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Vasili Antonow erinnert sich an Lügen


Als Lea auf den Schoß des alt gewordenen Mannes sprang und ihn fragte,

warum man nicht lügen dürfe, wusste der darauf keine Antwort.

"Na, weißt du das denn nicht selbst?",

fragte Vasili zurück und hoffte, dass sich die Frage seiner Enkeltochter damit erledigt hatte.

Aber Lea schüttelte energisch ihren wilden Lockenkopf und die Goldpigmente

in ihren Haaren erinnerten ihn an slawische Sommer und seine tote Schwester.


 

Eins

Vasili Antonow war nicht immer der verknöcherte alte Mann, der er heute ist. Wer ist überhaupt schon immer der gewesen, der er heute ist. Wir waren ja alle mal Kinder und wussten nichts über Dinge und Leute. Wir alle kommen aus irgendeinem Dorf.


Vasili war zum Beispiel Kind auf einem Bauernhof in Zhabka. Einem kleinen ukrainischen Dorf, dass sich eigentlich nur in der Nähe anderer kleiner ukrainischer Dörfer befand. Damals wusste Vasili noch nicht, dass er auf die Frage, wo er herkäme, immer nur mit "aus der Nähe von Kiew" antworten würde. Das war zwar nicht wahr, aber es war die einzige Stadt in der Ukraine, die den meisten Deutschen ein Begriff war. Sie hatten davon gehört. Auch, wenn sie sich mit der Zuordnung oft schwertaten. "Im Osten kenn ich mich einfach nicht so gut aus", sagten sie ihm dann entschuldigend, während

er verständnisvoll nickte und auf den Boden sah. Polen kannten sie, weil einige dort mit ihrer Familie einen günstigen Urlaub verbrachten und es einfach "in unserer Nähe" war. Außerdem kannten sie Russland und sie kannten Russland auf die gleiche Weise, wie sie China kannten. Deswegen hörte Vasili auf, sein Heimatdorf zu erwähnen, nachdem er es verlassen hatte. Aber in seinen verborgenen Erinnerungen musste sich jede Landschaft an der Landschaft seiner Herkunft messen. An schleimiger Erde, hohen Wäldern und dem weiten Himmel, an dem man zu jeder Zeit erkennen konnte, ob Gott es gerade gut meinte mit den Menschen. Als kleiner Junge war Vasili am blondesten und verbrachte die meisten Tage auf dunkelgrünen Wiesen mit den schweren landwirtschaftlichen Maschinen seines Großvaters, Miloslaw Antonow.

In Zhabka gab es nur eine einzige Straße. Eine matschige Hauptstraße, mit Pfützen so tief, dass sie selbst in den heißesten und trockensten Sommern nicht ganz austrockneten. In einigen Pfützen begannen ein paar Fische ein kurzes Leben zu führen. Jedenfalls so lange, bis der Reiher oder Vasilis Cousin Bohdan sie schnappte. Bohdan war ein Golem. Geformt aus Lehm, ungeschlacht und von innen hohl. Jeder im Dorf wusste das. Deswegen hielten die meisten sich fern. Nur Vasili und seine Schwester Polina verbrachten ein paar zeitlose Kindheitsnachmittage mit ihm. Polina tat es aus naiver kindlicher Zuneigung. Ihr Blick war noch nicht scharf genug, um Gutes von Schlechtem zu unterscheiden. Vasili tat es aus dem Pflichtgefühl, das ein geteilter Nachname in uns erweckt.


Als Polina an einem Freitagnachmittag weinte, weil sie einen kleinen toten Fisch sah, der mit Sicherheit auf Bohdans Rechnung ging, erfand der Golem ein neues Spiel.

Er fing ein paar dieser winzigen silbrigen Fischchen mit dem Netz und Polina sah zu. Sie zappelten, als sie ihre Pfütze verließen. Denn man muss wissen, dass kleine Fische ihre Pfützen niemals freiwillig verlassen würden, der andere Lebensraum ist fremd und ein Besuch endet meistens tödlich.

Polina fragte ihren Cousin, warum die Fische tanzen.


"Sie tanzen nicht, sie sterben", sagte der und das Mädchen fing an zu schreien.

Er ließ das Netz zurück in die Pfütze gleiten.

"Schon gut, pscht. Oder willst du, dass wir Ärger bekommen?"

Das wollte Polina nicht und schwieg.

Dann war Bohdan einen Moment lang still und der Lehm, der tief in seinem Dunklen lag und noch weich geblieben war, härtete in der Nachmittagshitze aus. Er sah die weichen Fische im Pfützenschlamm und beneidete sie für ihre sorglos wendige Lebendigkeit, aber das wusste er nicht. Er hielt das Gefühl, das in ihm aufstieg, für Vergnügen und vielleicht war es das auch. Schließlich war er ja ein Golem und die fühlen anders.


Dann griff er ins Netz und in ihm pumpte es. Aber sein Herz war es nicht.

Mit dem Zeigefinger öffnete er Polinas Unterhemd am Kragen und ließ die zappelnden Fische aus seiner Faust hineinfallen. Sie schrie.

"Pscht", machte der Verwandte und Polina erinnerte sich ans Schweigen. Zwischen dem weißen Unterhemdchen und Polinas warmer Kinderhaut kämpften die Tierchen ihren aussichtslosen Kampf.

"Sie sollen aufhören, Bohdan", sagte Polina und dabei spürte sie Ekel und noch etwas Anderes. Es war etwas Verborgenes und es lag hinter ihrem Bauchnabel. Diese glitschigen Tiere. Es zog sich zusammen in Polina, als wäre dort ein Faden an ihrem Nabel und an der Schnur zog jemand tief nach Innen. Unter der Stirn war es warm, Polina schüttelte sich vor Abscheu. Sie hasste Bohdan. Sie wollte ihm sagen, dass er sie rausnehmen soll, aber sie wollte auch nicht, dass diese Tiere mit dem wilden Spiel unter ihrem Bauchnabel aufhören.

"Bohdan, mach, dass sie aufhören", sagte sie schließlich leise, denn dass etwas hieran sich ganz und gar nicht gehörte, das konnte sie spüren.


Bohdan lachte:

"Wenn du willst, dass sie aufhören, dann musst du sie töten", sagte er, als hätte er bloß eine Scheibe Brot geschnitten. Polina sah ihn ehrfürchtig an. Es war ein Spiel für Kinder und es ging um Leben und Sterben. Das war das liebste Kinderspiel von allen. Slawische Märchenerzähler wussten das. Polina war ein Kind und sie war neugierig auf den Tod. Das Aufbegehren der Fische machte sie wild und ihr Denken zu einer wirbelnden dickflüssigen Suppe. Erwachsene können nicht verstehen, was der Tod für Kinder bedeutet. Diese unaufgeräumte Aufregung, Gefühle, die man nicht kennt. Und dann auch noch dieses eigenartige Ziehen hinter dem Bauchnabel.

Als das Aufbegehren schwächer wurde, als die Fische ihren verzweifelten Kampf zuende gekämpft hatten, wurde es finster in Polina. Bohdan zog ihr Hemdchen aus dem Hosenbund und die erstickten Pfützentiere fielen auf den Boden.

"Na guck mal. Jetzt hast du sie getötet. Du bist eine Mörderin, Polina."

Als Bohdan sagte, was sie nun geworden war und ihr alle Konsequenzen in dieser Angelegenheit bewusst wurden, schämte sie sich furchtbar. Jeder wusste doch, dass Gott keine Mörder und Lügner liebt und Polina wollte vom Leben doch wirklich nicht viel mehr, als von Gott und ihren beiden Eltern geliebt zu werden. Das war nun hin. Sie hatte ihre Liebe verspielt. Sie war eine sechs Jahre alte Mörderin. Gott und Bohdan waren Zeugen. Als sie an diesem Abend nach Hause kam, belog sie ihre Eltern. Mutter Antonow fragte, wo sie heute gespielt hätte und Polina sagte: "Im Wald". Diese Lüge hatte sie sich gut überlegt. Mit Gott hatte sie es sich ohnehin verscherzt und da sie zweifellos in die Hölle kommen würde, wollte sie wenigstens in den Augen ihrer Eltern das unbescholtene Mädchen bleiben, das sie heute morgen noch gewesen war.

Als Polina in dieser Nacht in ihrem Bett lag, schwitzte sie furchtbar und wusste, dass es um den Verbleib ihrer Seele schlecht bestellt war. Wenn sie die Augen schloss, sah sie schuppige Fratzen und zitternde Flossen. Der Teufel rief nach ihr. Er schickte seine Dämonen. Die schlimmen Dinge, die sich in der Dunkelheit hinter ihren Lidern abspielten, waren eine Vorschau auf die Unterwelt. Polina wusste das.

Weil sie beim Gedanken an die ewige Verdammnis nicht schlafen konnte, schielte sie zu Vasili rüber. Er schlief schon. Sie schlich zu ihm.


"Vasili?"

Sie zog mit Daumen und Zeigefinger am Ohrläppchen, das sich beim nächtlichen Kauen immer mitbewegte.

"Was? Nein. Geh in dein eigenes Bett."

"Nein, Vasili, bitte."

"Was ist denn? Wieder Gespenster?", Vasili war genervt von den ständigen Nachtängsten seiner kleinen Schwester. Das kommt davon, dass babusya ihr immer diese Gruselgeschichten erzählt, dachte er. Er selbst hielt nichts von Gruselgeschichten, denn sie entsprachen nicht der Realität. Er war alt genug, sowas zu wissen. Keine von babusyas Geschichten tat das und das einzige, das nachts aus den Schränken flog, waren ein paar Motten. Eine fromme Familie wie seine hatte keine Heimsuchung zu befürchten. Das hatte sogar Priester Chownyk gesagt, der manchmal sonntags zum Tee kam und viel über die Welt wusste.

"Nein Vasili. Keine Gespenster."

Polina schüttelte den Kopf und das dünne Haar schwebte wie silberne Spinnweben um sie herum. Sie begann zu weinen, Vasili verstand den Ernst der Lage und legte ihr eine beruhigende Bruderhand auf das wilde Köpfchen.


"Ich muss dir ein Geheimnis verraten."

Sie flüsterte und die finsteren Höhlen, aus denen seine Schwester ihn anstarrte, erschraken ihn. Es war Vollmond, silbernes Licht fiel auf die staubigen Dielen und das Gesicht seiner kleinen Schwester war so dunkel wie nie zuvor.

"Ich werde nicht mit mumiya, bat'ko und dir in den Himmel kommen."

Er erschrak, doch er versuchte die Fassung zu behalten, zu der man als großer Bruder verpflichtet ist.

"Doch, das wirst du. Gott hat dich lieb. Und ich dich auch."

"Ich glaube, das hat er nicht. Jedenfalls nicht mehr."

Obwohl Polina nur flüsterte, brach der Rest ihrer Stimme.

"Wieso denkst du das?"

"Ich hab was Schlimmes gemacht."

"Was denn?"

Vasili konnte sich kaum vorstellen, dass seine liebe Schwester irgendetwas wirklich Schlimmes getan haben konnte, vielleicht hatte sie eine Kanne Milch umgeworfen, oder ein Kleid zerrissen, dachte er noch.


"Ich habe Tiere getötet."

Vasili schluckte.

"Du hast was?"

"Ja, ich habe Tiere getötet, und ich glaube, es hat mir gefallen."

"Was? Polina, was? Du musst mir ganz genau erzählen, was du gemacht hast."

Sie weinte.

"Ich habe Fische getötet. Die Fische aus den Pfützen. Ich hab sie erstickt. Ich bin eine Mörderin, Vasili. Gott wird mir nie vergeben."

In Vasilis Magen begann es so zu zappeln, als wäre er randvoll mit sterbenden Fischen. Du sollst nicht töten, das fünfte Gebot. Warum hatte er nicht auf seine Schwester aufgepasst. Ohnmacht ergriff ihn im Liegen und er musste sich festhalten an der kratzigen Wolldecke. Dann umarmte er seine Schwester.

"Gott wird dir vergeben", sagte er und Vasili war sich nicht sicher, ob das stimmte. Doch das kleine Mädchen wurde ruhiger.



Zwei


Es war einige Sommer später und es war im tiefsten Rheinland, als man über den plötzlichen Tod des kleinen Mädchens nicht mehr sprach. Erst war es bloß eine Grippe gewesen, dann eine Lungenentzündung, dann hatten die Dämonen sie zu sich genommen. Vasili war sich sicher. In ihren letzten Tagen sprach sie von einem tiefen Loch unter dem Bett, in das es sie reinzöge. Immer wieder musste Vasili nachsehen, doch da war nichts, außer zittrige Wollmäuse auf alten Dielen. Alle Ärzte und der Priester Chownyk kamen und die Eltern weinten. Das ganze Dorf weinte. Am 6. September starb Polina. Dann regnete es bis Oktober. Die Hauptstraße in Zhabka wurde überschwemmt und die übriggebliebenen Fische in den Pfützen fanden ihren Weg zurück in den Bachlauf. Bis heute wurden keine Fische mehr in den Pfützen auf Zhabkas einziger Straße gesichtet. Die letzten Monate in Zhabka waren Apathie. Sofia Antonow verlor einige Kilos, Matwej Antonow verlor seinen Job und davon, was Vasili verlor, soll hier nicht weiter die Rede sein.

In Langenfeld war alles anders. Alles, außer die große Traurigkeit. Die Straßen waren gepflastert und jede Familie hatte mindestens ein Auto. Papa Antonow fuhr mit dem Bus zur Arbeit. Mama Antonow hatte am Kochen und auch am Essen immernoch keine Freude. Im Supermarkt gab es Maggitüten, das deutsche Wunder. Im geräumigen Abstellraum stand nur Vasilis Pritsche, auf der ihn jede Nacht tiefe Finsternis beschlich. Die wenigsten wissen, wie sich das anfühlt. Finsternis kriecht immer zuerst in die Unterarme und in die Unterschenkel, sie lähmt die Knie, dann breitet sie sich aus, vereist die Zellen. Das Herz darf sie niemals erreichen und wenn sie es tut, dann ist es zu spät. Dann wirst du sie nie mehr los.

In Vasilis Nächten war es so, in seinen Tagen kaum anders.


Er besuchte die katholische Gesamtschule Mariendorf und wenn ihr schonmal eine deutsche katholische Gesamtschule auf dem Land, fernab von allen Ballungsräumen, besucht habt, dann wisst ihr ja, wie es ist. Man ist schon ein Exot, wenn man einen irgendwie ausländisch klingenden Namen hat und wenn dann dein Pausenbrot zu allem Überfluss auch noch komisch riecht, hat man dich gefressen.

Aus Vasilis Brotdose roch es komisch. Nicht nur aus seiner Brotdose, sogar aus seinem Ranzen stank es. Die Mädchen aus seiner Klasse ekelten sich. Es roch nach armen Leuten, sagten sie hinter seinem Rücken. Wenn er hinsah, rümpften sie aber bloß die Nase. Aber selbst, wenn es nicht aus seinem Ranzen gerochen hätte, wäre er der Außenseiter der 10a gewesen. Er kam als letzter hinzu, er sprach komisch und kam aus einem anderen Land. Außerdem hatte er so einen komischen Namen. Der Klassenclown nannte ihn einmal Vaselini, das fanden die Papageien aus der 10a lustig und so wurde ein Spitzname geboren. Einmal versprach sich sogar sein Mathelehrer, als er den stillen Schüler aufrief. Alle lachten und der Name zementierte sich. Er blieb bis zum Ende der Schulzeit und für Vasili noch weit darüber hinaus. Das wusste aber keiner. Schüler denken manchmal, sie schrieben mit Bleistift, dabei haben sie einen Edding in der Hand.

Wenn Vaselini sprach, betonte er lustig. Zu "Füller" sagte er "Fuller". Zu "Mäppchen" sagte er "Mapchi". Schon bald machten die Schüler ihm das nach. Sie sagten:

"Hey, Vaselini. Kannst du mir mal das Mapchi geben?" und lachten. Vasili gab es ihnen dann einfach. Was hätte er auch sonst tun sollen?

Weil er sowieso alles falsch betonte, entschied er sich irgendwann für den sichersten Weg. Er gab nur noch einsilbige Antworten. Dadurch begannen Lehrer und Schüler gleichermaßen, ihn für dumm zu halten, fragten ihn kaum noch was und verloren schließlich gänzlich das Interesse an dem dummen Vaselini. Denn schließlich macht es keinen Spaß, jemanden zu ärgern, wenn derjenige gar nicht versteht, dass er geärgert wird.

Vasili hielt seine tiefe Stille aus bis zu einem Mittwoch im Februar. An diesem Tag war der Himmel eng. Hinter dem Horizont im Nachbardorf fiel die ganze Welt herunter. Im morgendlichen Religionsunterricht bekroch Vasili stummer Zorn. Herr Mielke erzählte etwas von Jesus und sagte Dinge, die nicht stimmten. Herr Mielke erzählte oft merkwürdige Sachen und es hätte ihm gut getan, einfach mal wirklich die Bibel zu lesen, hatte Papa Antonow dazu erklärt:

"Die Deutschen lesen die Bibel ja gar nicht mehr richtig. Sie googlen nur, was darin steht", hatte er gesagt und dass Vasili nicht alles glauben sollte, was im Religionsunterricht gelehrt würde.

"Sie haben einfach eine andere Meinung, aber wir haben unsere, Vasili."

Vasili nickte immer gelehrig, wenn sein Vater ihm etwas über den Glauben erzählte.

"Und du wirst schon sehen. Wir werden in den Himmel kommen, du wirst schon sehen. Wir sind brave Leute, du wirst schon sehen."

Vasili wollte auf keinen Fall verpassen, was er da sehen würde. Deswegen versuchte er, alles richtig zu machen, gut zu sein und milde. Zu sich und seinen Nächsten.

An diesem besagten Mittwoch wollte das aber nicht so richtig funktionieren. Der dichte Novembernebel von draußen war in sein Gemüt gedrungen, stieg dicht in sein Denken und wirbelte unklar in seiner Iris. Herr Mielke erzählte etwas über den "historischen Jesus" und Vasili wusste nicht, wer das sein sollte, dieser historische Jesus, oder warum sie Gottes Sohn so nannten.

"In Wirklichkeit ist Jesus also nicht im Jahre 0, sondern in den Jahren 4 bis 6 nach Christus geboren."

Vasili stutzte. Erklärte Herr Mielke ihnen gerade, dass Christus erst nach Christus geboren sei? Ab und zu sprach der Lehrer vom "echten Jesus von Nazareth". Ja, gab es denn einen unechten? Und nicht genug damit. Die merkwürdigen Mutmaßungen gipfelten in einer Wortmeldung seines Mitschülers Marc Domann, der immer das letzte Worte hatte.

"Der biblische Jesus konnte ja angeblich auch übers Wasser laufen. Das wird der echte wohl nicht gekonnt haben."

Einige lachten, die meisten kritzelten rum.

Etwas in Vasili kochte. Was vorher ungerichteter Nebel war, wurde zu kochend heißem Dampf, der in ihm aufstieg, und sich dort sammelte, wo ein Vogel seinen Kropf hat. Da quoll es. Weil Vasili kein Vogel war und deswegen keinen Kropf hatte, konnte er es nicht lange inne behalten:

"Das ist aber wahr. Jesus konnte über Wasser laufen. Es ist ein Wunder gewesen. Du kannst es in der Bibel lesen."

Die Kritzelnden hörten auf. Einige Kugelschreiber wurden eingeklickt. Runde Rücken begradigten sich, auf fremden Nacken richteten sich blonde Härchen auf wie Erdmännchen. Es war die Stille der jungen Hyänen.


Vasili war wütend auf sich und seine tollpatschige Zunge, die beim Sprechen immer gegen die zwei Vorderzähne stieß und dabei spuckte wie Flut gegen einsame Felsen.

Als Marc die Kontrolle über seine vereisten Gesichtszüge wieder fand, konnte Vasili für einen Moment den Teufel in seinen Mundwinkeln sehen.

"Vasili?"

"Ja?"

"Kannst du über's Wasser laufen?"

"Nein."

"Vasili?"

"Ja?"

"Kennst du irgendwen, der über's Wasser laufen kann?"

Die schöne Pia war die erste, die lachte. Sie war verliebt in Marc seit der letzten Klassenfahrt und machte kein Geheimnis daraus.

"Nein", sagte Vasili und verstand nicht, was lustig war.

"Siehst du", sagte Marc und lehnte sich zurück wie jemand, der etwas gewonnen hatte.

Vasili blieb unbeirrt: "Aber deswegen ist es ja auch ein Wunder. Niemand konnte das. Außer Jesus von Nazareth."

Ein paar Mädchen kicherten so wild, wie nur pubertierende Mädchen kichern können, die etwas aufgedeckt hatten, das nicht der Norm entsprach. Pia sah gespannt zu Marc. Der sah hilfesuchend zu Herrn Mielke. Der betrachtete Vasili nachdenklich.

Marc ertrug die Stille nicht:

"Das glaubst du doch alles nicht wirklich, du Jesus-Freak?"


Wer ein geübter Betrachter war, konnte in Marcs Augen beides finden. Die Überlegenheit eines Jungen, der die vermeintlich vernünftigste Antwort gegeben hatte und die Bestätigungsgier eines trotzigen Kindes. Wer aber ein wirklich talentierter Beobachter war, konnte auch die Zweifel und die Angst sehen, die wie ein windiger Wurm durch seinen Mundwinkel versuchte, in sein Innerstes zu kriechen. Aber Marc hatte Glück. In der 10a gab es keine wirklich talentierten Beobachter und falls doch, dann waren sie jetzt so schlau mitzulachen. Marc röhrte, ein paar schnippische Weibchen freuten sich, die Klassenschönheiten ließen publikumswirksam ihre Glocken klingen und die Jungs krächzten sich ihre Stimmbrüche heiser, bis Herr Mielke um Ruhe bat und mit dem Unterricht fortfuhr. Denn etwas Anderes wusste auch der junge Lehrer nicht zu sagen. Vasili zog sich zurück. Hinter seine Haut und hinter seine Augen, in dieselbe Dunkelheit, die er nachts fürchtete und wünschte sich, er hätte etwas anderes als die Wahrheit gesagt.


Drei


Als Vasili ein erwachsener Mann war, verliebte er sich fürchterlich in eine erwachsene Frau. Sie hieß Nadia und liebte ihn auch. Sie hatte dunkelgrüne Augen wie die Wiesen in Zhabka und sprach mit russischem Akzent, wenn sie aufgeregt war oder Wein trank. Weil sie Vasili so sehr an zuhause erinnerte, erzählte er ihr von Polinas Tod und seiner Schule. Sie streichelte sein dünnes Haar. Von Gott erzählte er nie oder von den Dämonen, die nachts kamen. In manchen Nächten schwitzte er, wand sich wie ein Fisch auf dem Trockenen und manchmal schrie er. Aber Nadias massives Schweigen war lauter. Es verschluckte seine Schreie. Ihre Hände kamen aus der Tundra. Sie waren immer glatt und kühl, als flösse kein Blut. Nachts kühlten sie seine heißen Augen.


Nadia hatte zwei Töchter, Antonia und Jekaterina, eine lebendig, eine tot.

Tonjetschka war die Tochter, die sie nie kennenlernte. Sie verabschiedete sich von ihr auf den weißen Fliesen ihres Badezimmers, als sie nichts weiter war, als ein kleiner durchsichtiger Fisch in ihren Eingeweiden. Ausgeschwemmt wurde sie in einer dunkelroten Flutwelle, die Nadja am Kopf traf und sie gegen die Kacheln ihres Badezimmers prallen ließ. Auf den Fliesen haftete die Farbe, die Nadia nie vergaß und in manchen Nächten träumte auch sie von zappelnden Fischen in purpurnen Pfützen.

Aber im Gegensatz zu Vasili fürchtete Nadia diese Träume nicht. Sie wartete auf sie, suchte sie auf. Blieb so lange sie konnte. Manche Dienstage verbrachte Nadia mit geschlossenen Lidern im Bett. Sie war wach, aber wollte nicht. Vasili wusste von diesem geheimen Dienstagsritual nichts, er arbeitete bis die Sonne unterging.

Jekaterina war 15 und wusste, dass ihre Mutter an manchen Tagen einfach nicht anzutreffen war. Sie war dann nur kalte Haut und ein entrückter Blick, einem anderen, geheimnisvolleren Ort viel mehr verhaftet als der heimischen Küchenzeile. Dann kleckerte sie rote Soße über Katjuschkas Matheheft und suchte einen Lappen, den sie einfach nicht mehr finden konnte.

Jekaterina kannte den Ort nicht, an den ihre Mutter manchmal ging und sie wollte ihn auch nicht kennenlernen.

Sie war ein Mädchen aus Fleisch und Blut, das gern Thunfischpizza mit viel Käse aß und sich nicht allzu viele Gedanken machte. Heimlich hatte sie schon mit einem Jungen geschlafen, der in ihre Klasse ging. Er hieß Niko und er tat ihr weh dabei, aber er machte es wieder gut. An Dienstagen trafen sie sich im Wald zum Knutschen, fuhren Straßenbahn zum Spaß oder machten Ausflüge nach Wuppertal, Leverkusen oder Köln. Manchmal ließen sie sich von Nikos großem Bruder ein paar Bier kaufen und verbrachten den Nachmittag beschwipst im feuchten Moos. Jekaterina hatte einfach Besseres zu tun, als sich für eine Mutter zu interessieren, die im Begriff war, sich aufzulösen. Als sie einmal ihre kalten Hände berührte, aus denen ihr ein paar Rechnungen gefallen waren, wusste die Tochter, dass sie sie nicht halten können würde. Auch der neue Stiefvater kümmerte sie wenig. Ständig stellte er Gebote und Verbote auf, an die sie sich halten sollte. Dann guckte er sie immer mit seinem verkniffenen linken Auge streng an. Das rechte Quetschauge blieb anderswo.

Dann passierte die Katastrophe, die einem verliebten Teenager den weichen Moosgrund unter den Füßen wegzog. Der liebgewonnene Dienstag mit Niko würde in Zukunft ausfallen. Er gehe jetzt zum Konfirmandenunterricht, seine Mutter wolle es halt so, sagte er zerknirscht.

"Das heißt wir können uns gar nicht mehr sehen?"

"Jedenfalls nicht mehr an einem Dienstag.”

"An unserem Dienstag."

"Ja."

Katjuschka musste sich erst einmal hinsetzen. Sie überlegte still.

"Was wäre denn, wenn ich mitkäme?"

"Ja, geht das denn? Das wäre geil."

"Ich frage mal meine Mutter."

An diesem Tag beeilte Jekaterina sich ausnahmsweise, nach Hause zu kommen. Es war noch Dienstag und wenn es einen Tag gab, an dem ihre Mutter alles unüberdacht erlauben würde, dann war es heute.

Als Jekaterina ankam, war Vasili schon zuhause. Er hatte Pizza Margerita für alle mitgebracht. Er brachte immer Pizza ohne Belag mit. Für Katjuschka sollte der magere Mann mit seiner mageren Pizza ein Rätsel bleiben, das sie nicht lösen wollte. Beim Abendessen nahm sie sich ein Stück von der Pizza ohne alles und fasste sich ein Herz.


"Mama?"

"Ja, Katjuschka?"

"Kann ich zum Konfirmandenunterricht?"

Vasili ließ sein Besteck sinken.

"Warum willst du denn zum Konfirmandenunterricht, Katjuschka? Hast du noch nicht genug Schule?"

"Alle gehen zum Konfirmandenunterricht."

"Aber ist gut zu tun, was alle tun, Katjuschka?"

"Nein, aber ich würde gern hin."

"Ja du kannst gehen, meinetwegen."

Vasili räusperte sich:

"Willst du denn zu Gott ja sagen, Jekaterina?”

Sie zögerte.

"Ja vielleicht das auch."

"Willst du dein ganzes Leben in Gottes Hände geben, Jekaterina?"

Der alte Mann wurde ihr langsam unheimlich.

"Mein ganzes Leben?"

"Dein ganzes Leben. Der Herr wird dich prüfen und bestrafen. Du musst ihm jeden Tag beweisen, dass du seine Gnade verdienst."

"Aber... Es ist doch nur Konfirmandenunterricht."

"Du wirst schon sehen, Jekaterina. Du wirst schon sehen", sagte Vasili und meinte, in seiner Stimme seinen Vater zu hören, der letztes Jahr an der Fräsmaschine an einem Herzinfarkt gestorben war.

"Sag etwas, Nadeschka."

Nadia sagte nichts. Sie wollte keinen Unfrieden am Tisch. Sie war schon zu sehr Gespenst, nur noch zu wenig Mensch, um einen Streit zwischen ihren beiden irdischen Übriggebliebenen zu ertragen.

Als Jekaterina in dieser Nacht ins Bett ging, hörte sie die beiden trotzdem streiten. Sie hörte Vasili auf seine Mutter einreden. Sein Ton war streng aber gemäßigt. Man hörte, wie schwer die Selbstbeherrschung auf seine Stimmbänder drückte. Dennoch konnte man selbst durch die Rigipswand die Übergriffigkeit seiner Worte spüren. Nadia hörte man zunächst kaum, dann aber schluchzte es durch die Wand. Dann weinte, heulte, jaulte es. In schriller Stimme schrie sie, das hätte sie nicht verdient. Jekaterina dachte, dass ihre Mutter nun übergeschnappt wäre. Sie warf Sachen durch die Gegend, das konnte man hören. Manche davon zerschellten an der Wand, hinter der die Tochter lag. Dann quietschten und knallten Türen. Schwere Dinge rumpelten über den Flur. "Und lass dich nicht mehr blicken in meinem Zuhause", schrie Nadia ihren Freund an, der nicht begriff, was er falsch gemacht hatte und für alle immer nur das Beste wollte.

Als er mit seinem Koffer ins Hotel einzog, fragte er sich, warum ausgerechnet er von Gott so hart bestraft wurde, hatte er doch eigentlich immer alles richtig gemacht.



 

Als Vasili Antonow sich zuende erinnert hatte,

war seine Enkeltochter längst von seinem Schoß gesprungen.

Sie spielte mit ein paar Schienen auf dem Boden und fragte ihn ab und zu,

welche Abzweigung der Zug jetzt nehmen sollte.

"Diesmal nach links", sagte er und die brave Enkeltochter stellte die Weiche.

Dann nahm er einen Schluck von seinem Granulat-Kaffee,

ein anderer hatte ihm nie geschmeckt.

Er sah seine Enkeltochter an,

die Haare hatte wie Polina und so eine ruhige Hand wie Nadia:

"Lea?"

"Ja Opa?"

"Du hast mich doch eben gefragt, warum man nicht lügen darf."

"Ja Opa."

"Ich glaube, es ist gar nicht so schlimm hier und da mal zu lügen.

Ich glaube auch, dass es überhaupt nicht so schlimm ist,

sich hier und da mal nicht an die Regeln zu halten."

"Auch nicht an deine?"

"Auch nicht an meine."

Lea schwieg und Opa lächelte.

Vasilis Gesicht entspannte sich und endlich schaffte er es,

sich in seinem Ohrensessel anzulehnen.

"Weißt du, was das allerwichtigste ist?"

"Was denn, Opa?"

"Dass man es gut meint, mit sich und den anderen Menschen.

Nur das."

Lea kriecht auf Vasilis Schoß, in der linken Hand eine Miniatur-Lok.

Sie umarmt ihn und er weiß nicht so richtig, wohin mit sich.

Deswegen nimmt er einen Schluck Instant-Kaffee und findet, dass er scheußlich schmeckt.

Das hat er eigentlich schon immer getan.


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