wohnzimmer vermutet hatte, überschlug sich vor Lachen und rannte die Treppe hoch, um ihrer großen Schwester zu sagen, dass ihre Mama scheiße gesagt hatte. Helene stieß sich jedes Mal den Fuß irgendwo, meistens am Fuß des Fahrradtrainers, der in der Nähe der Tür stand und auf dem sie immer Teile der nassen Wäsche verteilte, die nicht in den Trockner durften. Mit zwei Töchtern und der sechzig-Prozent-Stelle an der Hotelrezeption, die ihre Haushaltszeit spürbar begrenzte, hatte sie das Gefühl, beinahe jeden zweiten Nachmittag Wäsche die Kellertreppe hoch und runter zu tragen. Die Waschmaschine war zunächst übergangsweise und dann schleichend final im eigentlich freundlichsten Raum des untersten Geschosses installiert worden. Hier wollte Helene sich einen Rückzugsort einrichten, einen Raum für sich, den sie vielleicht noch mit Jan für gemeinsamen Sport teilen würde. In den Regalen standen durchsichtige Plastikcontainer mit Bastelsachen, eine abgedeckte Nähmaschine, daneben stapelten sich Stoffe, die früher einmal teuer gewesen waren. Die Hanteln waren aufgeräumt, eine Trainingsmatte lehnte zusammengerollt unter einem Fernseher, über dem einige wenige Trainings-DVDs auf der Fensterbank lagen. Alles war mit einer leichten Staubschicht bedeckt. Bei vielen Kisten und Regalen hier unten wusste Helene nicht mehr genau, was drin war. Auf dem Näh- und Basteltisch hatte sie irgendwann, als ihre Töchter in den Kindergarten kamen und gefühlt mit noch größerer Frequenz schmutzige Kleidung produzierten, die herumliegenden Hobbyutensilien beiseitegeschoben, um seitdem die Tischplatte zum Zusammenfalten von Kinderkleidung zu benutzen. Manchmal faltete sie ein Shirt, von dem sie das Gefühl hatte, es bereits an jedem einzelnen Tag der Woche gewaschen, getrocknet und zusammengelegt zu haben. Sie schob die aktuelle Ladung Wäsche aus ihrem Korb in die Maschine und rannte die Treppe wieder hoch, um zu verhindern, dass ihre Kinder ihre Abwesenheit in der Küche dazu nutzten, den Süßigkeitenvorrat zu plündern. Die Maschine spielte schon seit einiger Zeit die immer gleiche, polyphone Melodie, die signalisierte, dass die Wäsche fertig war. Als die Tür aufgerissen wurde und ihre neunjährige Tochter die Treppe herunterrannte, konnte Helene sie nur in letzter Minute einfangen, bevor sie einen der Plastikcontainer aus dem Regal zerrte und ausleerte. „Geh hoch jetzt, ich bringe dir was mit hoch. Geh hoch!“ Helene schob sie wieder zur Tür, schaltete die dudelnde Waschmaschine aus und atmete einige Male tief durch, während sie nichts Bestimmtes an der Wand vor sich anstarrte, als wäre es eine schöne Aussicht. Dann räumte sie die Wäsche in den Trockner. Ihre Tochter hatte ihr erst an diesem Nachmittag gesagt, dass sie am kommenden Schultag verkleidet kommen musste. Helene hatte nicht ganz verstanden, warum, Fasching war schon vorbei und die Ferien standen auch nicht an. Aber sie hatte versprochen, ein Kostüm aus den Stoffresten und früher gebastelten Dingen hier unten zusammenzustellen. Einige glänzende Stoffbahnen in Rosa und Silber würden reichen, um ein Feenkleid zu knoten. In einer Kiste steckten noch die verschiedenen Faschingsutensilien aus den Kindergartenjahren. Helene nahm sie herunter, um einen feenartigen Zauberstab zu suchen. In der Kiste lagen auch verschiedene umfunktionierte und aussortierte Accessoires von Helene. Gürtel, die sie zuletzt an der Uni getragen hatte, Stulpen, die sie schon nicht mehr modisch gefunden hatte, als sie Jan kennengelernt hatte. Der hatte sie überhaupt nie in irgendwelchen Sachen aus dieser Kiste gesehen. Hinter ihr bewegte der Trockner mit dumpfen Geräuschen die Wäsche und wirkte dabei viel trostspendender als die Waschmaschine im Schleudergang. Helene wartete, bis alle Tränen ihr Gesicht heruntergeflossen waren, wischte sie mit geübten Gesten ab und ging mit dem Kostüm in der Hand wieder hinauf. Im Keller war es noch immer warm von der Luft des Trockners, als Helene spät am Abend noch einmal hinunterkam. In der Hand und an den Körper geklemmt trug sie drei kleine Schachteln. Der Trockner hatte sich längst von selbst ausgeschaltet, er wusste, dass die Kleider trocken gut in ihm ruhen konnten. Helene bügelte sowieso längst nichts mehr, erst recht nicht den zerknitterten Stoff von im Trockner vergessenen Kindersachen, die vielleicht den nächsten Tag in der Schule und auf dem Spielplatz ohnehin nicht überstehen würden. Ohne die Lampe am anderen Ende des Raumes auszuschalten, wie Jan es immer vorschrieb, drehte Helene erst die kaputte Glühbirne raus und ersetzte sie, dann nacheinander auch die anderen, schwächlich schummernden, und ersetzte sie alle drei durch helle, warme 60 Watt Leuchten. Die ausgetauschten Energiesparlampen steckte sie in die leeren Kartons, um sie oben ungesehen wegzuwerfen. Sie löschte das Licht, in dem sie sich das erste Mal seit Wochen nicht halb blind fühlte und stieg im Dunkeln wieder hoch in eine auch bereits dunkle Wohnung, in der schon alle eingeschlafen waren. Die trockene Wäsche wartete in der Kellernacht geduldig darauf, am nächsten Tag zusammengelegt zu werden.

Früher war Ralf die Außentreppe nach unten nur mit Getränkekisten heruntergegangen, die er vom Auto direkt in den Keller getragen hatte. Jetzt ging er jeden Tag die Treppe hinunter. Der Weg vom Bürokomplex, in dem er jeden Tag schon vor acht seinen Job anfing, bis zur Kellertreppe dauerte mit dem Auto nur zehn Minuten. Manchmal dauerte es noch ein paar mehr, in den Vorortstraßen einen Parkplatz zu finden. Seit der Trennung parkte seine Frau ihr Auto immer auf dem einzigen Parkplatz des Grundstücks, wie um ihn daran zu erinnern, dass es für ihn keinen Platz mehr gab. Wer oder ob überhaupt jemand von ihnen im Haus bleiben würde, war noch nicht entschieden. Aber Ralf fehlte die Kraft, um sich auch noch über den Parkplatz zu streiten. Trotzdem fühlte er die unausgesprochene Attacke jeden Tag, wenn er zu Fuß mit seiner Umhängetasche in seine eigene Einfahrt einbog. Auf den Treppenstufen sammelte sich das Laub. Die geplante Pergola zur Überdachung hatten sie nie gebaut. Er schloss die schwere Metalltür auf, die fast wieder hinter ihm zufiel, bevor er das Licht anmachen konnte. Früher hatte es ihn wahnsinnig gemacht, mit dem Getränkekasten im Dunkeln zu stehen, keine Hand frei. Jetzt kannte er den Weg aus dem flurartigen Vorraum zur nächsten Tür auch im Dunkeln. Früher waren alle Räume hier eine Mischung aus Lager, Werkstatt, Wäschekeller und Hobbyraum gewesen. Früher war die Tür, die die Treppe hoch in den Hausflur führte, nicht abgeschlossen gewesen. Jetzt war Ralf seit Wochen dort nicht mehr durchgegangen. Er legte die Tasche auf den Boden und setzte sich auf Bett, weil die einzige andere Sitzgelegenheit der alte Kinder-Schreibtischstuhl war. Nach der Arbeit war er immer so müde, dass er es zum Glück nicht mehr schaffte, über die verschlossene Tür nach oben nachzudenken. Oder über Oben generell. Ihm fielen in wenigen Sekunden halb aufs Bett gekippt die Augen zu. Als er wieder aufwachte, oder besser, zu sich kam, kribbelten seine taubgewordenen Füße und seine am Körper klebende Bürokleidung fühlte sich eine Nummer zu klein an. Er zog sie aus und hängte sie notdürftig zum Lüften auf Stuhl und Regalbretter, er kam nicht so oft zum Waschen. Einer der Kartons, unter die er seine Hose klemmte, war beschriftet mit „Landschaftsgestaltung“ und enthielt, wie er wusste, in erster Linie Miniaturbäume jeder Sorte in großen Mengen. Früher hatte hier seine Modellbahn gestanden und er hatte seine Landschaften immer liebevoll aufgeforstet, weil der Modellbauwald viel leichter zu gestalten war als Dörfer oder andere Landschaften. Früher war noch gar nicht so lange her. Er hatte die Anlage abbauen müssen, als er hier heruntergezogen war, weil sonst kein Platz gewesen wäre für das ausklappbare Gästebett, den notdürftigen Schreibtisch und ein paar Stapel Klamotten. Auf der Modelleisenbahn hatte eine dünne Staubschicht gelegen, weil er immer seltener Gelegenheit gehabt hatte, sie fahren zu lassen und schon lange keine neuen Strecken gebaut hatte, aber sie war auch nicht in Vergessenheit geraten gewesen. Carolin, seine Frau, hatte es bloß oft als Zeitverschwendung betrachtet, wenn er stundenlang vor der im Kreis fahrenden Bahn saß oder austüftelte, welche Probleme sie am Fahren hinderten. Ihre rückhaltlosen Einwände waren es nicht mal, das ihn mürbe machte, sondern ihr verächtlicher Blick, wenn er über die Treppe (deren Zugang jetzt versperrt war) wieder hochkam. Als ihr Sohn vor langer Zeit zu alt wurde, um Interesse für die Eisenbahn heucheln zu müssen, gingen Ralf die Ausreden aus und er zog sich auf die Zeiten zurück, in denen Carolin einkaufen war, bei Freunden, beim Elternabend. Jetzt nahm er abends manchmal verschiedene Modellteile aus den Kisten und baute sich winzigste Miniaturen auf den Schreibtisch, Ausschnitte von Strecken, auf denen nichts fahren konnte, auch weil er sonst nichts mit sich anzufangen wusste. Für Streaming auf dem Dienstlaptop war das WLAN hier unten zu schlecht. Bücher hatte er nie gerne gelesen. Seinen Bekannten wollte er sich in seiner jetzigen Situation nicht zu oft zumuten, weil sie ihre vagen tröstenden Sätze schon zu wiederholen anfingen. Sogar zum Duschen musste er ins Fitnessstudio gehen, das sich im selben Gebäudekomplex befand, in dem auch sein Büro eingemietet war. Oft war er froh, wenn er nach der Arbeit einschlief, und es draußen schon dunkel war, wenn er wieder aufwachte. Weniger leere Stunden zu füllen, in denen er seine Frau über sich in der Wohnung herumgehen und hin und wieder lachen hörte. Er setzte sich an seinen Tisch, der im Grunde nur ein Brett auf zwei Ablagen war, und öffnete eine Kiste, die noch vom Abend zuvor zu seinen Füßen stand. Ohne den geeigneten Untergrund sahen seine Landschaften meistens löchrig, erdig, zerrissen aus. Heute hatte er eine Schuhkartonszene ganz ohne Eisenbahnschienen gebaut. Oder vielmehr zusammengestellt, denn er befestigte die Miniaturen nicht. Er hatte wieder viele Bäume gruppiert, sodass sie einen auf einer Wiese auslaufenden Wald bildeten. Weil es ihm an grasfarbener Modellfläche fehlte, hatte er lauter höherwachsendes Grün zu einem dichten Teppich gruppiert, kleine Büsche, Binsen, Ähren, zwischen denen das stellenweise trotzdem noch sichtbare Braun der Tischplatte fast wie der laubbedeckte Unterboden des Waldes aussah. Auf der Wiese am Waldrand stand ein längliches, zweistöckiges Landhaus, so wie das Haus seiner Eltern am Waldrand gestanden hatte und nach Ende der Dienstbotenära zu groß für eine kleine Familie gewesen war. Er versuchte, einen Zaun zur Begrenzung des Grundstücks nach vorne aufzustellen, aber die dünnen Zaunpfähle wollten ungeklebt nicht auf dem Holz stehen bleiben. Er stand auf, um aus einer anderen Kiste kleine Figuren zu herauszusuchen. Die von Ralf liebevoll positionierten Figuren vor dem Haus wandten ihre leeren Gesichter zu ihm herüber, während er schon unter der Bettdecke bemüht die Augen geschlossen hielt, und auch die Rehe, die er zuletzt noch mit einer gewissen Märchensehnsucht am Waldrand hinzugefügt hatte, blickten in seine Richtung. Es war ihm noch nicht ganz gelungen, die Szene weniger klinisch oder unfertig erscheinen zu lassen und er hatte sie entgegen seiner Angewohnheit stehen lassen, anstatt alles vor dem ins Bett gehen wieder in die Kartons zu sortieren. Vielleicht könnte er am Wochenende von dort aus weitermachen. Morgen war schon Freitag. Mit fest geschlossenen Augen versuchte er nicht daran zu denken, an diesen Auftakt eines weiteren, unendlich langen Wochenendes. Vor den Wochenenden fürchtete Ralf sich. Manchmal besuchte er seine Mutter im Altenheim. Manchmal machte er einen Spaziergang und manchmal wusch er seine Wäsche und hing sie so langsam auf wie es ging, und später noch langsamer wieder ab. Aber nie kam seine Frau zu ihm nach unten. Er wartete eingeschlossen wie ein schreckliches Geheimnis auf ihre letzte Entscheidung und wusste dabei genau, dass diese wartenden Wochen schon ihre Entscheidung verrieten.



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