Im Winter ist ihre Haut eigentlich rau. Die Rückseite ihrer faltigen Hände ist dann nicht mehr nur noch trocken, sie springt an manchen Stellen auf. Dort, wo sie keine Falten werfen kann, sondern auf den Knochen darunter trifft, spannt sie, wird spröde und gibt dann irgendwann nach. Ihre Hände sind im Winter bedeckt von einer feinen, roten Marmorierung, die erst brennt, dann juckt und schließlich nur noch lästig ist, weil sie die Haut spannen lässt. Als wäre sie weniger geworden und der Körper zu groß für das ihn umspannende Sinnesorgan, das sein größtes sein sollte, aber schon seit Jahren nachlässt. Dieses Jahr im Winter ist vieles anders.
Auch ihre Haut.
Sie steht am Fenster. Wie immer.
Sie zündet sich eine Zigarette an. Wie immer.
Sie raucht. Auf Lunge, manchmal tiefer, so tief, bis es nicht weiter geht.
Auch das ist wie immer.
Ihr Mund hat sich mit den Jahren den Zigaretten angepasst und auch ohne Glimmstängel zwischen den Lippen formt er ein überraschtes „Oh“, das tiefe Falten umrahmen.
Seit Jahren steht sie am Fenster und raucht ihre Schachteln leer, wenn es ihr im Winter zu kalt wird, für jede Zigarette die Wohnung zu verlassen. Sie ist dann dankbar, das Feuerzeug auch ohne schneidenden Wind bedienen zu können, froh über die Heizung an ihren Beinen.
Sie beobachtet das Treiben auf der Straße, wird wehmütig und raucht dann gleich noch eine hinterher.
Diesen Winter ist das Treiben auf der Straße beinahe verstorben. Egal ob Regen, Schnee oder Sonnenschein, es laufen nur vereinzelt Menschen an ihre Fenster vorbei. Hauptsächlich die, die einen Hund haben und auf dem Weg zum Park sind.
Niemand verlässt die Wohnung ohne triftigen Grund.
Also auch die Frau am Fenster nicht.
Denn triftige Gründe hatte sie auch in den letzten Jahren nicht mehr. Auch wenn sie sich nicht ganz sicher ist, wie die Verordnung das Wort „Triftig“ definiert, weiß sie, dass keiner ihrer Spaziergänge darunter fällt.
Draußen ist es kalt wie immer.
Hier drinnen ist die Luft trocken.
Aber da sie nichts anfassen muss, niemanden treffen kann, keine Handschuhe mehr überstreift, cremt sie ihre Hände dieses Jahr regelmäßig ein.
Meistens nach einer Zigarette, hier am Fenster. Bis zur nächsten ist die Creme dann eingezogen und hat die Haut kurz elastisch genug gemacht, um sich über die Hände zu spannen, ohne zu reißen.
Während sie mit der rechten die Zigarette hält, betrachtet die Frau ihre andere Hand gegen das Fenster. Sie lässt die Finger tanzen, fragt sich, ob das wirklich ihre Finger sind, ihre Adern, ihre Narben. Ihr Leben.
Alles kommt ihr falsch vor. Nicht nur die Haut, die plötzlich in diesem Jahr, in dem sie Verordnungen der Ausreden berauben, zu passen beginnt. Nicht ihre Geschichte. Nicht ihre Erinnerungen in ihrem Kopf. Ist es überhaupt ihr Kopf? Mit all den Falten, die ihr aus dem Spiegel im Badezimmer jeden Morgen entgegenbrüllen?
Sie kann das nicht glauben.
Sie will das nicht glauben.
Eigentlich ist sie noch nicht alt. Noch nicht alleine. Noch nicht hier, in dieser absurden Zeit, in der niemand mehr auf die Straße geht.
Draußen sieht sie nur noch die Festtagsbeleuchtung der anderen, anstatt ihnen auf Spaziergängen zu begegnen oder sie wenigstens zu beobachten. Hinter ihrer tanzenden Hand tanzen die Lichter und sie denkt an die Vorbereitungen zum Fest, die zu all diesen Lichtern gehören müssen. Und daran, wie sie früher einmal selbst Dinge vorbereitet hat für Weihnachten. Sie denkt an das Weihnachtsreiten im Reitverein, an die Veranstaltungen in der Kirche, an die Familienessen, an Spaziergänge durch die abgekühlten Straßen ihrer Jugend. An das Lachen und die schmerzenden Wangen.
Nichts von alledem ist noch da.
Nur noch die Zigaretten, die sie auch damals schon begleitet haben.
Ihre Hand hört kurz auf zu tanzen.
Sie erinnert sich an den Anrufbeantworter, der noch immer funktioniert und inzwischen ihre letzte Verbindung nach draußen ist. Sie ist sich fast sicher, dass da noch eine Nachricht ihrer Schwester darauf wartet, abgehört zu werden.
Sie zieht an ihrer Zigarette und bewegt wieder die Finger, zeichnet Lichter nach und legt den Kopf schief.
Ihre Schwester, die seit Jahren bei ihren Kindern und Enkeln feiert, die ihr ein frohes Fest wünscht und verspricht, sich im neuen Jahr zu melden. Auch das wie immer. Vieles ist anders, aber das meiste wohl nicht.
Dafür ist sie längst nicht mehr wichtig genug.
Der Rauch der Zigarette beruhigt ihre kurz aufwallende Panik, ihre Unsicherheit, ihre Trauer. Dann kann sie den Gedanken fortsetzen.
Ihre Schwester, die ihr so ähnlich sieht. Ihre Schwester, mit der sie früher jedes Weihnachten verbracht hat. Ihre Schwester, die sie mahnt, nicht ganz so viel zu rauchen und auf sich acht zu geben, immer Maske zu tragen und sich die Hände regelmäßig zu waschen. Und zu desinfizieren, auch wenn sie davon etwas trocken werden.
Die Frau verlässt das Haus nicht. Manchmal nicht einmal ihr Fenster.
Darum desinfiziert sie sich auch die Hände nicht unnötig.
Stattdessen cremt sie sie ein.
Hinter ihrer linken Hand taucht jetzt ein Mädchen auf der Straße auf. Der erste Mensch, den die Frau im Fenster den ganzen Tag über zu sehen bekommt. Sie lässt die Hand und die Zigarette sinken und schaut das Mädchen an.
Es trägt einen Rock und Kniestrümpfe. Die Oberschenkel sind nackt und rot gefroren. Mit den zwei Zöpfen erinnert es die Frau am Fenster kurz an sie selbst und die Schwester.
Ihre Blicke treffen sich.
Das Mädchen erstarrt in der rennenden Bewegung, es trägt keinen Schal. Die Frau führt die Zigarette nicht wieder zum Mund.
Die Zeit bleibt stehen.
Dann verziehen sie beide die Lippen zu einem Lächeln, was beide schmerzt, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Sie bleiben einen Moment lang miteinander verbunden, als gäbe es die Glasscheibe zwischen ihnen nicht, als sei da mehr als die gleiche Gegenwart, in der sie leben müssen, die sie miteinander verbindet.
Dann winkt das Kind.
Kurz.
Und es läuft weiter und die beiden Leben auch, getrennt voneinander, ohne Berührung.
Die Frau raucht ihre Zigarette auf. Sie drückt sie nicht aus, sondern lässt die Glut sich im Aschenbecher bis in den Filter fressen.
Während sie sich die Hände eincremt, überlegt sie, ob sie ihre Schwester anrufen und nach einem Treffen fragen sollte. Einen dringenden, triftigen Familientreffen.
Dann aber sieht sie, wie es draußen zu schneien beginnt und sie verschiebt den Anruf auf später, was ohnehin besser ist. Dann kann die teure Handcreme, die sie sonst im Winter nie nutzt, ordentlich einziehen und ihre Haut endlich groß genug werden für ihren schrumpfenden Körper.
so ein schöner und stimmiger und trauriger Text. Kein Wort zu viel, kein Wort zu mächtig. Danke, dass du mich eingeladen hast, am Leben dieser Frau (Dessen Mann im übrigen zwei Etagen unter mir wohnt und seine Kippen am Fenstern raucht) teilzunehmen.
So eine starke kleine Beobachtung!