top of page
Suche

Das Übel


Auch, wenn die Menschen meinen, Dinge tief vergraben zu haben, kratzen sie doch immer nur an der Oberfläche. Selbst jene, die unter der Erde nach Rohstoffen schürfen, immer tiefere Bohrungen durchführen, sind niemals wirklich weit unten. Rohstoffbohrungen und das Vergraben von Dingen spielen sich in der obersten Schicht der Erde ab. Will man wirklich etwas verschwinden lassen, indem man die Erde als Versteck nutzt; will man also verhindern, dass es wieder raufkommt, bleiben einem nicht viele Möglichkeiten: Man kann es zum einen versenken (dafür müssen einem aber die Strömungen des Wassers weiter unten bekannt sein, sonst liegt der zu verschwindende Gegenstand irgendwann an irgendeinem Strand, taucht also erst wieder auf) oder, zum anderen, irgendwohin bringen, wo der Zugang zu den tatsächlichen Tiefen der Erde gegeben ist: Vulkane. Beides war auf der Insel schwierig gewesen, als es massenhaft Menschen gab, die verschwinden mussten: Man hatte nicht die Kapazitäten, um sie weit hinaus aufs offene Meer zu bringen und einen Vulkan gibt es nicht. Verbrennen hätte man sie können, doch es waren so viele, dass sich auch das als schwierig erwies, besonders dort, wo die Menschen getötet wurden, ohne, dass es mit den obersten Stellen abgesprochen war und man verhindern wollte, dass es auffiel. Also beging man den Fehler, der die ganze Insel einige Jahrzehnte später in Aufruhr versetzte: Man hob Massengräber aus, tiefe Löcher, so tief, dass es unmöglich schien, dass jemals wieder etwas aus ihnen herauskommen würde, warf die Leichen hinein und schaufelte sie wieder zu.

*

Irgendetwas scheint besonders an der Erde der Insel zu sein, zumindest an manchen Orten. Denn als die ersten Leichen auftauchten, hielt man sie noch für Opfer von Morden, die innerhalb der letzten Monate stattgefunden haben mussten. Man begann, als es immer mehr Leichen an den verschiedensten Orten Meerlands wurden, alle in einem ähnlichen Zustand, alle an einer ähnlichen Stelle des Verwesungsprozesses, nach einem Serienmörder zu fahnden, frenetisch und immer wieder versuchend, die Öffentlichkeit zu beruhigen, denn wenn der gesuchte Unbekannte auch kein Muster zu haben schien, auf welche Weise er tötete (einigen Leichen war der Hals sauber durchgeschnitten worden, andere waren von Kugeln durchlöchert, die nächsten mit einem gezielten Schuss ins Genick oder in den Kopf getötet worden – zwei Leichen hatte man sogar mit verschiedensten Stich- und Schnittwunden, die den Anschein von Folter erweckten, gefunden), so war man sich doch schnell sicher, dass sich das Morden auf eine ganz bestimmte Menschengruppe bezog, was die Autoritäten Meerlands und Osats, zwischen denen es, kurz bevor die ersten Leichen aufgetaucht waren, endlich wieder zu Annäherungen gekommen war, in helle Panik versetzte, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen: Im Osat war man erbost und schockiert, man wollte Druck auf die Nachbarn ausüben, damit die Brüder und Schwestern, die dort lebten, wieder sicher wären. In Meerland war man fassungslos und besorgt, und man befürchtete ein ganzes Netzwerk an Terroristen, die mit diesen Morden ihren Missmut gegenüber der Annäherungspolitik ausdrücken wollten. Doch das führte noch nicht zum neuerlichen Bruch: Man war sich einig darüber, dass man die in Meerland lebenden Osaten und Osatinnen schützen musste.

Als sich dann herausstellte, dass diese Leichen Jahrzehnte alt waren, war man vorerst ratlos. Es tauchten weitere auf – auf Äckern durch Pflüge ausgegrabene, durch Regenwetter emporgeschwemmte, von im Wald spielenden Kindern oder Hobbygärtnern entdeckte. Und dann begann man, mit offenen Mündern, an den Stellen, an denen die Leichen auftauchten, weiter zu graben, tiefer zu schürfen, in den Untergrund zu blicken. Bis langsam, unter Entsetzen, die Wahrheit ans Licht kam, von den Forensikern und Pathologinnen fassungslos dem Innenminister beschrieben, der sie begriff, mit an den Kopf gehobener Hand, und sagte: „Behalten Sie all das vorerst für sich.“

*

Der Innenminister versuchte, ruhig zu bleiben, den versammelten Experten ein Gefühl von Autorität zu vermitteln, ihnen klar zu machen, dass, wenn sie seine Anweisungen befolgten, alles gut würde. Er wusste zwar, oder spürte es zumindest tief in seinem Inneren, dass von nun an für lange Zeit – erneut – nichts gut sein würde, doch dieser Moment, an dem die Bevölkerung, und in weiterer Folge der Osat, erfahren würde, was entdeckt worden war, musste hinausgezögert werden, solange, bis er selbst und die ganze Regierung sich eine Strategie überlegt hatte, wie man all das verkünden konnte, ohne für Aufruhr im Land und auf der ganzen Insel zu sorgen. Er hatte in der Sekunde, in der die Worte Kriegsverbrechen und Völkermord gefallen waren, begriffen, dass das eine Nachricht, eine Entdeckung war, die den ohnehin erst so frischen, so fragilen Frieden auf der Insel zwischen diesen beiden Ländern und zwischen den Indigenen und den Nachfahren der Europäer in Meerland selbst, gefährden würde. Die paar Osaten, die noch in Meerland lebten, würden, käme diese Nachricht ans Licht, sicherlich ebenso in den Osat ziehen, und alle Bemühungen, die die Regierung Meerlands um sie angestrengt hatte, weil sie der Beweis waren, dass ein gemeinsamer Staat, in dem Osaten und Meerländer gleichberechtigt nebeneinander lebten, möglich war, trotz der ohnehin bekannten Schrecken, die die Insel seit der Landung der Österreicher vor vielen hundert Jahren heimgesucht hatten, wären umsonst gewesen. Das Ausmaß dieser Verbrechen, die schiere Anzahl der Toten, die aus der Erde kamen, überstieg all das, würde neue Vorwürfe gegen sein Land, sein Volk zur Folge haben; würde zu einer Entfremdung führen, wie sie seit dem Krieg nicht mehr da war. Das vorerst geheim zu halten war das einzig Vernünftige, auch wenn er das Unverständnis in den Augen der Kriminalisten und Forensikerinnen deutlich sehen konnte. Nach seiner knappen Order war es still im Raum, aber die Blicke sprachen für sich. Noch traute sich niemand, ihm zu widersprechen, doch es lag Spannung in der Luft, die ihm die Haare auf den Armen aufstellten. War das ein Fehler gewesen? Hatte er jetzt schon, als erste Reaktion, einen Fehler begangen?

Und dann traute sich doch jemand aus der Deckung. Eine junge Frau räusperte sich und der Innenminister wappnete sich innerlich, versuchte, sich Antworten auf jeden möglichen Vorwurf zurechtzulegen. Dann sprach sie, und ihre Frage war ähnlich knapp wie der Befehl des Ministers: „Ist das Ihr Ernst?“

„Ich bin mir dessen bewusst, dass Sie alle hier sich verpflichtet fühlen, Ihre Entdeckungen mit der Öffentlichkeit zu teilen. Aber ich möchte Sie bitten zu bedenken, was das für Konsequenzen haben wird.“

„Drohen Sie uns?“ Wieder die junge Frau.

Er biss sich auf die Zunge, versuchte seine Wut zu zügeln und auf Augenhöhe mit den Wissenschaftlern zu kommunizieren, ihre Bedenken ernst zu nehmen: „Es war nicht meine Absicht, irgendjemandem zu drohen. Es geht um die Folgen für dieses Land, und für die Insel. Nicht um persönliche Folgen für Sie. Sie unterstehen mir ja nicht, zumindest viele von Ihnen, Sie eingeschlossen, junge Frau; ich kann Sie weder entlassen noch einsperren lassen. Lassen Sie mich es also anders formulieren: Ich bitte Sie, gehen Sie nicht von sich aus mit all dem an die Öffentlichkeit. Geben Sie uns Zeit, eine Strategie zu entwickeln, wie man all das preisgeben kann, ohne zu großen Schaden anzurichten.“ Er bemerkte, wie sich das anhörte, was er da sagte, konnte es aber nicht zurücknehmen, auch, weil ihm nichts Besseres einfiel. Sie hatten ihn überrumpelt. Er hätte so etwas nie für möglich gehalten: Dass Dinge geschehen waren, in seiner Jugend noch, im Krieg, über die man immer geschwiegen hatte, ja, das war ihm immer bewusst gewesen, aber er hätte nie vermutet, dass etwas in dieser Größenordnung einfach nicht bemerkt wurde. Oder dass es, wenn es bemerkt worden war, ein stilles Übereinkommen gegeben hatte, es einfach zu vergessen. Aber das wollte und konnte er nicht glauben, lieber vermutete er Irre in der Armee, vereinzelte fehlgeleitete Fanatiker, die auf eigene Faust diese obszöne Anzahl an Morden begangen hatten, ohne dass es irgendjemand aus der Bevölkerung bemerkt hätte. Er hoffte, es war so. Doch das, was er jetzt gesagt hatte, was er den hier Versammelten zuerst befohlen hatte, und worum er sie dann gebeten hatte, hörte sich genau nach dem an, was er all jenen nicht zutraute, die den Krieg miterlebt hatten: dass sie es vergessen mögen. Er schämte sich. Und konnte sich doch nicht helfen. Es gab keine andere Möglichkeit, die den Frieden sicherte. Davon war er überzeugt.


*


Susanne Knecht verließ mit ihren Kollegen das Ministerium und fand sich allein in den Straßen Neuwiens wieder, die ihr lebloser als sonst erschienen. Es war früher Nachmittag, viele hatten gerade Feierabend, gingen nachhause, mit gesenkten Köpfen – die Sonne schien und der Himmel war blau, es war drückend heiß und auch sonst Badewetter. Sie fühlte sich ausgelaugt. Zwar war sie stolz darauf, dem Minister gezeigt zu haben, dass sie nicht mit seiner Linie einverstanden war – sie hatte noch immer zittrige Knie –, aber sie war sich durchaus dessen bewusst, dass das nichts gebracht hatte, außer der Verachtung, die der viel Mächtigere nun sicherlich ihr gegenüber empfand. Er würde das unter Verschluss halten, unten halten. Am liebsten würde er die ganzen Leichen wahrscheinlich wieder verbuddeln lassen, das Problem um weitere zwanzig Jahre verschieben. Das Problem, das ihr solche Übelkeit verursachte. Und sie war eigentlich nicht für einen schwachen Magen bekannt; damit wäre sie falsch in ihrem Job. Doch als sie zum ersten Mal an eine der Gruben gekommen war, in eine der Gruben gestiegen war, und diese Menge halbverwester Leichen erblickt hatte, da war eine Übelkeit über sie gekommen, die bis jetzt nicht nachgelassen hatte, die alles durchdrang; eine Übelkeit ausgelöst durch einen ständigen Ekel vor allem: zuallererst natürlich vor den Leichen, doch auch vor den Lebenden, deren Art mit den Toten zu verfahren sie abstieß, und schlussendlich auch vor ihrer Heimat, der Insel, Meerland, Neuwien, ihren eigenen Eltern.

Schließlich hatten ihre Eltern diesen Krieg noch miterlebt; schließlich hatte ihre Mutter sie mitten in diesen Krieg hineingeboren, von dem sie aber nie etwas erzählt bekommen hatte. Jetzt erfuhr sie dafür aus erster Hand alles: Jeden Tag in der Pathologie und in Gruben erzählten ihr die Toten persönlich, was in den Jahren und Monaten um ihre eigene Geburt herum geschehen war. Jede Leiche erzählte ihre eigene Geschichte, jede Geschichte hatte Besonderheiten – der Mensch selbst war immer etwas Einzigartiges; sein Alter; sein Geschlecht; seine Kleidung, doch auch die Todesart war nicht immer die gleiche: Sie hatte schon völlig durchsiebte Körper vor sich gehabt; genauso aber auch kleine Kinder mit gebrochenem Genick; Erwachsene mit durchgeschnittenen Kehlen; Schädel, die nur ein kleines Loch aufwiesen; völlig eingeschlagene Schädel; Haut mit Schnitt- und Stichwunden übersäht –, doch alle hatten auch Gemeinsamkeiten: Alle waren sie erstens tot und zweitens indigen. Und kein einziger hatte eine Militäruniform an.

Die Straßen von Neuwien erschienen ihr trotz allen Sonnenlichts grau und das Meer, auf das sie langsam zuging – die lange Prachtpromenade; der große Hafen – schien ihr bedrohlicher, tiefer, undurchsichtiger. Aus irgendeinem Fenster weit oben hörte sie im Vorbeigehen ein paar Töne Klaviermusik. Wie musste die Welt sein, dass all das möglich war? Wie hätte sie sein müssen, damit all das nicht möglich gewesen wäre? Woher sollte sie die Kraft nehmen, morgen wieder in die Pathologie zu gehen, jetzt, wo sie wusste, dass alles, was sie fände, unter Verschluss bleiben würde? Warum hatte die Erde nicht dafür gesorgt, dass nach zwanzig Jahren nichts mehr übrigblieb? Warum kotzte die Erde alles wieder aus? Susanne Knecht hasste das Leben; Neuwien; diesen Moment in der Hitze. Zumindest jetzt wirkte alles drei hoffnungslos. Wie sehr wünschte sie sich einen Serienmörder; einen einfachen, zeitgenössischen Irren, mit dem zu verfahren einfach gewesen wäre. Warum musste sie es, musste es dieses Land, mit einer ganzen Verbrechergeneration zu tun haben?

Der Hafen kam näher – sie fühlte sich nicht so, als wäre es umgekehrt – und mit ihm seine Geräusche. Sie war froh darüber, dass es der Hafen war und nicht die Promenade. Die Geräusche der Promenade, das, was die Promenade bot, war nicht angebracht: Sie brauchte keine romantischen Strandcafés mit Blick auf die See; sie brauchte keine Touristen und keine halbnackten braungebrannten Läufer. Sie brauchte die Geräusche des Hafens, die nie ganz verschwanden; sie brauchte die Kneipen rundherum, wo sie ihre Übelkeit ersticken können würde.

Dann rauschten die Kneipen jedoch an ihr vorbei und sie stand am Rande des schmutzigen, aufgewirbelten Wassers, vor sich die Schiffe der Fischer, die Frachtdampfer, die Kräne und Container. Sie sah hinab und versuchte aus dem Wirrwarr des matschartigen Ozeans irgendetwas herauszulesen, sich fragend, warum sie nun hier stand. Sie bekam keine Antwort, weder von den kleinen Wirbeln und Strömen unter Wasser noch aus ihrem Inneren.


1 Kommentar
bottom of page