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Zwei Körper, die langsam verschwinden




Ihr Körper war ein von der Zeit Gezeichneter. Eine Landschaft von Rundungen, von kleinen Tälern und tiefen Furchen zwischen Fettpölsterchen. Auf ihrer Haut teilten Leberflecken und Härchen sich den Platz mit Erinnerungen. Als sie vor vielen Jahren lernte, Rad zu fahren und sich die Knie aufschürfte. Als ihr Körper wuchs, um schnell mehr Platz zu schaffen und die Haut an ihren Oberschenkeln ein wenig riss. Der Abdruck vom Ehering. Die Narbe vom Blinddarmdurchbruch. Das Muttermal, das auch ihre Mutter an derselben Stelle trug. Ihr Körper hatte sie durch die Jahre getragen, mehr oder weniger zuverlässig. Ingrid hatte sich nie beklagt und doch schauderte sie immer öfter, wenn sie sich im Spiegel erblickte. Ihre Haut glänzte noch feucht von der Dusche, gerade war sie ins Schlafzimmer gekommen, nur in ein Handtuch gewickelt, um sich einzucremen und anzuziehen. Es war früher Abend und die Stille hing wartend zwischen ihr und dem Spiegel. Im Dämmerlicht war ihr, als betrachtete sie eine Fremde. Ein Körper mit Falten, Wellen und Dellen wie der ihre und doch - war das wirklich sie, die sich dort gegenüberstand? Sie trat ganz nah an die Spiegelfläche und starrte sich an. Sie hob ihre Hände zum Gesicht und fuhr die Falten auf der Stirn nach, um die Augen und Mundwinkel. Sie befühlte die weiche Haut, sah die kleinen Flecken, die das Alter darauf gesät hatte und die tiefen Poren. Nackt stand sie vor sich und konnte nicht ganz glauben, was sie da sah. Aus ihr war mit den Jahren unbemerkt die Luft entwichen. Bei dem Gedanken wurde ihr ganz flau. Sie strich mit den Händen den Hals entlang, weich klebte die Haut an ihren Fingern. Ihr Blick fiel auf die Oberarme, wo die Haut bei jeder Bewegung mitschwang. Ihre Brüste schauten betreten zu Boden. Als sie mit ihrer Hand darüber strich, spürte sie, wie das Gewebe nachgab. Ihr Bauch schlug Wellen und ihr Bauchnabel versteckte sich. Weiter unten kringelten sich weiße Haare und verrieten, was auf dem Kopf unter künstlichen Farbpartikeln verborgen lag. Wenn sie ihr Gewicht verlagerte, war das wie eine Erschütterung, alles bebte dann und bäumte sich auf. Ingrid schluckte und seufzte. Schön war das nicht. Mit eiligen Griffen zog sie sich an und schminkte sich großzügig. Das flaue Gefühl blieb. Sie ging ins Wohnzimmer, wo Peter auf dem Sofa lag und ein Buch las. An der Wand hinter ihm hingen Bilder, Ingrid mit einem Elefanten in Thailand, Peter und Ingrid in New York, hinter ihnen das World Trade Center, Peter im Skianzug, Ingrid im Sommerkleid auf Gran Canaria. Wie jung sie gewesen waren. Mit Mühe löste Ingrid den Blick von den Bildern. „Liebling, wollen wir los?“ Er schaute auf. Auf seinem Gesicht breitete sich ein Lächeln aus. Ingrid verschränkte die Arme vor der Brust und trat von einem Bein aufs andere. „Wunderschön siehst du aus“, sagte er und strahlte. Mit einem Ächzen stand er vom Sofa auf und schlurfte in seinen Pantoffeln zu ihr, um ihr einen Kuss auf die Stirn zu geben. „Wirklich wunderschön.“ Ingrid schluckte wieder.


Sie fuhren ins Mutzke, weil sie das immer taten, wenn sie ihren Hochzeitstag feierten. Peter saß am Steuer und erzählte davon, dass der neue Nachbar sie zum Gartenfest eingeladen hatte, erzählte, dass eines der Kinder ihn versehentlich Opa genannt hatte und sie beide dabei ein wenig rot geworden waren. Ingrid hörte kaum zu, sie starrte aus dem Fenster, nestelte an ihrem Silberarmband und hatte keinen Appetit. Im Mutzke saßen sie am großen Rundfenster zur Straße. Zwischen dunkler Holzvertäfelung ergoss sich ein goldenes Licht aus tiefhängenden Bernsteinlampen über die Essenden. Sie saßen an einem dunklen Holztisch, eine Kerze stand flackernd zwischen ihnen, daneben ein Blumengesteck. Im Mutzke stand die Zeit still. Immer, wenn sie die Tür öffneten, eintraten und eine warme Wolke aus schwerem Essensgeruch sie einhüllte. Immer, wenn sie an diesem Tisch saßen. Ingrid mochte das. Das Zurückkehren, das Sicherinnern und sie tat es am liebsten hier. Heute aber kam ihr die Luft abgestanden vor und die Einrichtung altbacken. Ihr Stuhl knarzte, als sie sich niederließ und auf der weißen Tischdecke entdeckte sie einen verwaschenen Soßenfleck. Ingrid bestellte Ofengemüse und Entenbrust, Peter ein Rindersteak, dazu eine Flasche Wasser und Rotwein. „Und wieder geht ein Jahr vorbei”, seufzte sie. „Und jedes Jahr freue ich mich aufs Neue, mit dir hier zu sein, meine liebste Ingrid”. Die Worte gingen ihm sanft über die Lippen. „Ja, wirklich toll“, entgegnete sie abwesend und versuchte sich in einem Lächeln. Ihre Hände schwitzten. Die Bedienung kam und schenkte den Rotwein ein. Eine weitere Kellnerin kam, platzierte das Essen auf dem Tisch und wünschte guten Appetit. Peter bedankte sich überschwänglich und griff dann nach Ingrids Hand, wie er es immer tat, wenn sie ausgingen. Mit seinen Fingerkuppen streichelte er liebevoll über die Erhebungen ihrer Knöchel. Sie schaute ihm in die Augen und er lächelte. „Ich liebe dich sehr, auch nach 42 Jahren Ehe genieße ich jeden einzelnen Tag mit dir“, sagte er und seine Augen überzog kurz ein feuchter Glanz. Ihr Herz schlug zu schnell, wie lächerlich sie aussehen mussten, in diesem Moment. Zwei sentimentale alte Menschen. Sie konnte es kaum ertragen. „Ich liebe dich auch“, brachte sie mit Mühe hervor und befreite ihre Hand aus seinem Griff, um nach dem Rotweinglas zu greifen und es zu heben. „Sehr“, fügte sie hinzu, als sie sich zuprosteten. Sie trank einen großzügigen Schluck und spürte wie die Flüssigkeit die Speiseröhre hinunter rann und sich mit dem flauen Gefühl mischte.


Ihr Essen bekam sie kaum herunter. Sie unterhielten sich über Belanglosigkeiten, während sie ihr Ofengemüse mit der Gabel von links nach rechts schob und ewig einen Bissen Entenbrust zerkaute, bis er in ihrem Mund eine schwere sämige Masse geworden war. Die Haut schob sie gleich beiseite, der weiche Fetzen schwamm glänzend in der dunklen Soße. Peter strich immer wieder über ihren Arm und streifte mit seinem Hosenbein beiläufig ihr Bein unter dem Tisch. Er fuhr sich mit der Hand über den Schädel, über den er mit Mühe die verbliebenen Haare kämmte und legte den Kopf schief. Er lachte viel und manchmal zwinkerte er verwegen. Auf Nachtisch hatte Ingrid keinen Appetit, Peter genehmigte sich ein Vanilleeis mit heißen Kirschen. Genüsslich steckte er sich den Löffel mit dem dunkelbraunen Schaum in den Mund, schloss die Augen und summte. Sein Kehlkopf hüpfte, wenn er schluckte. Er sah so glücklich aus dabei, so zufrieden damit, mit ihr hier zu sitzen, wie immer, dass es Ingrid die Kehle zuschnürte. Das Atmen fiel ihr schwer, ihre Augen brannten. „Weißt du noch, wie wir zum ersten Mal ins Mutzke gegangen sind?”, fragte sie mit belegter Stimme.

„Wie könnte ich das vergessen“, antwortete er und grinste.

„Es hat in Strömen geregnet“, sagte Ingrid.

„Wir wollten eigentlich ins Zander, weißt du nicht mehr? Aber sie haben die Reservierung verschlampt.“

„Und dann sind wir durch den Regen gerannt, wo wollten wir noch einmal hin?“

„Nach Hause, nicht?“

„Nein, irgendwo anders hin wollten wir. Ach was solls. Ich weiß noch genau, dieses beleuchtete Rundfenster.“

„Und wir sind pitschnass hereingeplatzt, nass bis auf die Knochen.“

„Wir haben getropft wie nasse Pudel.“

„Um unsere Füße haben sich Pfützen gebildet, das weiß ich heute noch.“

„Richtige kleine Teiche.“

“Und der Kellner kam zu uns und sagte - “

„Da kommen sie gerade richtig, dort vorne am Fenster ist gerade noch ein Platz frei.“

„Genau das sagte er. Geschlottert hast du.“

„Du hattest diese schicke Lederjacke an.“

„Und du das rote Sommerkleid.“

„Du hast sie nie ausgezogen.“

„Weil ich wusste, wie gut du sie an mir findest.“

„Ach, wie jung wir damals doch waren.“

„Ja, lang ist es her.“

„Unfassbar lang…“

„Lass uns nach Hause gehen.“

Als sie um die Rechnung baten, kam wie immer der Besitzer des Mutzke, Armin, an ihren Tisch. Wie oft hatte das dazu geführt, dass sie noch länger geblieben waren, noch einen Wein aufs Haus, manchmal auch mehr als das. Armins Augen strahlten, wenn er sie wiedersah, Jahr um Jahr. Dass er am Ende des Abends zu ihnen kam, war ihre kleine Tradition geworden. Heute schien ihm jeder Schritt sehr viel Mühe zu bereiten, auf seinem Gesicht ein freundliches Lächeln, seine Augen zwei blasse Pfützen. „Oh nein“, dachte Ingrid, behielt es aber für sich. Peter runzelte die Stirn. Armin knetete seine Finger und schaute aus dem Rundfenster, als er ihnen mitteilte, dass er in zwei Wochen das Mutzke schließen müsse, für immer. Peter öffnete den Mund, sagte jedoch nichts. „Oh nein“, dachte Ingrid wieder und starrte angestrengt in die flackernde Kerze. Hautkrebs, erklärte Armin, lange habe er nicht mehr. Er fuhr sich mit dem Handrücken über die feuchte Stirn. Er wolle nur Bescheid sagen und sich verabschieden. Ingrid atmete tief ein und laut wieder aus, aber sagen konnte sie nichts. Sie spürte es unter der Haut kribbeln. In ihrem Kopf stoben Erinnerungen durcheinander. „Oh, das tut mir so leid“, sagte Peter leise und stand auf, um Armin die Hand auf den Arm zu legen. Ingrid zwang sich zu einem Nicken, während Armin mit den Schultern zuckte. „Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Aber wenn ich...wenn wir irgendwas...sag Bescheid“, stotterte Peter. Armin bedankte sich und meinte damit nicht Peters Angebot, sondern so viel mehr. Ingrid schaute ihm mit klopfendem Herzen hinterher, als er ging und erhob sich dann. „Lass uns nach Hause gehen“, wiederholte sie.


Auf der Rückfahrt über die dunklen Landstraßen hüllte das Schweigen sie ein. Plötzlich überkam Ingrid das Verlangen danach, wirklich lebendig zu sein. Als Peter ihr zuhause den Mantel abnahm, umarmte sie ihn innig. Er hüllte sie ein mit seinem schweren Geruch und seiner Wärme, während er mit zarten Lippen ihren Hals küsste. Während ihre Hände über seinen Hinterkopf fuhren, hinunter zu seinen Schultern und Oberarmen, streichelte er ihre Oberarme, dann ihren Bauch. Er schlüpfte mit einer Bewegung unter ihre Bluse. Seine Hand kroch langsam an ihrem Bauch empor zu ihren Brüsten, streichelte die weiche, einfallende Haut. Gegenseitig flüsterten sie sich Versprechungen ins Ohr und ihr wurde heiß. Aufgeregt knöpfte sie sein Hemd auf. „Sollen wir ins Schlafzimmer gehen?“, flüsterte er atemlos. Sie nickte. Aufgeregt nestelte er an seinem Gürtel und zog die Hosen herunter, während sie den Rock herunter gleiten ließ und sich umständlich aus der Nylonstrumpfhose schälte. Sie betrachtete ihn, wie er dastand, in Unterhose und Socken, der runde Bauch unter dem eingesunkenen Brustkorb, die welke Haut an den faltigen Knien, die knorrigen Beine. Sie zog die Bluse über den Kopf. Peter öffnete unbeholfen den Verschluss ihres Büstenhalters. Küssend legten sie sich aufs Bett, Ingrid entfuhr ein leises Ächzen, als sie in die Matratze einsank. „Ich bin heute wieder so aufgeregt wie früher“, lachte Peter. Ingrid spürte seine Haut trocken unter ihren Händen, hörte, wie sein Atem schwer ging. Sie spürte, wie ihre Gelenke bei jeder Bewegung knarrten, wie alte Bodendielen. Die Haut in seiner Halsbeuge war so weich und nachgiebig, dass sie darin versinken wollte. Er roch nach langer Vertrautheit und ein wenig nach der Lederjacke, die er getragen hatte, als sie zum ersten Mal im Mutzke gewesen waren, vor 42 Jahren. Der Gedanke daran erregte sie noch mehr, wie jung sie gewesen waren, damals. Für einen Moment waren sie wieder zum Greifen nah, all diese Möglichkeiten, all diese törichten Hirngespinste und Zukunftsfantasien, all das, was noch kommen würde. Als sie kam, fühlte es sich an wie ein Sommergewitter, sie spürte es in sich zucken, sie spürte den Schauer über ihren gesamten Körper ziehen, vor allem aber fühlte sie sich erleichtert. Danach kam die Traurigkeit, sie kletterte aus dem Bauch heiß ihre Kehle empor und Ingrid ließ sie endlich gewähren. „42 Jahre”, schluchzte sie. „So viel Zeit und trotzdem so wenig. Was, wenn morgen alles vorbei ist? Ich will nicht sterben, Peter. Ich will nicht“, weinte sie. Peter hielt sie fest, sein Körper warm an ihrem. Er strich ihr übers Haar und weinte schweigend mit, während es in Wellen aus ihr herausbrach. Nackt lagen sie da, ineinander verschränkt, im goldenen Licht der Nachttischlampe. Zwei alte Menschen, die langsam verschwanden.



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